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Andrej Kurkow - Vertrauen und glauben

Aus dem Russischen von Steffen Beilich


Teil 1 – Familiäres

Ich habe einige dumme Angewohnheiten – und keinerlei Verlangen, dagegen anzugehen.

Zum Beispiel sammle ich von Zeit zu Zeit – meist, nachdem mich meine Frau wieder einmal darum gebeten hat – meine Papiere, Manuskripte und Briefe von den Fensterbrettern und Tischen in unserer Wohnung ein, werfe alles in eine Plastiktüte und schaffe es in mein Arbeitszimmer, meine kleine Einzimmerwohnung, wo ich gewöhnlich arbeite. Dort lege ich es auf dem Fußboden ab und verspreche mir hoch und heilig, diese ganzen Papiere in den nächsten Tagen auseinanderzuklamüsern, zu sortieren und zu entscheiden, was weggeworfen werden kann und was archiviert werden muss. Dann vergeht eine Zeit, und zu der vorangegangenen Tüte mit Papieren gesellt sich die nächste hinzu. Mir wird klar, dass sich die Papiere ohnehin nicht so schnell sortieren lassen, also beschließe ich, die Aufbewahrungsmethode zu optimieren – und lege all diese Notizen und Manuskripte in Pappkartons. In Kartons lässt sich diese ganze Papierwelt leichter einstampfen und vernünftig ablagern. In einen Pappkarton passen zuweilen bis zu vier Tüten mit Papier! Nach einer gewissen Zeit schaffe ich die Kartons dann in unser Haus auf dem Lande, achtzig Kilometer von Kiew entfernt, und bringe sie in mein kleines Arbeitszimmer, in dem ich schon längst nicht mehr arbeite, weil es mit unsortierten Archivalien und anderen Dingen vollgestopft ist. Und so leben diese Papiere ihr Leben weiter, ohne zu wissen, was sie erwartet. Manchmal machen sich meine Kinder an den Kartons zu schaffen und schauen sich Postkarten und Fotos an, Visitenkarten von Menschen, denen ich in den verschiedensten Ecken der Welt begegnet bin, Badges von Literaturfestivals und politischen Konferenzen und sonstige Belege meiner Existenz und meiner Bewegungen durch die Welt.

Bisweilen denke ich, dass ich mir das Sortieren meiner eigenen Papiere einfach nicht anvertrauen kann, weil ich mich irren und etwas Wichtiges wegwerfen und dafür etwas Entbehrliches behalten könnte. Doch diese Gedanken sind lediglich der Versuch einer Rechtfertigung. Würden all diese Archivalien verbrennen – ich nähme es wahrscheinlich nicht allzu schwer. Warum? Weil die Zeit richtet, was wichtig ist und was nicht. Die Zeit behält, was Zeugnis eben dieser Zeit ist. Und der Zeit, also dem höchsten abstrakten Richter, vertraue ich ohne Vorbehalt. Viele Slawen glauben ohne Vorbehalt an das Schicksal, die Fügung, das Fatum. Deshalb ist es in Westeuropa in den letzten Jahrhunderten üblich geworden, die Russen für Fatalisten zu halten. Sie tun nichts, um dem Schicksal zu entkommen. Die Revolution von 1917, der Gulag und Stalin, Putin und die Besetzung der Krim – für die Russen ist das Schicksal. Dem man nicht entrinnen kann, glauben sie.

Also tun sie es auch nicht. „Wenn sich eine Vergewaltigung nicht vermeiden lässt, sollte man sich entspannen und versuchen, es zu genießen.“ So geht ein beliebter russischer Witz, an dem überhaupt nichts Lustiges ist. Ich bin Russe meiner Herkunft nach, aber Ukrainer nach der Mentalität und den politischen Sympathien. Im Unterschied zu den echten Russen aus Russland oder anderen Bewohnern dieses Landes brauche ich keinen Zaren, und auch die Fügung, das Fatum ist mir nicht so wichtig. Ich vertraue meinen eigenen Ansichten und Zweifeln, aber am liebsten vertraue ich meinen Kindern. Besonders dann, wenn dieses Vertrauen gerechtfertigt ist.

