LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
info@letnapark-prager-kleine-seiten.com

 


11. Internationales Literaturfestival Berlin 2011

von Katja Schickel

Über: Eröffnungsrede Tahar Ben Jelloun, Arabischer Frühling, Ilija Trojanow, Graphic Novels, Kader Abdolah, Gary Shteyngart, Michail Schischkin, Antonio Muñoz Molina, Blasphemie und Freiheit, Islam und Islamkritik

Dieser Beitag kann auf der Website auch in Einzelbeiträgen zu Veranstaltungen bzw. Autoren/Autorinnen gelesen werden.

Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, anderen Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen. (George Orwell)

Das Internationale Literaturfestival Berlin 2011 bot mit rund 120 Veranstaltungen, 140 AutorInnen aus 53 Ländern vom 07.09. - 17.09.2011 seine elfte globale Weltreise an. Orientierungshilfen waren die Programmsparten Literaturen der Welt, Kinder- und Jugendliteratur, der Fokus Asien-Pazifik, Reflections zum zehnten Jahrestag von 9/11, der sog. Arabische Frühling, Poetry Nights und Poetry-Slam-Revue, New German Voices, Scriture Giovani, Erinnerung sprich, Filme und Musik. Zum ersten Mal gab es die Sparte Graphic Novels.

Das Festival möchte die Vielfalt menschlicher Erfahrungsräume zeigen, Interesse wecken, das Fremde, das Andere überhaupt kennen lernen zu wollen, den - etwas schwerfällig so genannten - interkulturellen Dialog fördern. Der scheint in unserer globalisierten Welt allerdings nötiger denn je, in der nationale und Partikular-Interessen, meist ökonomischer Art, aufeinander prallen, der Islam, vor allem in Deutschland, in Endlos-Debatten als universelles Feindbild herauf beschworen wird, um die weltweit herrschenden Krisen zu kaschieren, die jedoch gerade zu den identitätspolitischen Auseinandersetzungen geführt haben und nebenbei zu einem neuen sozialen Konservatismus (von links bis rechts), der unverhohlen Gängelung, Bestrafung und Ausgrenzung propagiert und damit Entsolidarisierung und neue Klassen fördert.

Tahar Ben Jelloun, der marokkanische Schriftsteller mit ständigem Wohnsitz in Paris, hielt die Eröffnungsrede, in der er – nicht ganz neu – die Rolle des Schriftstellers gerade in Zeiten des Umschwungs, der offenen Rebellion beschrieb. Zuhören, Schreiben, Sprechen bilden eine Einheit, die über das uns Sichtbare hinausgehen muss, um Gehör zu finden. Im Mittelpunkt des literarischen Schaffens steht das menschliche Leben in all seinen Facetten, den Erschütterungen wie den Hoffnungen. Der Autor hat der Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi Mitte Dezember 2010, die zunächst in den Ländern des Maghreb, Fanal zum sog. Arabischen Frühling wurde, der sich dann in Windeseile bis in den Nahen und Mittleren Osten ausbreitete, einen gleichnamigen Essay gewidmet. Damit ist er allerdings auch in den Fokus der Kritik geraten. Man wirft ihm vor, von Europa aus auf den revolutionären Zug aufgesprungen zu sein, von Ferne Deutungshoheit zu beanspruchen, die ihm als Nicht-Aktivisten nicht zustehe. Die Rede, mit europäischem Humanismus argumentierend, lässt für das Geschehen den Begriff Revolution gar nicht erst zu. Er nennt die Erhebungen legitime Rebellionen der Wut gegen die lange, allgegenwärtige Demütigung der Bevölkerung durch Willkür und Gewalt, den Islamismus eine geistige Sperre, „eine pathologisch gelebte Regression, die jeden abweichenden Diskurs ausschließt“. Islamisten hätten die Revolten in der arabischen Welt weder initiiert, noch eine wesentliche Rolle gespielt, ihre „ideologische Software“ sei überholt und überzeuge die Jugend nicht mehr. Schriftsteller zu sein bedeute, mehr als nur Zeitzeuge zu sein, vor allem wenn einen die Menschheit, die den Status Quo nicht mehr länger ertragen will, gerade in Erstaunen und Bewegung versetzt und der vielstimmige Schrei nach Gerechtigkeit nicht mehr ins Vergessen gedrängt werden kann. Es sind die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Eintritt in die Literatur finden müssen.

 

Bio-Bibliographisches: *1944 im marokkanischen Fes. Französisches Gymnasium in Tanger, Philosophiestudium in Rabat. Lehrer, ab Mitte der 1960er Veröffentlichungen in der Kulturzeitschrift Souffles. 1966 Zwangsrekrutierung in ein Militärlager. 1971: erster Gedichtband Hommes sous linceul de silence (Ü: Menschen unter dem Leichentuch des Schweigens). Kurz darauf Emigration nach Paris, wo er zu einem der bedeutendsten Wortführer der Immigranten aus Nordafrika avanciert. 1985: Roman L’enfant de sable (dt. Sohn ihres Vaters, 1986). Für den Folgeroman La nuit sacrée (1987; dt. Die Nacht der Unschuld, 1987) erhielt er als erster maghrebinischer Autor den Prix Goncourt. Seine Romane sind Gesellschaftskritik und behandeln Rassismus sowie staatliche und religiöse Repression. Les raisins de la galère (1996; dt. Die Früchte der Wut, 2007) schildert die Situation in den multiethnischen, muslimisch geprägten Vororten von Paris. Die maghrebinische Protagonistin Nadia kämpft für weibliche Gleichberechtigung. Der Roman Cette aveuglante absence de lumière (2001; dt. Das Schweigen des Lichts, 2002) über eine Strafkolonie löste in Frankreich eine breite Diskussion über das Regime des 1999 verstorbenen marokkanischen Königs Hassan aus. Sein jüngster Roman, Au pays (2009; dt. Zurückkehren, 2010), handelt vom Schicksal eines marokkanischen Migranten und Familienvaters in Frankreich, der, als ihm die Rente droht, einen ins absurde abgleitenden Rückkehrversuch in sein Heimatdorf unternimmt: Kürzlich erschien der Band Arabischer Frühling. Neben dem Prix Goncourt erhielt er u. a. den irischen IMPAC-Literaturpreis, den Grand Prix Littéraire du Maghreb und den Erich Maria Remarque- Friedenspreis 2011. Der Autor lebt und arbeitet in Paris. Seine ins Deutsche übersetzten Bücher sind zuletzt bei Rowohlt und im Berlin Verlag erschienen.

Ein Satz, von ihm zitiert: Was ist dir das Menschlichste? - Jemandem Scham ersparen. (Friedrich Nietzsche)

Auf die verhaltene Rede Tahar Ben Jellouns, die auch vom Publikum im (zum ersten und einzigen Mal) ausverkauften Großen Saal des Hauses der Berliner Festspiele (vormals: Freie Volksbühne) so aufgenommen wurde, folgten im Laufe der Woche in zahllosen Podiumsdiskussionen und Einzel-Lesungen einige Entgegnungen, kritische Anmerkungen und vorsichtige Zweifel. Dass die Islamisten dem Aufbegehren hunderttausender Frauen und Männer kampflos das Terrain überlassen würden, war doch etwas naiv und voreilig; die Unzufriedenheit über fortbestehende ökonomische Verhältnisse (Mangelwirtschaft, Arbeitslosigkeit) und über Versuche alter Seilschaften, an den überkommenen Machtstrukturen festzuhalten, wurde kanalisiert in Ausschreitungen gegen Israel, das über Monate hinweg, ebenso wenig wie der islamische Extremismus, eine Rolle gespielt hatte. Manch deutscher Islam-Kritiker meldete sich bei den anschließenden Diskussionen nicht zu Wort, ereiferte sich lieber unter seinesgleichen später im Foyer, übrigens - wie man erstaunt feststellen konnte - lauter Mitglieder des neuen deutschen (Bildungs-)Bürgertums.

In den Veranstaltungen von Reflections und in Einzellesungen ging es um das Selbstverständnis von muslimischen AutorInnen aus verschiedenen Ländern, mit je eigener Kultur und Tradition, die in unterschiedlichen Sprachen schreiben, literarische Genres nutzen und erweitern, die religiös, Atheisten oder Agnostiker sind. Wie alle Schriftstellerinnen und Schriftsteller (er-)finden sie ihre eigene literarische Identität mit den Stoffen, die sie erzählen. Ihr Unbehagen, auch ihre Wut gilt einer von außen, vom Westen oktroyierten Identität als Araber/in, als Muslim/in, mithin als potentielle/r Terrorist/in. Aus diesen Reizworten wird nicht nur der Islam als hermetische Gemeinschaft konstruiert, sondern kulturelle Unterschiede betont, die, da sie angeboren und sozialisiert sein sollen, der westlichen Sicht als wesensfremd und daher unüberbrückbar erscheinen. Die spezifischen politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse werden gar nicht mehr wahrgenommen, der Islam erhält den Status eines starren, unveränderlichen Nationalcharakters, wobei arabisch, türkisch, muslimisch mittlerweile sowieso synonym gebraucht wird. Die Differenz zum eigenen Weltbild zählt, egal aus welcher Summe von als 'Erkenntnisse' getarnten Feststellungen sie sich speist. Gerade in Deutschland lässt sich mit dem Phantasiegebilde Islam, einer undefinierbaren Macht, die maßlos ist und unsere Werte auffrisst, von allen gesellschaftlichen Konflikten ablenken bzw. kann der vermeintlich für sie verantwortliche Sündenbock gleich mitgeliefert werden.

