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Ahoj und gute Reise 

von Volker Strebel

 

Geschweige denn Ostrava - Neue Literatur aus Tschechien


 

Jürgen Krätzel (Hg.): Die Horen. Nr. 245 – Geschweige denn Ostrava. Neue Literatur aus Tschechien, 180 Seiten, Wallstein Verlag, Göttingen 2012, ISBN-13: 9783835310995

 


 

 

 

 

 

 

Bei den Tschechen nimmt die Literatur traditionell einen wichtigen Stellenwert ein. Namen tschechischer Schriftsteller wie Bohumil Hrabal, Ivan Klíma, Pavel Kohout oder Milan Kundera sind in Europa bekannt. Dichterpersönlichkeiten wie zuletzt der 2011 verstorbene Präsident Václav Havel hatten immer auch prägend auf das kulturelle Selbstverständnis des Landes gewirkt.

Umso aufschlussreicher ist das vorliegende Themenheft der Literaturzeitschrift die horen, das sich der neueren tschechischen Literatur widmet. Eva Profousová und Mirko Kraetsch, zwei ausgewiesene Kenner, Mittler und auch Übersetzer tschechischer Literatur, präsentieren in dem Band einen rundum gelungenen Überblick über gegenwärtige Strömungen der tschechischen Literatur. Fünfzehn Autoren bestätigen die außergewöhnliche Vielfalt tschechischer Literatur an Genres und Themen.

Neben den beiden Lyrikern Petr Borkovec und Jaromír Typlt wird der Schwerpunkt auf die Prosa gerichtet. Dabei zeigt sich schnell, dass in Tschechien lebendig erzählt wird: In der schwejkschen Tradition porträtiert Jaroslav Rudiš in seiner Geschichte Alois Nebel: Silvester in Bílý Potok einen kauzigen Eigenbrötler. Nachdem sich Rudiš mit dem Künstler Jaromír 99 zusammengefunden hatte, wurde aus dieser Geschichte ein Comic, und Alois Nebel, der ein wunderliches Leben ganz für die Eisenbahn führt, avancierte zu einer Kultfigur.

„Ich mag es, wenn der Kunst anzusehen ist, wo sie herkommt“ sagt Rudiš über den Künstler-Kollegen Jaromír 99 – und es zeigt sich im Text, dass seine natürliche Souveränität es ihm ermöglicht, mit früheren Tabuthemen wie der Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg vollkommen unverkrampft umzugehen.

Ausdrucksstärke und feine psychologische Beobachtungsgabe finden sich in Jan Balabáns Kurzgeschichten. In Über die Schönheit findet sich ein Ehepaar in einem Tierheim ein, um sich einen Hund auszusuchen. Die Szenerie, die sie vorfinden, ist trostlos und sie schweigen „voller Scham“.

Archetypische Jagdszenen, überlagert von einer Vater-Sohn-Beziehung werden in Marek Šindelkas Geschichte Der Bogen pointiert inszeniert. Petra Hůlová greift in ihrer Erzählung Olga eine aktuelle soziale Problematik in Tschechien auf. Meist illegale Putzfrauen und Haushaltshilfen aus der Ukraine oder Weißrussland werden hier oft unter unwürdigen Bedingungen ausgebeutet.

 

Auch der Blick in andere Welten findet in der neueren tschechischen Literatur seinen Platz. Markéta Pilátová, die selbst einige Jahre in Südamerika gelebt hatte, versteht es dank ihrer Sprachkraft, exotischen Welten und ihren Charakteren ein eindrucksvolles Gepräge zu verleihen. Eher nüchtern, aber nicht weniger eingehend verarbeitet Tomáš Zmeškál in Kinshasa eine Reise nach Afrika. Als er zum ersten Mal den Kongo sah, notierte er: „Der breiteste Fluss, den ich bisher gesehen hatte, war der Rhein. Dieser hier ähnelte eher einem strömenden Meer“.

Die vorliegende Zusammenstellung überzeugt nicht nur in ihrer einfühlsamen Komposition neuerer literarischer Stimmen. Es werden auch zum Teil farbige Abbildungen von fünfzehn Zeichnern, Malern und bildenden Künstlern präsentiert, die in kurzen, persönlichen Stellungnahmen von den Schriftstellern vorgestellt werden. Dies ist nicht nur eine solidarische Geste unter Kunstschaffenden, sondern belegt eine Tradition in den tschechischen Ländern Böhmen, Mähren und Schlesien, künstlerisch über den Tellerrand hinaus zu blicken. 

In seinen von dem schwedischen Slavisten Bengt Jangfeldt aufgezeichneten Gesprächen Meine futuristischen Jahre betonte der russische Literaturwissenschaftler Roman Jakobson, der in den 1920er-Jahren in Prag gelegt hatte, wie wichtig ihm der Kontakt zwischen den Schriftstellern und den bildenden Künstlern in den Jahren der Avantgarde gewesen war: „In unserer ganzen Generation hat es eine extrem enge Verbindung zwischen der Poesie und den Bildenden Künsten gegeben. Da war die Frage der einander ausgesprochen ähnlichen Grundelemente, die in der Poesie die Zeit und in der Malerei den Raum ausfüllen, dann die Frage aller möglichen Zwischenformen, der unterschiedlichsten Formen der Collage. Dieser Übergang von der Linearität zur Gleichzeitigkeit faszinierte mich sehr“.

Die vorliegende kluge Zusammenstellung belegt die ungebrochene Aktualität dieser lebendigen Spannung eindrucksvoll und dokumentiert ein künstlerisch differenziertes und hohes Niveau in Tschechien. Ein abschließendes Gespräch mit Zuzana Jürgens, der Direktorin des Tschechischen Zentrums in München, gibt kompetente Auskünfte über spezifische Hintergründe der aktuellen tschechischen Literaturszene, sowie Einblicke in deutsch-tschechische Befindlichkeiten.


 

 

 

© Text: mit freundlicher Genehmigung des Autors; Erstveröffentlichung:  www.literaturkritik.de; Bilder: www.pure-beauty.cz ( im Band vorgestellt von Marek Šindelka und als sehr interessante, vielseitig talentierte Künstlerin eine Entdeckung!)

 

 

 

 

 

 



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