So, wie ich alle Oberflächen unserer Wohnung mit verschiedenen Papieren belege, schüttele ich, wenn ich nach Hause komme, das Kleingeld und kleinere Geldscheine aus meinen Taschen und lasse sie auf dem Tisch im Wohnzimmer zurück. Manchmal kommt mein jüngster Sohn Anton zu mir und bittet um Geld für ein Eis. „Nimm dir was vom Tisch!“ sage ich ihm. Er geht hin und nimmt es sich. Er hatte das Geld schon gesehen, doch von sich aus, ohne meine Erlaubnis, würde er es sich niemals nehmen. Ich vertraue meinen Kindern mit Freuden. Sie vertrauen mir „automatisch“, a priori, als einem, der älter ist als sie, und als ihrem Vater. Auch ich muss ihr Vertrauen rechtfertigen.

Damit so etwas wie Vertrauen überhaupt existieren kann, bedarf es zweier Seiten: derjenigen, der man vertraut, und der, die das Vertrauen entgegenbringt. Zum Beispiel: Staatsmacht und Volk, Arzt und Patient, Fahrer und Passagier. Tatsächlich aber muss das Vertrauen beiderseitig, gegenseitig sein, sonst wird das nichts. Ein Fahrer, der dem Passagier nicht vertraut, der denkt, dass der Passagier eigentlich gar kein Passagier ist, sondern in Wahrheit sein Auto stehlen will, wird diesen Passagier nirgendwohin bringen.


Teil 2 – Familiäres

Gestern, am Freitag, dem 11. Juli, fuhren wir mit der ganzen Familie zu meinen Eltern und gratulierten meiner Mutter zu ihrem 83. Geburtstag. Außer uns saßen auch Vaters Schwester Galja und mein Bruder Mischa mit seiner Frau Larissa in aller Zurückhaltung an der Familientafel. Wir tranken Cognac auf die nächsten zwölf Lebensjahre, auf die Gesundheit des Geburtstagskindes. Wir tranken langsam. Unterhielten uns mehr. Irgendwann holte Mama ein Schwarzweißfoto ihres Vaters – meines Großvaters – Alexej Iwanowitsch. Auf der Rückseite des leicht eingerissenen Fotos stand in seiner Schrift: „Für Tassja, Borja, Raissa und Wolodjka. Papa, 1942.“ Ein Jahr später war er tot – gefallen in der Schlacht bei Charkiw. Unsere Tochter Gabriela besah sich lange Großvaters Bild, dann suchte sie nach Ähnlichkeiten zwischen seinem Gesicht und dem ihres jüngeren Bruders Theo. Anschließend fragte sie lange ihre Großmutter darüber aus, wie es früher gewesen war. Jedes Mal wenn wir uns treffen, finden solche Gespräche statt. Schon mehrere Male erzählte die Oma, wie sie, nachdem der Ausbruch des Krieges verkündet worden war, zusammen mit anderen Kindern aus einem Pionierlager in einem Boot ans andere Ufer des breiten Wolchow-Flusses gebracht wurden, anschließend die Evakuierung nach Sibirien, die über zehn Tage dauerte, unter Bombardements. Ich habe diese Erinnerungen schon oft gehört. Und jedes Mal darüber nachgedacht, worin der Unterschied zwischen den Erinnerungen eines Schriftstellers und Künstlers und denen eines ganz normalen Menschen besteht. Wenn ich an bestimmte Momente aus der Vergangenheit zurückdenke, versuche ich, mich in Einzelheiten daran zu erinnern, und jedes Mal habe ich das Verlangen, das Abbild der Vergangenheit zu „erweitern“. Ich vertraue meinem Gedächtnis, aber manchmal helfe ich ihm auf die Sprünge, versuche, was aus dem Bild oder dem Ereignis herausgefallen ist, wiederherzustellen. Meine Mutter vertraut ihrem Gedächtnis offensichtlich ebenso, aber anders. Sie hat das „Bild“ visuell und in Worten fixiert und es in einer starren Form abgespeichert. Wessen Gedächtnis schafft mehr Vertrauen? Das eines einfachen, normalen Menschen oder das eines „Künstlers“? Nein, ich werde nicht versuchen, diese Frage zu beantworten, obgleich die Antwort für mich eindeutig ist. Ich habe oft gehört, dass sich Menschen mit zunehmendem Alter immer mehr und immer besser an Ereignisse längst vergangener Tage erinnern. Auf diesen Augenblick warte ich noch.Noch ist er nicht gekommen, dieser Moment, doch manchmal gelingt es mir, dem Gedächtnis irgendein Ereignis aus der Kindheit zu entlocken und „damit herumzuspielen“, als wäre es eine Szene aus einem Film, der erst noch gedreht werden muss. All das erscheint real, lebenswahr, die Helden sind echt, mit Biografien und Namen. Ich hege keine Zweifel am Wahrheitsgehalt meiner Erinnerungen, ich vertraue meinem Gedächtnis, bin aber auch auf Überraschungen gefasst und warte auf den Moment, wenn die Erinnerung schärfer wird, was, wie man hört, den Anbruch des Lebensabends bedeutet. Alten Menschen vertraut man übrigens viel mehr als jungen. Man hört ihnen, als Zeugen der Geschichte, aufmerksam zu. Alte Menschen, die die Stalin-Ära erlebt haben, sind ein Beweis für Stalins Existenz. Man lauscht ihnen, bass erstaunt.