Sätze eines Ehepaars: Wollen wir nicht den neuen XY mitnehmen? - Ich dachte, den haben wir schon!?- Ach ja? Ich glaube, eher nicht. Egal, ist doch auch ein gutes Geschenk, bald ist Weihnachten, oder!?

Man würde sich und ihnen wünschen, dass sie die Bücher nicht nur kaufen, weil es ihnen finanziell möglich ist, sondern sie auch lesen. Das Panorama, das sich da auftut, lehrt Geschichte und Tradition eines Landes, vieler Länder, vor allem aber stellt es Menschen vor - in allen erdenklichen Konstellationen und Verwicklungen, in Ausweglosigkeit und Scheitern, aber auch in ihrem Glück, dem Lachen und Feiern. Es könnte ein heilsames Erschrecken über die eigene Unkenntnis sein, Ignoranz und Arroganz vor Augen führen. Diese Bücher erscheinen, abgesehen von einigen weltweiten Bestsellern, fast ausnahmslos in kleinen deutschsprachigen Verlagen, die zwar für gute Übersetzung sorgen, aber wenig finanzielle Ressourcen für Werbung haben.

Den Einstieg ins Festival machte gleich nach der Eröffnungsveranstaltung der Schriftsteller, Übersetzer und Verleger Ilija Trojanow mit seinem neuen Buch EisTau (Hanser Verlag). Erzählt wird von Zeno, einem jungen Glaziologen (Gletscherkundler), der seinem Studienobjekt, einem Alpengletscher beim Sterben, wie das Abschmelzen von Schnee, Eis und Permafrost tatsächlich genannt wird, hilflos zuschauen muss, und dann, in Vertretung eines Kollegen, als wissenschaftlicher Experte auf einem Luxusliner eine Kreuzfahrt zur Antarktis begleitet, jedoch erkennen muss, dass die Reisenden nicht im mindesten an der Natur, geschweige an der Tatsache ihrer Gefährdung interessiert sind. Das Meer, die Antarktis sind lediglich Kulisse, eine fehlende Destination auf ihrer Weltumrundung, späterer Erzählstoff für die Daheimgebliebenen. Trojanows Lesung entpuppt sich als Performance. Er kann seinen Text auswendig und spricht die Dialoge und Kommentare in unterschiedlichen Stimmlagen. Hans Huyssen hat eine Romanmusik komponiert, die mit dem Ensemble Cosí facciamo (Cello, Violine, Saxophon/Klarinette) den Text begleitet. nicht als Soundtrack im Hintergrund oder als Stimmungsverstärker, sondern als Reflexionen über die vielfältigen Formen von Eis und die Geräusche, die es verursacht: das Knistern, Krachen, Knacken, Ratschen, Knirschen, seine Härte und allmähliche Auflösung, Die Musik thematisiert darüber hinaus die Verzweiflung des Wissenschaftlers; da schwappen Wellen und Gesprächsfetzen ans Ohr; das lärmende Geschwätz der Touristen endet - kommt einem vor - im dissonanten Gekrächze eines Transistorradios beim vergeblichen Versuch, den richtigen Sender einzustellen; die Schönheit und Erhabenheit des ewigen Eises der Antarktis wird mit wenigen Noten skizziert, für Augenblicke glaubt man die Stille zu hören. Es ist nicht neu, literarische Texte mit Musik zu verbinden, Als Auftakt, Einklang, war das jedoch sehr kurzweilig und gelungen, es versprach Durchlässigkeit und verwies darüber hinaus darauf, dass Literatur zunächst Gesang war: in Lyrik bzw. den englischen lyrics für Songtexte erinnert das zugrunde liegende Instrument daran: die Lyra. In schöner Spiegelung und Symmetrie beendeten sogar zwei Konzerte das Festival, bildeten dessen poetischen Ausklang.

BioBibliographisches: *1965 in Sofia, Bulgarien, 1971 Flucht der Familie über Jugoslawien und Italien in die Bundesrepublik, aufgewachsen im kenianische Nairobi. Nach Studienjahren in München Gründung des Kyrill und Method Verlag, später des Marino Verlags mit Schwerpunkt auf afrikanischer Literatur. 1996 Debüt mit dem Roman Die Welt ist groß und Rettung lauert überall. In seinen Büchern ist kulturelle Heterogenität nicht Übel oder Unglück, sondern Normalität, Chance oder sogar Glücksfall. Er bereiste und schrieb über Bulgarien; 1999 Hundezeiten, 2006 Die fingierte Revolution: eine provokative Abrechnung mit der alten Nomenklatura, die unter demokratischem Deckmantel eine neue Oligarchie etabliert hat. 2006 erschien der Roman Der Weltensammler, der die Geschichte des exzentrischen, polyglotten und neugierigen britischen Kolonialoffizier und Orientalisten Richard Francis Burton erzählt, dessen Perspektive mit den Sichtweisen Einheimischer kontrastiert wird. So entsteht ein komplexes Bild fremder Kulturen, voller sinnlicher Details und differenzierten Reflexionen, die nahtlos an aktuelle Debatten anschließen. Trojanow erhielt den Adelbert-von-Chamisso-Preis, den Preis der Leipziger Buchmesse und den Berliner Literaturpreis. Er war Stadtschreiber in Mainz, hatte eine Heiner-Müller-Gastprofessur in Berlin und war Poetik-Dozent in Tübingen – und lebt und arbeitet zurzeit in Wien.

Sein Satz: Die Hölle ist die Summe unserer Versäumnisse.

Einen halben Tag lang ging es um die neue Programmsparte: Graphic Novels. Zehn europäische Comic-Künstler stellten ihre Arbeiten vor. Begriffsbestimmungen gibt es nicht. Alle reklamieren einen literarischen Anspruch, greifen politische und sozialkritische Themen auf und gestalten sie auf vielfältige Weise. Der Italiener Lorenzo Mattotti spricht über seine Literaturadaptionen Dr. Jekyll & Mr. Hyde, The Raven und seine Hänsel und Gretel-Fassung. Der Spanier Ángel de la Calle stellt seine  beeindruckende Biographie von Tina Modotti vor, Tomasz Leśniak Polens bekanntesten Comic-Helden: Jeż Jercy (Georg, der Igel). Der Grieche Alecos Papadatos beschäftigt sich mit Bertrand Russell, Der Rumäne Alexandru Ciubotariu greift aktuelle Themen seines Landes auf und meint nur lapidar, bald werde alles Graphic Novel genannt, sogar die strips und Comics für Kinder. Die Verpackung verspräche eben mehr Geld. Die Deutsche Barbara Yelin beschäftigt sich in ihrem Buch Gift mit der Mörderin Gesche Gottfried.

Gezeigt wurden außerdem der französische Animationsfilm Persepolis, der auf dem Comic der Iranerin Marjane Satrapi basiert und ihre Kinder- und Jugendzeit während der Islamischen Revolution thematisiert, und der animierte Dok-Film Waltz with Bashir von Ali Folman, der den ersten Libanonkrieg nachzeichnet.

Sehr empfehlenswert (aber nicht auf dem Festival): Das künstlerisch überzeugende Werk von Craig Thompson - Habibi (aus dem Amerikanischen von Stefan Prehn; Reprodukt, Berlin 2011; 672 S.) und der von Jaroslav Rudiš getextete und von Jaromir99 gezeichnete Comic über das Leben des Bahnhofswärters Alois Nebel, der im Januar 2012 auch auf Deutsch erscheint und als animierter Film - nach Premieren auf den Filmfestivals in Toronto und Venedig - bereits erfolgreich in den tschechischen Kinos lauft.

Der niederländische Schriftsteller Kader Abdolah musste 1985 den Iran verlassen. Da sein Ururgroßvater einmal hochrangiges Mitglied der Regierung gewesen war, darüber hinaus bekannter Schriftsteller und Dichter, beschließt das Kind, ein noch berühmterer Schriftsteller zu werden oder - noch besser – gleich Präsident seines Landes. Lesen und Schreiben beherrscht er früh, seine Großmutter hat es ihm beigebracht. Mit dem eigenen, taubstummen Vater muss er eine andere Sprache sprechen, ihm die Welt erklären und seine Stimme sein. Der Abschied fällt ihm schwer. Seine Emigrationserfahrungen hat er in einen, extra für das Festival geschriebenen, Text verpackt, der voller Komik und leiser Ironie ist, die Wehmut aber nicht ganz leugnen kann. Abdolah, hoch gewachsen, erinnert mit seinem widerspenstigen, schwarzen Haupthaar und einem grau-weiß melierten Nietzsche-Bart ein bisschen an Groucho Marx. Er ist ein eleganter, gewitzter und sehr unterhaltsamer Erzähler. Der Schmuggel von Istanbul in die USA kostet damals 10.000 US-Dollar, die er natürlich nicht hat, nicht einmal die 5.000, die man für Berlin ausgeben muss oder die 2.000 für Prag, nur Amsterdam ist gratis. Man lässt ihm also keine andere Wahl. Dreimal versucht er mit gefälschten Papieren aus dem kalten, tristen Land zu fliehen, jedes Mal wartet am Flughafen bereits die Polizei. Es beeindruckt ihn aber auch, plötzlich in einem Land zu sein, von dessen Existenz er noch nie vorher gehört hat - für ihn ein gutes Omen: Er beschließt nunmehr, ein niederländischer Schriftsteller zu werden. Den Hinweis, er habe nicht einmal Grundkenntnisse der fremden Sprache, lässt er nicht gelten, auch nicht den, das Land sei zu klein, da passe ein so großer Traum gar nicht hinein. Fünfzehn Bücher zeigen, dass er die niederländische Sprache mittlerweile gelernt hat, dass er sie, wie er sagt, geradezu braucht, um seine ihm so fremd gewordene Muttersprache, seine Heimat nicht ganz zu verlieren.

Bio-Bibliographisches: *1954 im iranischen Arak, eigentlich: Hossein Sadjadi Ghaemmaghami Farahani. Physik-Studium, in den Studentenbewegungen gegen den Schah und Chomeini aktiv. Sein Pseudonym ist der Name eines ermordeten Freundes. Nach längerem Aufenthalt in der Türkei 1988 politisches Asyl in den Niederlanden. 1993 erscheint sein erstes auf Niederländisch geschriebenes Buch, der Erzählband De adelaars (Ü: Die Adler), für den er den Literaturpreis Het Gouden Ezelsoor für das meistverkaufte Debüt des Jahres erhält.
In seinem ersten Roman De reis van de lege flessen (1997; dt. Die Reise der leeren Flaschen, 1999) beschreibt der Autor eindringlich die Widersprüche im Leben des Exiliraners Bolfazl, der als politischer Flüchtling in den Niederlanden zwischen zwei Welten steht. In Spijkerschrift (2000; dt. Die geheime Schrift, 2003) wird der Bogen zwischen zwei vollkommen unterschiedlichen Welten gespannt. Esmail bekommt im Amsterdamer Exil das in einer kaum lesbaren Schrift verfasste Manuskript seines taubstummen Vaters über sein Leben in einem kleinen persischen Bergdorf zugeschickt. Er übersetzt es und erfährt so mehr und mehr über seine eigene Herkunft. Ebenfalls autobiografische Züge trägt der Bestseller Het huis van de moskee (2005; dt. Das Haus an der Moschee, 2007). Erzählt wird die Geschichte des religiösen Teppichhändlers Agha Djan und seiner Großfamilie, die unter dem Regime des Ayatollah zerbricht. „Ich möchte die Geschichte der Personen aufschreiben, mit denen ich die ersten vierunddreißig Jahre meines Lebens verbracht habe. Ich möchte die Wahrheit erzählen“. Sein Werk beinhaltet unterschiedliche Erzähltraditionen: Persische Motive, der poetische Sinn für das Indirekte und die metaphernreiche Sprache des Korans werden in den niederländischen Kontext seiner Werke integriert und zu raffinierten Kompositionen verwoben.
Zuletzt veröffentlichte Abdolah den Roman De koning (2011; dt. Der König, dt.voraussichtl. 2013) über Naser al-Din Schah, im 19. Jahrhundert König von Persien. 2009: Ehrendoktorwürde der Rijksuniversiteit Groningen. Er lebt in der Nähe von Amsterdam. - Die ins Deutsche übersetzten Bücher sind beim Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, bei Claasen Berlin und im dtv-Taschenbuchverlag erschienen.

Sein Satz: Ein Traum ist weder zu klein noch zu groß, er ist für den, der ihn träumt, genau passend.

Gary Shteyngart hat ein gesellschaftskritisches Buch geschrieben, dass in einer nicht allzu fernen Zukunft spielt; er hatte sich alles fein ausgedacht und witzig gefunden - und nun ist seine fiktionale Satire von der Realität eingeholt geworden. In Super Sad True Love Story trifft der nicht mehr ganz taufrische Lenny auf eine junge, reiche koreanisch-stämmige Amerikanerin, die nichts im Kopf hat außer Shoppen, Sex, Chatten und Telefonieren. Lenny arbeitet in einer Art Wiederaufbereitungs-Anlage für menschliche Körper, sprich in der Schönheitsindustrie, denn nichts ist so verpönt wie das Altern. Sein etwa siebzig-jähriger Chef hat sich gerade in einen knapp Fünfunddreißig-Jährigen ummodeln lassen, die gesamte Gesellschaft liegt für das perfekte Aussehen in modernen Prokustes-Betten. Ziel ist die bestmögliche Vermarktung der eigenen Person. Von Terminals an jeder Straßenecke, von den eigenen Smartphones aus streamen und bloggen alle im Internet, rufen ständig Daten ab, nicht nur die eigenen, sondern auch die aller anderen: Kontostand, Fickfaktor (wer mit wem wie oft als Gradmesser für Attraktivität und gesellschaftliche Akzeptanz), Schönheits-OP´s, Gesundheitszustand und was man sonst so braucht, um mit jemand in Kontakt zu treten oder eher nicht bzw. ihn oder sie fertig zu machen. Die deutsche Kritik hat ein bisschen naserümpfend auf das vergnügliche, flott geschriebene Buch reagiert: es war ihr zu viel Kulturpessimismus, Schwarzmalerei und moralische Biederkeit. Da merkt man, dass die Leute keine Ahnung von sog. sozialen Netzwerken wie z.B. facebook, haben, die bereits heute schon fleißig solche Informationen sammeln und in denen der Grad der Selbstentblößung ständig steigt - von der faltenfreien Prominenz und Semiprominenz ganz zu schweigen. - Shteyngart ist auch auf dem Podium ein gut gelaunter, zu Späßen aufgelegter Gesprächspartner, obwohl er sagt, wenn er die Welt so betrachte, verginge ihm ab und zu das Lachen. Die durchsichtigen Jeans, die nippelfreien BH´s fand er einen lustigen Gag, sie waren allerdings bereits in diesem Jahr schon der letzte Schrei auf den diversen Laufstegen. Im Buch sind die USA pleite, werden von China gestützt, haben sich in einen Überwachungsstaat verwandelt und verzetteln sich in sinnlosen Kriegen. In Wirklichkeit bricht 2008 der Finanzmarkt zusammen, die EU fast auseinander, China bietet pro forma seine Hilfe an, ist aber schon längst in den USA und Europa Großinvestor, kauft Aktien, Immobilien und Ländereien auf. Es gibt 25% Arbeitslosigkeit, kein Geld für Bildung und Gesundheit und jeder sechste Amerikaner lebt unterhalb der Armutsgrenze. Obama hat keine einzige Reform durchsetzen können. Lenny ist auch Gary Shteyngart, den man nicht für voll nimmt und auslacht, weil er zu Hause Regale voller Bücher hat und auf Papier schreibt. Während er zum Schluss noch über den Einfluss eines neu erstandenen iPhones auf seine Psyche erzählt, werden reflexartig schon die ersten Handys und Smartphones gezückt. Schließlich muss man den nächsten Termin vereinbaren. Sonst glauben die Leute gar, man sei ganz aus der Welt.

Bio-Bibliographisches: *1972 im damaligen Leningrad als Sohn einer jüdischen Familie. 1979 Emigration nach New York. Schon als Kind begeisterter Leser russischer und jüdisch-amerikanischer Literaten, Studium der Politikwissenschaften am Oberlin College in Ohio. Arbeit bei einer Hilfsorganisation für Flüchtlinge, Kulturjournalist für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, Kreatives Schreiben an der City University of New York, MFA.
Eine Reise nach Prag inspiriert ihn zu seinem ersten Roman, mit dem er auf einen Schlag in den USA bekannt wird: The Russian Debutante’s Handbook (2002; dt. Handbuch für den russischen Debütanten, 2003). Darin erzählt Shteyngart von einem jungen russischen Einwanderer, der in Amerika an eine Gruppe mafiöser Landsleute gerät. Er lässt sich von der Russenmafia anheuern und geht in eine Hauptstadt in Europas Wildem Osten, wo ihm eine Blitzkarriere als Gangster winkt. Der Roman war nicht zuletzt eine humorvolle Abrechnung mit dem Prag der Neunziger, das bekiffte junge Amerikaner so toll fanden. 2006: Absurdistan (dt. Snack Daddys abenteuerliche Reise, 2006) erzählt von einem russischen Amerikaner, der zugleich der fettleibige Sohn des reichsten Mannes von ganz Russland ist. Nachdem sein Vater jedoch einem Attentat zum Opfer gefallen ist, sitzt der Oligarchenspross in Petersburg fest und gerät in post-sowjetische Bürgerkriegswirren. Vorbilder wie Nabokov, Turgenjew und Philip Roth stehen bei seinem Schreiben Pate, aber zugleich ist Shteyngart „so böse wie Borat und lustiger als Nabokov [...], ein großer Satiriker, in dessen Händen sich die Gegenwart zu einem Gebilde verbiegt, das schillert und glänzt und rattert und rappelt wie eine Albtraummaschine für erwachsene Kinder (Die Zeit). - Fellow an der American Academy in Berlin, Stephen Crane Award for First Fiction und National Jewish Book Award for Fiction. Gary Shteyngart lebt in Manhattan. - Die ins Deutsche übersetzten Bücher sind im Berlin Verlag, das neueste bei Rowohlt erschienen.