Über Politik

In der Ukraine vertraut man Politikern von vornherein nicht. Ein normaler, ehrlicher Mensch, so die gängige Meinung, geht nicht in die Politik. Und wenn er aus lauter Naivität doch geht, sind andere, erfahrenere Politiker sofort zur Stelle, um ihn zu dem zu machen, was sie selber sind: einem korrupten, verlogenen Populisten – damit er sich nur nicht abhebt.

Am 4. August hob der neue ukrainische Präsident Petro Poroschenko, den auch ich gewählt habe, eine Vielzahl von Erlassen seiner Vorgänger auf. Erlasse mit dem Vermerk „Für den Dienstgebrauch“, die damit praktisch geheim und unbekannt waren. In manchen tauchte nur ein einziger Name auf, der Name dessen, den der Erlass betraf, in anderen Erlassen fanden sich viele Namen. All diese Namen gehören bekannten Vertretern der ukrainischen Politik, darunter auch Wolodymyr Lytwyn, der ehemalige Parlamentspräsident, und der ehemalige Präsident Wiktor Juschtschenko. Im Grunde legte jeder dieser Erlasse den Anspruch des Einzelnen auf staatliche Unterhaltsleistungen fest. So etwa stand in dem Erlass über die Vergünstigungen und Privilegien zugunsten von Wolodymyr Lytwyn, dass dem ehemaligen Parlamentspräsidenten lebenslang staatliche Bezüge sowie der Unterhalt seiner Leibwache, seiner persönlichen Mitarbeiter, seiner Villa – die ebenfalls dem Staat gehört –, seiner Autos, Chauffeure usw. garantiert werden. Zudem sind dort auch die Ermäßigungen aufgeführt, die er bei der Begleichung der Wasser-, Gas- und Stromrechnungen für seine privaten Häusern und Wohnungen in Anspruch nehmen darf.

Ich weiß nicht, ob die neue ukrainische Staatsführung diese Erlasse auch öffentlich gemacht hätte, wenn nicht Krieg wäre, wenn sich das Land nicht in einer schweren Wirtschaftskrise befände.Doch der Krieg nötigt den Politikern, die in einer Stress-Situation sind, mutigere Entscheidungen ab. Diese jüngsten Entscheidungen von Präsident Petro Poroschenko haben mein Vertrauen in ihn gestärkt. Und ich will mir gar nicht die Frage stellen, ob das alte System der politischen und wirtschaftlichen Korruption wiederhergestellt wird, wenn erst Frieden und Stabilität im Land eingekehrt sind! Ich will mir diese Frage nicht stellen, komme aber auch nicht umhin, darüber nachzudenken. Die Tausenden von Freiwilligen aus der gesamten Ukraine, die ins Donbass aufgebrochen und in den Krieg gegen die Terroristen gezogen sind – das sind Menschen, die an eine zivilisiertere Zukunft meines Landes glauben. Sie glauben auch einem Präsidenten, der gleichzeitig, aufgrund der Verfassung, Oberkommandierender der ukrainischen Armee ist. Sie kommen um oder landen verwundet im Lazarett, oder sie verschwinden spurlos, festgesetzt und ermordet von den Separatisten.