Sein Satz: Wahrscheinlich wird es irgendwann mehr Leute geben, die Romane schreiben, als solche, die sie lesen - so ist das ja heute schon bei Gedichten.

Der russische Erfolgsautor Michail Schischkin, der kürzlich im Haus der Kulturen der Welt in Berlin (gemeinsam mit seinem kongenialen Übersetzer Andreas Tretner) den 1.Internationalen Literaturpreis für seinen fulminanten Roman Venushaar entgegen nahm, kokettierte nach der Lesung: Er sei Schriftsteller geworden, weil er sonst nichts Gescheites gelernt habe. Immer noch sei er Amateur, denn er könne nicht jedes Jahr ein Buch abliefern wie die Profis, höchstens alle fünf bis sieben Jahre. Der erste Schreibimpuls sei vielleicht von einer toten Katze ausgegangen, die unbeachtet am Wegrand lag. Seine Großmutter habe einen Spaten aus dem Schuppen geholt und sie vergraben. Und der kleine Michail fragte, ob er auch so enden würde. Die Antwort der Großmutter kann den Enkel nicht beruhigt haben, denn früh schon fing er an mit dem Schreiben, das, meinte er, könne gegen den Tod helfen. Er hat noch eine andere – nicht ganz unbekannte - Geschichte parat: Ein zu lebenslanger Einzelhaft Verurteilter schabt mit seinem Löffel ein Boot ins Gemäuer, und eines Tages stellen die Wärter fest, dass die Zelle leer und die Zeichnung ebenfalls verschwunden ist. Als Schriftsteller sei er wie der Häftling und sein Werk das Boot. Im Ozean der Zeit könnten die Worte unsterblich werden, er aber würde sterben wie die Katze aus seiner Kindheit. Gewiss ist nur, dass Schreiben ihn nicht vor dem Tod retten könne. Nur durch ihn erfahren wir aber, was Leben ist. Das gelte es schätzen zu lernen. Als Schriftsteller schaffe er sich seine Zeit, seinen Raum, ein Immer ohne Begrenzung.

Als Schischkin 1995 in die Schweiz kommt, will er zunächst Russisch unterrichten, aber es gibt mehr Russisch-Lehrer als interessierte Schüler. Also wird er „Dolmetsch“ in der Migrationsbehörde und übersetzt die Bitten der vielen so genannten Gesuchsteller (GS) um Asyl. Es geht ums Überleben, um ein anderes, besseres Leben. Ob die Geschichten frei erfunden sind oder selbst erlebt, spielt keine Rolle. Sie enthalten einen wahren Kern, ein Schicksal, das ein anderer Mensch erlitten haben kann. Oft genug geht es um eklatante Verletzungen der Menschenrechte, um Entwürdigung und Gewalt. Es gibt jedoch eine Quote, die nicht überzogen werden darf. In Betracht kommen sowieso nur Gesuchsteller, die das Prädikat „politisch“ erhalten. Das gelingt den wenigsten, selbst wenn sie beispielsweise Folterung glaubhaft versichern und zeigen können. Eine zertrümmerte Hand, ein fehlender Unterschenkel, Narben am Körper oder im Gesicht, ausgeschlagene Zähne oder ein zerstörtes Auge könnten sich die GS schließlich auch nachträglich selber zugefügt haben, die Vergewaltigungen, von denen Frauen stockend berichten, lassen sich im Nachhinein nicht überprüfen. Es ist ein unmenschliches System, ein Paradies-Verweigerungs-Moloch. Den realen wie den fiktiven Dolmetsch treiben diese täglichen Horrorszenarien, seine oktroyierte Hilf- und Tatenlosigkeit in Schlaflosigkeit und Depression. Er beginnt die Geschichten aufzuschreiben, er stellt Verbindungen zwischen Personen und ihren Erzählungen her. Er imaginiert die Orte, in denen sie lebten, erinnert sich an die Geschichte der Regionen, ist Protokollant und Archivar. Schicht um Schicht werden Ursachen und Wurzeln der bestehenden Konflikte, der kriegsähnlichen Zustände frei gelegt, die Profiteure und Verlierer genannt. Er erinnert überhaupt an die Verfolgungen und Gewalttaten des 20. Jahrhunderts, zeigt Menschen auf der Flucht, Redensarten und Sprüche wechseln mit historischen Begebenheiten und Anekdoten aus dem Leben bekannter Persönlichkeiten. Er taucht ein in die immer noch wirksamen Mythen und Legenden, referiert alte biblische Geschichten und klassisch-griechische Sagen, stellt Vergleiche her zwischen längst vergangenen Epochen, schreibt über seine eigene Kindheit und Jugend, über die Ehe mit einer Schweizerin.

Venushaar ist ein vielschichtiger Roman (nicht nur) über russische Verhältnisse, ausufernde und schier unerschöpfliche Assoziationsflut, mit einigem Furor erzählt. Die fiktiven Tagebucheinträge der russischen Chanson-Sängerin Izabella Juréva, die das gesamte 20. Jhdt. umspannen und wohl eine durchgehende weibliche Stimme etablieren sollten, sind allerdings ein wenig redundant geraten.

Wie heikel das Buch für manche wirklich ist, lässt sich an der Reaktion der Behörde ablesen: Kaum war es in Russland erschienen, bekam er keine Übersetzungsaufträge mehr. Schischkin bezeichnet den Vorgang als „stillschweigendes Berufsverbot“. Aber zurück würde er sowieso schon lange nicht mehr wollen. Er pendelt zwischen der Schweiz und Moskau, wo Venushaar erfolgreich für das Theater adaptiert wurde.

Bio-Bibliographisches: *1961 in Moskau. Studium an der romanisch-germanistischen Fakultät der Staatlichen Pädagogischen Hochschule in Moskau, Redakteur der Jugendzeitschrift Rovesnik (Ü: Der Altersgenosse), fünf Jahre Deutsch- und Englischlehrer an einer Moskauer Schule. 1995 Übersiedlung in die Schweiz, neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit Arbeit als Dolmetscher und Lehrer. 2003: literarisch-historischer Reiseführer Die russische Schweiz (dt. 2003).
1993: Erzählung Uroki kalligrafii (Ü: Die Kalligrafiestunde) in der Zeitschrift Znamja (Ü: Banner). Im selben Jahr erschien in Znamja auch sein erster Roman »Vsech ožidaet noč‘« (Ü: Die Nacht erwartet alle), Preis der Zeitschrift für das beste literarische Debüt. 1999: Vzjatie Izmaila(Ü: Die Eroberung von Ismail) und Venerin volos (2005, dt. Venushaar, 2011), das bereits in elf Sprachen üb ersetzt ist.

Venushaar, aus dem Russischen von Andreas Tretner, DVA Verlag, geb., 560 Seite

Seine Sätze: Die Welt ist ein Ganzes, eine Vielzahl kommunizierender Gefäße. Je ärger das Unglück der einen, desto entschiedener müssen die anderen auf ihrem Glück bestehen. Desto stärker müssen sie lieben. Damit die Welt im Gleichgewicht bleibt, damit sie nicht kentert wie ein Boot.

Antonio Muñoz Molina stellte seinen neuen Roman vor: Die Nacht der Erinnerungen, eine kluge und bewegende Geschichte aus dem Spanischen Bürgerkrieg, über den Zusammenbruch aller Sicherheit, die schiere Gewalt und die Notwendigkeit des Erinnerns.

Fünfundsiebzig Jahre nach seinem Beginn ist der Spanische Bürgerkrieg immer noch ein heikles Thema, der feine, aber tiefe Riss durch die Gesellschaft spürbar, die Fronten sind verhärtet. Bis heute empfindet die spanische Rechte Franco nicht als Diktator - kein Wunder, viele, darunter die einflussreichsten Familien, haben unter ihm profitiert und sind daher nach wie vor sehr dankbar. Die Spanische Republik gab es bereits seit 1931, ein seltenes Staatsgebilde im damaligen Europa, und nur der Militärputsch der extremen Rechten gegen sie führte schließlich zum Bürgerkrieg. Das ist keine Meinung, insistiert Muñoz Molina im Gespräch, das ist eine historische Tatsache. Keine Seite will jedoch Verantwortung übernehmen für die Grausamkeiten, Verbrechen und Morde, die während des Krieges begangen wurden. Im Roman heißt es einmal: „Die Verzweiflung belagerte die Stadt.“ Keine Stadt war jemals zuvor dermaßen zerbombt worden wie Madrid. Die Falangisten hatten kräftige Unterstützung durch die deutschen Nazis und die italienischen Faschisten, die Republikaner wurden von der Sowjetunion Stalins unterstützt, die, über das militärische Kräftemessen mit dem nationalsozialistischen Gegner hinaus, den Spaniern auch die richtige ideologische Linie beibringen wollte. Muñoz Molina betont, dass die Republikaner politisch heterogen waren. Unter der Fahne der Republik hatten viele Platz: Sozialisten, Sozialdemokraten, Kommunisten und Anarchisten, die in Spanien traditionell stark waren. Die einzelnen Regionen waren nicht einheitlich entwickelt, und in jeder gab es daher andere Projekte. Die Kommunisten führten schon bald einen internen, ideologischen Kampf, der die republikanische Einheitsfront zunehmend schwächte und zersetzte. Es siegten nicht nur die gegnerischen Waffen, gesiegt hatten darüber hinaus auch ein extremer Dogmatismus, der Terror, das Grauen und die Angst. Mindestens 1,2 Mio. Tote hat der Krieg gefordert, noch heute findet man Massengräber. Spanien, das war der Traum von Freiheit und Egalität vieler Menschen aus der ganzen Welt, und dieser Mythos hält sich bis heute. Für Jahrzehnte blieb es ein zerrissenes, unfreies Land. Aber vor allem war es das strategische Übungsfeld einer neuen Kriegsführung, das Austesten des eigenen wie des gegnerischen Potentials - am Vorabend des 2.Weltkriegs.

Madrid 1936: Ignacio Abel, ein erfolgreicher Architekt, der sich am Bauhaus orientiert, gerade mit Planung und Bau einer Universitätsstadt, einem Vorzeigeprojekt der neuen Republik, beauftragt, und vom Autor als pragmatischer Idealist vorgestellt wird, glaubt an demokratische Erneuerung durch sozialen Fortschritt, Bildung und gute Architektur. Sein Credo stammt aus einer Abhandlung über sie: Das Reine, Richtige, auf den Punkt Gebrachte, die Synthese. Er, aus einfachen Verhältnissen stammend, hat in den katholisch-konservativen Geldadel eingeheiratet, was ihn zwar finanziell unabhängig macht, aber ständig mit einer degoutanten Verwandtschaft konfrontiert; seine Ehe ist nicht unangenehm, und er liebt seine beiden Kinder. Als die junge Amerikanerin Judith Biely in sein Leben tritt, ist es um ihn geschehen. Judith ist blond, schön, elegant und jüdisch, eine attraktive junge Frau. Trotz einiger Hindernisse beginnt eine leidenschaftliche Affäre, die ihn und alle seine bisherigen Übereinkünfte über den Haufen wirft. Sie treffen sich in entlegenen Gegenden, in Bars und billigen Stundenhotels, später in einer Pension, in Kinos, wo die jeweilige Wochenschau über Berlin berichtet und über Moskau, über Militärparaden und den Rest der Welt, auch über Madrid. Nach dem Selbstmordversuch seiner Frau, die das Verhältnis entdeckt hat, setzt sich die zutiefst erschrockene Judith ab. Ignacio sucht sie überall in der Stadt und realisiert erst jetzt den Ernst der politischen Lage, die er in seinem Liebesrausch vorher kaum wahrgenommen hat. Madrid ist belagert, überall sind bewaffnete Menschen unterwegs, Kirchen und Läden brennen, exekutierte Leichen liegen auf den Straßen. Er begegnet seinem alten Bauhaus-Lehrer Karl Ludwig Rossmann (!), der als Fremder desillusioniert durch Madrid irrt, auf der Flucht ist, weil er sich tödlich bedroht fühlt und ihn dringend um Hilfe bittet, doch Abel will in nichts verwickelt werden. Später erfährt er von dessen Tod, Gewissensbisse quälen ihn. Seine Selbstsucht und Ignoranz ekeln ihn an. Während um ihn herum die Welt zu Bruch geht, hat er nur sich und sein gebrochenes Herz bedauert. Er hat kläglich versagt, die Gelegenheit, Menschlichkeit zu zeigen, verpasst. Immer wieder entdeckt er Gesichter, die er einmal kannte - sie sind entstellt, zertrümmert, mit Blut bedeckt. Einem Erschießungskommando entkommt er selbst nur knapp; mit einer Einladung nach Amerika gelingt es ihm, Spanien zu verlassen. Das ganze Land ist in unheilvoller Bewegung, alles ist auf der Flucht: waren es früher die Bilder der Armen, der Hungernden mit ihren aufgeblähten Bäuchen, denen die Republik ein lebenswertes Leben versprochen hatte, und die Ignacio nicht verdrängen konnte, sind es jetzt die Flüchtlinge mit ihren schäbigen Koffern, der zerschlissenen Kleidung, den kaputten Schuhen, die sich vor jeder Uniform fürchten. Nach seiner Ankunft in den Staaten versucht er Judith zu finden, er glaubt, sie als Beweis zu brauchen, dass er noch lebendig ist, kein Deserteur, kein Verschwundener, den die Erde verschluckt hat wie einen Leichnam, als könne nur sie seine Existenz beglaubigen. Und das herbeigesehnte Wunder geschieht, sie werden sich treffen: in der Nacht der Erinnerungen. Die Nacht des Totalitarismus bricht gerade über Europa herein. Sie hätten Zeit gebraucht, wie die Republik auch, aber die gab es nicht. Alles, was einmal Gegenwart war, ist längst dementiert und von den Realitäten eingeholt. Die Zeiten haben sich geändert, die Verluste sind nicht benennbar. Es ist mehr als eine Aussprache: Es geht um den Ursprung, den Anfang und das Ende von Liebe; die ungültig gewordenen Pläne und Versprechen, um persönliche Versäumnissen, Misstrauen und Eigennutz – um den Krieg, im Kleinen wie im Großen, um das Eingeständnis vollkommener Machtlosigkeit angesichts von Fanatismus und entfesselter Gewalt, das menschliche Versagen angesichts der vielen Toten - und immer wieder um die Frage, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte, um die eigene Schuld. Der Autor bedient sich filmischer Mittel. Oft beginnt er mit einer Totalen und zoomt dann auf eine Person oder Menschengruppe, deren Erscheinungsbild, Körperhaltung, Mimik und Gestik er detailliert beschreibt. Was zunächst wie eine Engführung erscheint, ist eine Erweiterung des Blicks bis in die Gedankenwelt hinein, in der sich die Zeiten an keine Reihenfolge halten müssen. Es braucht keine künstlich erzeugten Rückblenden oder Vorgriffe. Ein Blick über die Stadt, das reiche Zentrum mit den großzügigen Avenidas, Parks und Plätzen, führt in enge Gassen, an die Ränder der Stadt, in denen die Armen leben; ein Schwenk über üppige oder karge Landschaften, fokussiert weiß getünchte Häuser oder graue Katen der Fronarbeit leistenden Bauern. Bald werden es Schlachtfelder sein, die Straßen Kriegsgebiet. Er entwirft Panoramen, aus denen er einzelne Figuren herauslöst, aus der Menschenmenge die einzelne Person: vom Allgemeinen zum Konkreten. Ignacio kann in den vielen Bildern keine Wahrheit  entdecken; nicht einmal ein Foto als Erinnerungsstütze hat eine Geschichte, ist lediglich eingefrorener Augenblick; es sind die Gegenstände, mit denen sich Menschen umgaben, die sie in Händen hielten, die körperliche Nähe auch in der Distanz herstellen, weil nur durch sie Individualität und Lebendigkeit aufscheinen. Muñoz Molinas Porträts geben nicht nur das Individuelle seiner Protagonisten wieder, sie zeichnen darüber hinaus ein genaues Bild der Gesellschaft und ihrer Wertvorstellungen, aus denen Ideologien wurden, die Hunderttausende dazu brachten, für sie zu kämpfen und zu töten.

Der spanische Originaltitel: La noche de los tiempos lautet wörtlich übersetzt eigentlich 'Die Nacht der Zeiten' - und um verschiedene Zeitebenen geht es auch im Roman. Im Spanischen ist es allerdings eine Redewendung und meint etwas sehr lange Zurückliegendes, ein Damals, an das man sich nicht mehr genau erinnern kann oder will - etwas weit genug Entrücktes, um es verklären zu können, auch flapsig wie unser: Anno dazumal oder Es war einmal (aber ohne das folgende Märchen!).