Mit jedem Tropfen ihres Blutes erhöhen sie den Druck des Gewissens auf die ratio der Politiker von heute. Gewissen ist, wenn ein moralisch richtiger Gedanke dem amoralischen Tun eines Menschen Einhalt gebietet. In jedem Land gibt es Menschen, die als Gewissen der Nation gelten. In jedem Land sind das nur wenige. In der Ukraine sind es wahrscheinlich noch weniger. Und ihre Namen kennt nur, wer selbst ein Gewissen hat. In der Sowjetunion war Andrej Sacharow das „Gewissen der Nation“. Als er, zu Gorbatschows Zeiten, ans Rednerpult des Obersten Sowjets trat, um abermals darüber zu sprechen, was die Sowjetunion moralisch gesehen falsch macht, begann praktisch der ganze Saal, begannen all die Hunderten von Abgeordneten des Obersten Sowjets der UdSSR zu lachen und laut zu klatschen, um Sacharow nicht sprechen zu lassen. Unlängst verstarb eine der ältesten Mitstreiterinnen von Andrej Sacharow, Walerija Nowodworskaja, die bis zu ihren letzten Stunden Putin immer wieder dazu aufgerufen hatte, die Aggression gegen die Ukraine einzustellen. Russland, das Russland mit dem Gewissen, schwieg dazu. Und vor dem Hintergrund dieser Stille konnte die Welt die Detonationen der Minen und Granaten im Donbass noch besser hören. Die aktiven Politiker Russlands, also die, die in der Staatsduma sitzen, in deren verschiedenen Ausschüssen oder in der Regierung, sie alle haben ihr Schicksal Putin anvertraut. Ihr Schicksal ist ein materieller Begriff. Es gefällt ihnen, dass Putin überall auf der Welt Angst verbreitet, dass er gefürchtet ist. Sie wollen auch so sein, dass man vor ihnen Angst hat, sich fürchtet. Sie sind stolz darauf, dass die allermeisten Bürger Russlands Putin unterstützen und mithin auch sie und das existierende System der „totalitären Wahlmonarchie“ unterstützen. Die Liebe der Russen zum Zaren hat Geschichte. Nicht von ungefähr sagt man in Russland von jeher über jemanden, der dumm oder psychisch krank ist: „Ihm fehlt der Zar im Kopf.“ Putin ist stärker als das Gewissen. Er trifft jede Entscheidung und nimmt damit auch persönlich die Schuld für deren Gewissenlosigkeit auf sich. Entbindet das Russland von der eigenen Schuld? Ich glaube nicht. Wenn ein Land gewissenlos wird, beginnen die Reisenden es zu meiden. Die „Kulturreisenden“ beginnen, der Bekanntschaft mit der Kultur eines solchen Landes aus dem Wege zu gehen. Sie vertrauen den Schöpfern einer „gewissenlosen“ Kultur schlichtweg nicht, weil solche Schöpfer lediglich humanitäre Nebelwände für die Welt und propagandistische humanitäre „Nebel" für die eigenen Verbraucher schaffen. Vielleicht ist ja deshalb mein Vertrauen gegenüber der russischen Literatur bis auf das letzte, das tiefste Maß gesunken. Gewissen der Nation ist für Russland nach wie vor Fjodor Dostojewski, der vor langer Zeit und auf Jahrhunderte im Voraus die Nöte und Qualen der denkenden Russen beschrieben hat. Unter den Lebenden gibt es ohnehin nicht allzu viele russische Schriftsteller, die für Russland und sein Gewissen „brennen“. Die wenigen sind außerhalb Russlands alle bekannt, und ein jeder von ihnen wird in der Heimat zum Objekt des „Volkshasses“.

Um meine Gefühle wieder in Ordnung zu bringen, um zum positiven Denken zurückzukehren, schalte ich meine Aufmerksamkeit auf mein eigenes unglückseliges Land um, auf seine und meine Probleme. Ja, der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist auch mein ganz persönliches Problem, wie auch die russische Okkupation der Krim. Es ist das Problem eines jeden Bürgers der Ukraine, ein Problem der ukrainischen Gesellschaft. Und doch kann die Gesellschaft, die durch die militärische Aggression Russlands konsolidiert wurde, nicht amorph, nicht selbstzufrieden und passiv sein. Inzwischen kann Ihnen fast jeder Bauer im hintersten Winkel sagen, wem er in der ukrainischen Regierung vertraut und wem nicht. Er kann Ihnen sagen, ob er Angela Merkel, Barack Obama und François Hollande vertraut. Er kann auch noch ein weiteres Dutzend Namen von Personen nennen, die auf die eine oder andere Weise mit dem Schicksal der Ukraine verstrickt sind. Politisches Vertrauen heißt, einer Hoffnung Ausdruck zu geben, der Hoffnung auf Veränderungen zum Besseren oder einfach nur der Hoffnung auf Errettung.