Antonio Muñoz Molina: „Die Nacht der Erinnerungen“. Roman. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011, geb., 1004 Seiten

Bio-Bibliographisches: *1956 im andalusischen Úbeda , Journalismus-Studium in Madrid und Kunstgeschichte in Granada. Arbeit in der Stadtverwaltung, 1986: Debütroman Beatus ille (dt. Beatus ille oder Tod und Leben eines Dichters, 1989) über die Suche eines jungen Doktoranden nach den Spuren eines im Bürgerkrieg zum Tode verurteilten republikanischen Dichters. 1987: Durchbruch mit dem Roman Un invierno en Lisboa (dt. Der Winter in Lissabon, 1991), einer Mischung aus Liebesgeschichte, Krimi und Hommage an die Jazzmusik. 1991: International bekannt wurde der Autor durch den autobiografisch geprägten Roman El jinete polaca (dt. Der polnische Reiter, 1995), Literaturpreis Premio Planeta. Es ist die Rekonstruktion der Geschichte von Mágina, seinem fiktiven Geburtsort in Andalusien. Muñoz Molinas besonderes Interesse gilt dem Spanischen Bürgerkrieg, dem Franquismus und der anhaltenden inneren Zerrissenheit der spanischen Gesellschaft.
Sein belletristisches Werk – zwanzig Romane und Erzählbände – ist in zwanzig Sprachen übersetzt, vielfach preisgekrönt (u. a. Premio de la Crítica, 1988, Premio Nacional de Narrativa, 1988 und 1992) und zum Teil verfilmt worden. Essaybände und Artikel und Blogeinträge. 1995 Berufung in die Real Academia Española. Muñoz Molina lebt mit seiner Frau Elvira Lindo in Madrid und New York City, wo er von 2004 bis 2006 das Instituto Cervantes leitete. - Die anderen, ins Deutsche übersetzten Bücher sind bei Rowohlt Berlin erschienen.

Sein Satz: Mir hat es nicht gereicht nachzulesen, wie diese Welt war; da ich sie nicht selbst erlebt habe, musste ich sie erfinden.

Blasphemie und Freiheit nahm den Karikaturenstreit Anfang 2006 zum Anlass, um noch einmal nach dem Verhältnis von Religion und Meinungsfreiheit zu fragen. Eingeladen waren Flemming Rose, dänischer Karikaturist und seinerzeit Verantwortlicher Redakteur der Zeitung Jyllands-Posten, in der die Mohammed-Karikaturen erschienen waren und der nach Mordrohungen - und zwei Anschlägen auf einen Kollegen, denen der nur knapp entkam - bis heute unter Polizeischutz steht und von zwei Bodyguards begleitet wurde. Auf dem Podium saßen darüber hinaus zwei leitende Redakteure der Tageszeitung (taz) bzw. der Wochenzeitung Der Freitag, ein angesehener Rechtsanwalt und Kunstmäzen und der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland.

Zur Erinnerung: Die Karikaturen waren nicht nur in einigen europäischen, sondern zunächst sogar in arabischen Zeitungen nachgedruckt worden. In Dänemark, wo damals heftig über Integration gestritten wurde und rechtsliberale Parteien die Diskussion bestimmten, kritisierten einige Muslime die Darstellung ihres Propheten als verletzend und beleidigend, fanden aber kein Gehör, auch Gespräche sowohl mit Vertretern der Zeitung als auch der Regierung wurden kategorisch abgelehnt. Daraufhin suchten sie Unterstützung in Ägypten, Syrien, Pakistan und dem Libanon, ließen offenbar ihrer Frustration freien Lauf, worauf es unter anderem in Damaskus, Beirut, Islamabad und Jakarta zu Ausschreitungen kam, dänische und – neben der amerikanischen und der israelischen – auch andere europäische Fahnen verbrannt und Botschaftsgebäude angezündet wurden. Auch wenn die gewaltsamen Übergriffe lokal begrenzt waren, von Augenzeugen oft als inszeniert beschrieben wurden, sind bis Ende Februar 2006 immerhin 139 Menschen getötet und 823 verletzt worden. Von allen westlichen Regierungen wurden die Gewaltakte verurteilt und mit Sanktionen gedroht; auch auf muslimischer Seite gab es Stimmen, die zur Mäßigung aufriefen, um der Gewalt ein Ende zu setzen.

Gleichzeitig begann ein innereuropäischer Streit um das Für und Wider dieser Karikaturen, inwieweit sie und vergleichbare Aktionen den öffentlichen Frieden nachhaltig stören könnten bzw. tatsächlich eine Religion herabwürdigten. Die verbissene Diskussion, die damals ihren Anfang nahm, erscheint heute als eine zwischen denen, die den Islam als gewalttätige Religion ablehnen und bekämpfen wollen, und jenen, die diese Haltung nicht akzeptieren, denen jedoch unterstellt wird, sie hätten „die Schere – auch ohne Scharia und Fatwa – bereits im Kopf“, würden also quasi in vorauseilendem Gehorsam und aus Angst alles 'Muslimische' rechtfertigen und gutheißen. Bei der Absetzung der Oper Idomeneo von Mozart (Deutsche Oper Berlin), in der als Schlussbild die drei abgeschlagenen Köpfe von Moses, Christus und Mohammed zu sehen sind, mag das so gewesen sein. Man fürchtete Konfrontation. Es ist eine merkwürdige Logik, dass 'der Muslim' auch für die Schere im Kopf des 'Nicht-Muslim' verantwortlich sein soll. Da erübigen sich dann auch Diskussionen über Identität und Glaubwürdigkeit; eigene und gesellschaftliche Feigheit und Heuchelei, die zu Formen der Selbstzensur führen, stehen nicht mehr zur Debatte.

Auf dem Podium, moderiert vom ZEIT-Redakteur Jörg Lau, herrschte zunächst Einigkeit in der Ablehnung jeglicher Form von Gewalt. Auf Worte dürfen nur Worte folgen, keine Gewalttaten. Flemming Rose wies nochmals darauf hin, dass in einer globalisierten Welt ein kleines Land wie Dänemark mit einem lokalen Ereignis wie dem Abdruck von Zeichnungen plötzlich in den weltpolitischen Fokus geraten konnte und dass demokratische Prinzipien wie Meinungs- und Pressefreiheit von einigen Gewaltbereiten offensichtlich ausgehebelt werden können ohne eine geeignete Handhabe dagegen zu haben. Unter Achtung bzw. Beleidigung religiöser Gefühle kann man alles subsumieren und damit Freiheit einschränken. Die Redakteure, der Moderator und der Rechtsanwalt waren sich einig, dass man dagegen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln vorgehen müsse. Der Vorsitzendes, als einziger vom Moderator mit seiner Parteizugehörigkeit vorgestellt (eine Partei, die sich gerade selbst abschafft, alle Wahlen verliert und auch beim Publikum diskreditiert ist), war offensichtlich des Proporz wegen eingeladen, zu melden hatte er nichts. Er erinnerte an die Erklärung des Zentralrats gegen Gewalt sofort nach den Ereignissen und daran, dass Muslime in Deutschland - und die meisten weltweit - die Ausschreitungen weder begrüßt noch unterstützt hatten.

Als er gestand, eine Karikatur habe ihn doch in seinem religiösen Gefühl verletzt, fühlte sich der taz-Redakteur seinerseits zum Lehrmeister berufen, auf die feine Ironie und die Doppeldeutigkeit des Bildes hinzuweisen, die ganz in der europäischen Tradition von Satire und Aufklärung stünde. Und als der Vorsitzende dann noch den amerikanischen Prediger erwähnte, der öffentlich den Koran verbrennen wolle, nannte der kopfschüttelnde Rechtsanwalt den Prediger einen Spinner aus einer kleinen Sekte, und man solle aus einer Mücke keinen Elefanten machen. Aus diesen kleinen Sekten speist sich jedoch eine evangelikale, reaktionäre US-amerikanische Bewegung mit millionenfachem Zulauf, die wahlweise islamfeindlich, rassistisch, antisemitisch und sexistisch - und manchmal alles auf einmal – ist. Auch blieb die Frage offen, wie viel Religion säkularisierte Gesellschaften vertragen, in denen Religion zunehmend oder überhaupt keine Rolle im öffentlichen Leben mehr spielt, in denen aber immer häufiger verschiedene Kulturen aufeinander treffen. Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden, ist zwar ein schöner, aufgeklärt-demokratischer Satz, aber in der Praxis meist ein recht schwieriges Unterfangen. Auf dem Podium fand ein politischer, interkultureller (und interreligiöser) Dialog jedenfalls nicht einmal ansatzweise statt. Der als Vertreter deutscher Muslime Eingeladene hatte leider lediglich Alibifunktion. Vielleicht ist es diese Haltung, die auf Dauer kränkt und Unmut hervorruft. Als der afghanische Politiker Rabbani Opfer eines Attentats wurde, hatte der Mörder die Bombe in seinem Turban versteckt, geradeso als hätte er die inkrimnierte Karikatur mit der Lunte, die aus Mohammeds Turban wächst, als Vorlage benutzt.

Anfang Februar 2006 titelte das französische Satiremagazin Charlie Hebdo mit einem Bild Mohammeds auf einer Wolke, der die Hände vor´s Gesicht schlägt und ruft: „C’est dur d'être aimé par des cons“ (dt.: Es ist hart, von Idioten geliebt zu werden).

Al-Dschasira meldete ebenfalls im Februar 2006, dass so genanntes dänisches Plundergebäck im Iran zukünftig nur noch Rosen von Mohammed ( Farsi: gul-e-muhammadi) heißen dürfe. Da das Land keine dänischen Produkte mehr importiere, stelle es das Gebäck jetzt selber her.

Nach den dänischen Mohammed-Karikaturen gab es übrigens noch einen Holocaust-Karikaturen- Wettbewerb, der nicht, wie prophezeit, den Holocaust leugnete, sondern allenfalls dessen Funktionalisierung thematisierte, was schließlich auch einige US-amerikanische Juden tun. Danach rief ein israelischer Künstler zu einem Israelisch-Antisemitischen-Karikaturen-Wettbewerb auf. Alle Karikaturen sind im Internet zu sehen. Man muss sie nicht einmal gut finden, sie zeigen aber die verschiedenen Haltungen zu politischen Problemen. So gesehen sollte es noch viele solcher Karikaturen-Wettbewerbe geben.

Sätze: Wenn Sie schon Witze machen müssen, dann doch wenigstens nicht über so ernsthafte Dinge. -Über was soll man sonst Witze machen, wenn nicht über ernsthafte Dinge? (Chesterton)

 


Dass Muslime den Islam ablegen und Deutsche werden wollen, glaube ich solange nicht, bis sie den Koran verbrennen und ihre Moscheen niederreißen – zum Zeichen dafür, dass sie nicht länger Allah, den Geist der Gewalt und Lüge, anbeten.

- Stimme ich zu / stimme ich teilweise zu / stimme ich nicht zu -

Islam und Islamkritik

Patrick Bahners und Robert Irwin

Moderation: Jörg Lau

Wenn man nach längerem Auslandsaufenthalt nach Deutschland zurückkehrt, findet man es 2011 verändert wieder - und ist, gelinde gesagt, frappiert: Es soll mittlerweile - schriftlich vielfach beglaubigt - ein Land sein, dass sich seinen christlich-jüdischen Wurzeln stellt, dass ganz in der „christlich-jüdisch- abendländischen Kultur“ (?) aufgeht, sie als ihr Fundament anerkennt. Das Christlich-Jüdische kam vorher jahrzehntelang positiv nur in der Bezeichnung einer Gesellschaft vor, in der sich ein paar tausend Christen und Juden mit der Vergangenheit und ihren Folgen auseinander setzte und um ein einvernehmliches Zusammenleben warb. Dies schien immer mal wieder von Nöten, vor allem, wenn es in öffentlichen Diskussionen um die Politik Israels ging. Nach dem Motto: „Einer muss es doch mal sagen“ bzw. „Es muss doch gesagt werden dürfen“ schwangen sich selbst ernannte Experten des Judentums und der Geschichte Israels auf, um die wahren Hintergründe der Konflikte zu enttarnen bzw. ihren antisemitischen Parolen freien Lauf zu lassen und sich damit Gehör zu verschaffen. Oftmals waren es harmlose Beiträge, eher aus Hilflosigkeit entstanden, wie man die komplexen Probleme lösen könnte, oft waren sie jedoch antisemitisch grundiert oder sprachen offen immer noch gängige Vorurteile und Ressentiments aus und an. Die Anonymität des Internets erlaubt schließlich jegliche Form von Obskurantismus, Geschichtslosigkeit und Hetze. Nach einer neuen Studie (sehr lesenswert; Heitmeyer et al, Die Mitte in der Krise, 2011, www.fes.de) haben etwa 10% der Deutschen ein geschlossen-rechtsextremes Weltbild, ebenso viele äußern offen antisemitische Grundeinstellungen. Ein fleißiger Web-Statistiker hat errechnet, dass jahrelang die antisemitischen bzw. Israel-kritischen Äußerungen (was nicht dasselbe ist!) auf unterer Stufe vor sich hin brodelten, aber Islamkritik bei weitem überwogen. Dies hat sich fundamental geändert: Es gibt mittlerweile ca. eine Million so genannter Islam-kritischer Einträge im Internet – bei etwa 190.000 Kommentaren zu Juden und Israel. In besagter Studie bekennen sich zwischen 70 – 80 % der deutschen Bevölkerung nunmehr zu ihrer latenten Ausländerfeindlichkeit, vor allem, wenn es sich um Muslime handelt. Das Feindbild hat sich offensichtlich drastisch geändert, es hat sich eklatant verschoben. Von Krieg ist – wie selbstverständlich – die Rede. Ayaan Hirsi Ali, die in ihren Auftritten Lara Croft zu imitieren scheint, betont gerne, sie sei Kriegerin gegen einen kriegerischen Islam, der schon seinem Wesen nach totalitär sei. Überhaupt fällt der immer häufiger geäußerte Terminus Krieg auf. Man müsse, so die Argumentation, der totalen Islamisierung Europas zuvor kommen, zuallererst die Religionsfreiheit für Muslime abschaffen, sie anschließend in ihre Ursprungsländer verfrachten und dann mit weiteren Sanktionen belegen. Spätestens hier möchte man diesen Kriegstrateg/innen die Lektüre von Victor Klemperer, LTI - Notizbuch eines Philologen (Aufbau Verlag, 1947, Reclam Stuttgart, 2010), das sich mit der Lingua Tertii Imperii, der Sprache des Dritten Reichs, befasst, dringend empfehlen, wüsste man nicht schon aus Diskussionen zum Beispiel über Antisemitismus und die Auseinandersetzungen über Israel und den Nahen Osten, dass selbst die besten Argumente, fundiertes Wissen, also schlicht Tatsachen und Fakten, nichts ausrichten gegen ein klares und eindeutiges Welt- bzw. Feindbild, um es euphemistisch auszudrücken.

Patrick Bahners, Feuilltonchef der FAZ, thematisiert in seiner Streitschrift Die Panikmacher die in Deutschland zunehmende Fremdenfeindlichkeit, den Extremismus der Mitte und korrigiert falsche Behauptungen. In seinem materialreichen Buch befasst er sich ausführlich mit der Kritik des Islam als Religion und seiner extremistischen Form des Islamismus, wie sie in Deutschland vor allem durch Hendryk M. Broder, Ralph Giordano, Thilo Sarrazin, Necla Kelek und Alice Schwarzer in die bürgerlichen Wohnzimmer getragen wird. Sie sehen die westlichen Zivilgesellschaften und ihre Errungenschaften bedroht: durch Kopftuch, Moschee-Bauten und fehlende Frauenrechte, lauter Indizien des reaktionären Charakters dieser Religion. Außer dem Kampfbegriff verbindet Islamkritiker/innen auf den ersten Blick nichts: sie kommen aus evangelischen und katholischen Kreisen, aus dem rechten und linken Spektrum der Politik, es sind Feministinnen mit sehr unterschiedlichen Anliegen, Weltverschwörungs-Theoretiker, Hassblogger, Zionisten und im Dritten Reich verfolgte Juden. Was sie eint, sind ihre geschichtsvergessenen Polemiken, die gesellschaftsfähig gewordene Hetze, das Gift der dogmatischen Vereinfachung und Ausgrenzung. Ihre fanatische Rhetorik gleicht der von Voltaire beschriebenen Tollwut der Intoleranz. Um die aufklärerische Haltung eines Lessing in der Ringparabel seines Nathan der Weise geht es ihnen definitiv nicht, auch nicht um im Grundgesetz verankerte Rechte und Pflichten aller Bürger/innen dieses Landes. Ihre Haltung ist anmaßend und unerbittlich gegen Muslime - und sie sind stolz darauf. Toleranz ist, was die je Einzelnen persönlich für tolerierbar halten.

Sie arbeiten mit einem Mix aus ideologischer Rechthaberei (sie nennen es schonungslose Aufklärung), Entrüstungsaffekten und Drohkulissen - und ihre mediale Präsenz schafft wirklich „neue Tatsachen“.