Teil 3 – Familiäres

Im Frühjahr 1988 reiste ich mit vier Zügen und einer Fähre von Kiew, der Hauptstadt der sowjetischen Ukraine, nach London, die Hauptstadt des kapitalistischen Großbritannien. Und sogar noch weiter in das Dorf Hersham, das mit der Bahn eine halbe Stunde Fahrzeit von der Waterloo Station und zehn Kilometer vom weltbekannten Wimbledon mit seinem Tennisturnier entfernt liegt. Das war meine erste echte Auslandsreise. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt und unterwegs zu meiner eigenen Trauung.

Meine zukünftige Schwiegermutter, eine echte Engländerin voller religiöser und anderer Prinzipien, empfing mich würdevoll. „Denk nur nicht, dass, wenn du gekommen bist, du meine Tochter auch heiraten musst. Du kannst drei Monate bei uns zu Gast sein und wieder nach Hause fahren!“ sagte sie gleich am ersten Tag.

Nein, gegen mich persönlich hatte sie nichts. Doch sie vertraute den Klischees, die es gegenüber sowjetischen Menschen gab. Ich war einer jener sowjetischen Menschen, folglich entsprach das Bild, das ich abgab, diesen verschieden Klischees. Das erste Klischee lautete: „Sowjetische Männer und Frauen heiraten Ausländer, um aus der Sowjetunion auszureisen.“ Das nächste Klischee, das „auf mich angewandt“ wurde, hatte mit der Überzeugung zu tun, dass jeder Sowjetbürger, der ins Ausland und zumal ins kapitalistische Ausland ausreisen darf, KGB-Agent sei. Das dritte Klischee war das harmloseste und eher universell: dass alle sowjetischen Menschen trinken und Wodka mögen. Die Eigenschaften, die mir die „Kenner“ des Homo Sovieticus zugewiesen hatten, ermunterten die Mutter meiner Braut nicht gerade dazu, meine rechtmäßige Schwiegermutter, meine „mother-in-law“, zu werden.

Die meisten Verwandten meiner Braut sahen mich genauso wie ihre Mutter. Alle lächelten mir freundlich zu, unterhielten sich mit mir, doch hinter meinem Rücken sagten sie meiner künftigen Frau jeden Tag: „Er passt nicht zu dir. Mach keine Dummheiten!“ In dieser Situationen fielen mir ganz von allein all die Klischees wieder ein, die mit Engländern zu tun hatten und die es in der UdSSR gab, zum Teil dank der englischen Literatur, zum Teil aber auch wegen der sowjetischen Propaganda. Und so legte ich mir in meinem Bewusstsein ein selektives Bild davon zurecht, wie ein Untertan Ihrer Majestät aussieht, ein Bild, das mir half, dem psychologischen Stress standzuhalten: das falsche, unaufrichtige Lächeln, die Kälte in den Beziehungen, die Prüderie, der Wunsch, den Gesprächspartner immer auf Abstand zu halten, der hin und wieder in Gesprächen und im Auftreten spürbare nationale Dünkel gegenüber einem Ausländer „zweiter Klasse“. Die Hochzeit fand dennoch statt. Die Verwandten hatten verstanden, dass ich den üblichen Klischees eines „sowjetischen Menschen“ nicht entsprach. Von der Weltkarte verschwand die Sowjetunion. An deren Stelle entstanden fünfzehn neue Staaten. Und meine Frau und ich waren nun Bewohner eines dieser Länder – der Ukraine. Anfang der neunziger Jahre beschlossen wir, meine Eltern, die bis dahin noch nie in Westeuropa gewesen waren, nach England zu bringen. Meine Schwiegermutter bereitete den Gästen einen guten Empfang und servierte Unmengen Tee. Meine Eltern, wurde festgelegt, sollten im Gästezimmer im Erdgeschoss schlafen. Alle anderen schliefen in der ersten Etage. Gegen sieben Uhr früh weckte mich die Stimme meiner Mutter, die von unten zu hören war. Sie rief mich. Ich ging nach unten, wo mich ein komischer Anblick erwartete: Meine Eltern lagen immer noch auf der Couch, unter einer Decke, und vor ihnen stand, im Morgenmantel und Pantoffeln an den nackten Füßen, meine Schwiegermutter und hielt ein Tablett mit zwei Gläschen Wodka darauf in den Händen.

„Was möchte sie?“, fragte meine Mutter, besorgt und immer noch schlaftrunken. Meine Eltern sprachen kein Englisch. Ich frage meine Schwiegermutter, warum sie zu so früher Stunde zu meinen Eltern nach unten gegangen war.

„Ich habe extra ein Buch über die Russen gekauft und habe es extra vor der Ankunft deiner Eltern gelesen. Dort steht, dass die Russen vor dem Frühstück Wodka trinken“, erklärte sie. Ich übersetzte meinen entgeisterten Eltern die Erklärung. Meine Mutter lachte laut los. Mein Vater, der überhaupt keinen Alkohol trinkt, wurde nachdenklich.

„Vielleicht sollten wir etwas trinken?“ fragte er leise. „Sonst ist es ja doch irgendwie unangenehm. Sie ist extra so früh aufgestanden, um uns vor dem Frühstück mit Wodka zu bewirten ...“

Es endete damit, dass sowohl meine Mutter als auch mein Vater je ein Gläschen Wodka tranken. „Um die Dame des Hauses nicht zu kränken.“ Meine Schwiegermutter ging zufrieden in ihr Zimmer zurück, wohl nicht ohne sich noch ein weiteres Mal zu rühmen, dass sie sich so gut auf den Besuch der russischen Gäste vorbereitet und ein so nützliches Buch gelesen hatte.

Mit den Jahren können sich Klischees ändern und ziemlich oft sind es Schriftsteller, die dazu beitragen. Dank Marina Lewyckas Bestseller Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch glaubt man inzwischen in England, dass gerade die Ukrainerinnen es sind, die zum Heiraten ins Vereinigte Königreich kommen und dann dort bleiben. An die Sowjetbürger denkt in England schon niemand mehr – sie sind bereits Geschichte.

Ich selbst habe in den sechsundzwanzig Jahren, in denen ich mit Engländern zu hatte, all die Klischees vergessen, von denen ich mich noch während meines ersten Besuchs Großbritannien in meinen Beziehungen zu den Engländern „lenken“ ließ. Jeder interessante Mensch ist individuell verschieden, unabhängig von den Klischees, mit denen „gut meinende Menschen“ sein Volk versehen haben. Klischees zu vertrauen ist gefährlich. Natürlicher und richtiger ist es, seiner persönlichen Wahrnehmung, den eigenen Eindrücken und Intuitionen zu vertrauen.

„Du bist ja, wie sich herausgestellt hat, doch gar nicht so schlimm“, sagte mir meine Schwiegermutter irgendwann ein paar Jahre nach der Hochzeit.

Sie hätte das auch früher sagen können, aber damit sich Vertrauen bilden und festigen kann, braucht es Zeit.


Kulinarisches und andere Dinge

Englische Lammfleisch-Konsumenten vertrauen Neuseeland. Das weiß ich genau, weil ich in den Tiefkühl-Abteilungen meist neuseeländisches Lamm- und Hammelfleisch sehe. Ich nehme mir selbst auch ein Beispiel an den Briten und kaufe es ab und an. Ich kaufe es, weil ich den Briten vertraue, die wiederum den Neuseeländern vertrauen. Das heißt, dass sich dieses Lammfleisch durch doppeltes Vertrauen bewährt hat und unbedenklich ist. Zu englischem Weißbrot hingegen, das bereits geschnitten und in Plastiktüten verkauft wird, habe ich schon lange kein Vertrauen. Seit Ende der Achtziger. Jedes Mal, wenn ich es essen musste, passierte etwas Seltsames in meinem Mund und das Brot klebte an meinem Gaumen fest. Doch viele meiner englischen Freunde aßen genau dieses Brot, das billigste, das in den Supermärkten im Angebot ist. Ob ich meinem Geschmack vertraue? Darüber mache ich mir irgendwie keine Gedanken.

Der Geschmack beim Essen ist eine Frage sowohl der Gewohnheit als auch der Erfahrung und der Traditionen in der Familie. Meine Kinder vertrauen normalerweise meinem kulinarischen Geschmack, das heißt, sie glauben gewissermaßen von vornherein, dass das Essen, was ich zubereitet habe, schon schmecken wird. Sie mögen meinem Geschmack beim Essen vertrauen, meinem Geschmack bei Kleidung und Filmen vertrauen müssen sie nicht.