Necla Kelek beispielsweise hören in Lesungen hauptsächlich deutsche Mittelschichtsfrauen (ohne Hintergrund; ein neues Wort dafür: biodeutsch im Gegensatz zu migrantisch) zu, die offenbar ihre eigene Emanzipation bedroht sehen: ausgerechnet durch das von ihnen selbst produzierte Klischee der geschundenen, geschlagenen, erniedrigten Frauen, über deren Situation sie alles zu wissen glauben, weil sie die Unfreiheit schon am Kopftuch ablesen können - und mit denen sie darüber hinaus glücklicherweise nichts verbindet. Auf Nachfrage kennen sie keine einzige muslimische Frau persönlich. Wie man sich auch einigermaßen wundern kann, wie viele der in die Jahre gekommene Männer sich in gewohnter Selbstüberschätzung auf einmal verbal-militant für die Rechte eben dieser Frauen einsetzen. Interessant sind im Rückblick - nicht nur - ihre Attacken gegen die deutsche Frauenbewegung und ihre Forderungen, die sexistischen Sprüche, die nur durch noch plumpere sexistische Witze (auch gegen Homosexuelle) getoppt wurden. Das ist etwa dreißig Jahre her, und man kann nur staunen, wie sich das christlich- jüdisch-abendländische Deutschland, das natürlich nur eine Fiktion, fast könnte man sagen eine fromme Lüge ist, in den verschiedenen Blogs und Artikeln erhebt - über ein so genanntes immer noch währendes islamisches Mittelalter, das dennoch nicht so gewalttätig war wie die europäischen Epochen von Kreuzzügen und christlichen Religionskriegen von Mittelalter bis Neuzeit zusammen. Gerne wird auch auf die Deutsche Aufklärung verwiesen, um die kulturelle Überlegenheit zu demonstrieren, die jedoch zwei von Deutschland angezettelte Weltkriege nicht verhindert hat und vor allem nicht die Shoah. Gemeinsam ist ihnen das systematische Ausklammern der eigenen (deutschen, europäischen) Geschichte, ihre Bagatellisierung angesichts schlimmer muslimischer Greuel, um besser mit Projektionen arbeiten zu können. Quellen werden aus dem Zusammenhang gerissen, tatsächliche Missstände zu Untergangsszenarien hochstilisiert. Parallel zu den Hartz IV-Bezieher/innen, die von Oben wie Unten als faul beschrieben werden, die selber Schuld sind an ihrer Misere, gelten ihnen vor allem Muslime allesamt als Integrationsverweigerer. Sie schotten sich freiwillig ab und leben in verdächtigen Parallelgesellschaften, Wiederkehr des Staates im Staat (dieser Vorwurf galt einst den Juden). In Berlin werden nach Aussage des Polizeipräsidiums nur 13,7% aller Gewaltdelikte (Diebstahl, Raub, Körperverletzung, Mord) von Ausländern verübt, trotzdem wird das Schreckbild des kriminellen Ausländers weiter verbreitet. Es wird nicht mit Muslimen gesprochen, sondern über sie. Schwarzer wird nicht müde, den Vergleich zwischen Islam und Nationalsozialismus zu ziehen. Man kann das als verspätete Entlastung interpretieren, ihr Eifer ist wie immer bemerkenswert.

Die meisten Islamkritiker haben allerdings weder Ahnung von der Religion, die sie verdammen, noch kennen sie die Lebenswirklichkeit der Muslime im eigenen Land oder gar in deren ehemaligen Ursprungsländern, sagt der britische Historiker Robert Irwin, der bereits 1963 zum Islam konvertierte und jetzt ein neues Buch vorgelegt hat: Memoirs of a Dervish. Diskussionen wie die in Deutschland gibt es in Großbritannien nicht, das ist quasi - und ironischerweise - das Erbe des Empire, des britischen Kolonialismus. Religionsfreiheit ist ein verbrieftes Recht. Mit ihrer Fokussierung auf den Islam, der schon ein künstlich erzeugtes Konstrukt ist, verschleierten sie lediglich die zunehmenden sozialen Probleme in den westlichen Gesellschaften und die Erfordernisse, die sich aus Migration und notwendiger, gesellschaftlicher Teilhabe ergeben. Fanatiker neigen dazu, Integration von Muslimen als vorüber gehende oder absichtliche Täuschung zu sehen. Ihr Credo: Je angepasster Muslime sind, desto gefährlicher sind sie. Egal, wie sie sich also verhalten, Muslime sind in dieser Deutung immer in der Falle. Vor allem in Deutschland wird die islamische Machtübernahme in Europa bereits herauf beschworen, gegen die mutige Männer und Frauen sich erheben müssten, weil nur sie sich als Einzige der schrecklichen Wahrheit stellen, dagegen vorzugehen aber erste deutsche Bürgerpflicht sei. So theatralisch und machohaft haben zuletzt im Western weiße Siedler gegen die Indianer mobil gemacht. Aber auch wenn man sich in einem falschen Film wähnt: Sie meinen es ernst. Die Islamkritiker/innen lassen sich nicht vom – wie sie es in Umkehrung der Tatsachen nennen - Meinungsterror der Politisch-Korrekten, der unbelehrbaren Gutmenschen (ein Begriff, der ihnen Ekel verursacht) beeinflussen, die in ihrem Widerspruch wahlweise nur dumme Überläufer, naive Schwadroneure, feige Kollaborateure und korrumpierte Opportunisten - oder alles zusammen – sind, und sich in vorauseilendem Gehorsam lieber unterwerfen statt gegen die Bedrohung zu kämpfen. Die Bedrohung übrigens durch islamistische Terrorakte hat niemand bestritten, verharmlost oder klein geredet, nur die Ausdehnung des Terrorbegriffs auf alle Muslime als potentielle Heilige Krieger/innen, der Generalverdacht, die Sippenhaft wird abgelehnt.

Am gleichen Tag, 14.09.2011, veröffentlichten mehrere deutsche Zeitungen, darunter Berliner Zeitung und Frankfurter Rundschau, Recherchen zum dezidiert islamfeindlichen Blog Politically Incorrect, der auf mannigfache Weise mit rechtsextremistischen Gruppierungen und Einzelpersonen verbunden ist, über mehrere Dependancen im Ausland verfügt ( u.a. mit großer Anhängerschaft in Tschechien, wo es nicht um Türken und Araber geht, sondern hauptsächlich um Roma), alle Gegner/innen ihrer Position vorzugsweise als Linksfaschisten bezeichnet und nicht müde wird, nicht nur den Muslimen, sondern auch ihnen mit Gewalt zu drohen. Hier sind die Analogien zur Meinungsmache vor 1933 eklatant. Die Sprache der von Bahners als Panikmacher Kritisierten, ihre Auslassungen zu seinem Buch sind sehr erhellend, ihr durchweg schriller Tonfall gibt ihm noch nachträglich recht.

Beide, Bahners und Irwin, glauben jedoch an die Stärke demokratischer Zivilgesellschaften und an Strategien, mit denen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit bekämpft und soziale Probleme gelöst werden können. Zweifel sind erlaubt.

Bio-Bibliographisches:

Robert Irwin, *1946, Studium Modern History,University of Oxford. Er lehrte Arabische und Nahöstliche Geschichte in London, Cambridge und Oxford sowie Mittelalterliche Geschichte in St. Andrews. Der Historiker veröffentlichte zahlreiche Romane und Studien, in denen er sich mit orientalischer Politik, Kunst und Mystik befasst. In seinem Werk »For Lust of Knowing« kritisiert er die Orientalismus-Theorie Edward Saids. Robert Irwin lebt in London.

Die Welt von Tausendundeiner Nacht, Insel Verlag, Frankfurt-M./Leipzig, 1997 Ü: Wiebke Walther

For Lust of Knowing, The Orientalists and their Enemies, Allen Lane/Penguin, London, 2006

Memoirs of a Dervish, Profile Books, London, 2011

Patrick Bahners, *1967 Paderborn, Geschichte und Philosophie in Bonn und Oxford. Ab 1989 Redakteur im Feuilleton der FAZ, Leitung ab 2001. Lehraufträge: Universitäten Bonn und Frankfurt/M., Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

Im Mantel der Geschichte, Helmut Kohl oder die Unersetzlichkeit, Siedler, München, 1998

Preußische Stile, Ein Staat als Kunststück, Klett-Cotta, Stuttgart, 2001, Hg. mit Gerd Roellecke

Die Panikmacher, Die deutsche Angst vor dem Islam, Eine Streitschrift, Beck Verlag, München, 2011

 

Zwei Sätze: Die Rhetorik der Verachtung wird zum Selbstlob der Erfolgreichen, Etablierten,

Angepassten. Der Muslim ist in diesem Weltbild der Verlierer ... der konstitutionelle Versager, mit dem sich der Sieger nicht verwechseln kann. (Bahnert)

 

Originalzitat: Dass die Hebräer ihr Judentum ablegen und Deutsche werden wollen, glaube ich nicht eher, als bis sie ihre talmudischen Schriften verbrennen und ihre Synagogen niederreißen – zum Zeichen dafür, dass sie nicht länger Jahwe, den Geist der Bosheit und Lüge anzubeten gesonnen sind.

(Theodor Fritsch, publizistisch aktivster Antisemit des Deutschen Kaiserreichs. Für den Spruch aus der Zeitschrift Hammer erhielt er 1910 aufgrund einer Klage des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens eine Woche Gefängnis)


 

 

 

 



Tweet