Was mich vor etwa fünf Jahren überraschte, war, wie schnell sie meine musikalischen Vorlieben übernahmen und anfingen, die Musik meiner Jugend zu hören: The Beatles, Deep Purple, Slade. Wir sind alle verschieden, aber um einander besser zu verstehen, suchen wir nach dem, was uns verbindet, was beiden Seiten gefällt.

Einem Künstlerfreund von mir gefielen die Proteste im Winter auf dem Majdan in Kiew ganz und gar nicht, er mochte die Barrikaden und brennenden Reifen nicht. „Sie haben Kiew zugesaut!“, regte er sich jedes Mal auf, wenn wir uns zusammensetzten, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Olexandr Mylowsorow – so heißt mein langjähriger Künstlerfreund – fasst das Leben von jeher als eine ästhetische Harmonie auf. In diese Harmonie war die zerstörerische Energie der Proteste hereingebrochen, und nun gibt es im Zentrum von Kiew seit einem halben Jahr schon keine Harmonie mehr. Weder in der Architektur noch in der Gesellschaft. Es gibt eine Spannung, denn dort, wo die Harmonie zerschlagen wird, entsteht Schmerz. Den als erste diejenigen zu spüren bekommen, die ihre Welt und ihren Platz in der gemeinsamen Welt als eine Art ästhetische Konstante behüten, als etwas von der Geburt bis zum Tod Unverrückbares.

Ich kann nicht sagen, dass ich Barrikaden und den Rauch brennender Reifen mag, oder dass es mir gefällt, wenn mehrere Notarztwagen mit Blaulicht und Sirenen gleichzeitig auf der Straße an mir vorbeirasen. Nein, ich mag Geschichte, wenn sie vorhersehbar ist, die uns wie ein Buch erlaubt, gemächlich von einer Seite unseres Lebens auf die andere zu wechseln. Ich mag das Leben, das man wie ein Buch lesen kann, in dem sich alle Handlungsstränge der Reihe nach, logisch und ruhig entfalten.

Wer starke Reize mag, für den gibt es Kino-Thriller und Horrorfilme. Horrorfilme sind allerdings nicht nach meinem Geschmack. Ich habe mir im Kino noch keinen einzigen angesehen. Mir genügte es, Anfang der 1980er Jahre den damals noch verbotenen Archipel Gulag von Alexander Solschenizyn zu lesen – danach hat man für jegliche Horrorfilme allenfalls noch ein müdes Lächeln übrig. Warum hat Hollywood bis heute keinen Blockbuster, keinen Film über den realen Horror aus Solschenizyns Buch gedreht?! Weil die amerikanischen Filmgesellschaften wissen: Der Massenzuschauer dort interessiert sich nicht für den tatsächlichen Horror der Geschichte. Doch auch wenn sie in Hollywood so einen Film machen würden – ich würde ihn mir kaum ansehen. Ich habe kein Vertrauen zu den Meistern des Films aus Hollywood. Ich würde mich hier lieber einem russischen Regisseur anvertrauen, wenn er den „Archipelag Gulag“ verfilmt hätte. Aber in Russland wird diesen Film auch keiner drehen, weil er der politischen Rehabilitierung Jossif Stalins hinderlich sein könnte, den Wladimir Putin so sehr mag und schätzt. Schließlich sind inzwischen neue Stalin-Biografien erschienen, in denen er als begabter Krisenmanager dargestellt wird, der das Land – die Sowjetunion – in sehr schweren Zeiten gerettet hat.

Ich kann mir vorstellen, wie in nicht allzu ferner Zukunft, vielleicht sogar noch zu Lebzeiten Putins eine neue Biografie des jetzigen russischen Präsidenten erscheint, in der dieser als begabter Krisenmanager beschrieben wird, der Russland in schweren Zeiten vor der feindseligen und sanktionsbissigen Welt, vor dem bösen Europa und dem imperialistischen Amerika, vor der „faschistischen“ Ukraine und dem „nazistischen“ Moldawien gerettet hat. Womöglich wird dieses Buch ja bereits geschrieben. Obwohl über Putin schon so viele Bücher geschrieben wurden!

Je länger ich lebe, desto weniger vertraue ich der Geschichte. Besonders der neuesten Geschichte. Die Geschichte der griechischen Antike ruft hingegen keine Widersprüche, keine Ablehnung in mir hervor.

Der Horror der heutigen Zeit wird ebenfalls in die Geschichtsbücher Eingang finden, und zwar sehr schnell. Buchstäblich ab dem 1. September. Und man kann sich unschwer vorstellen, was über die Ereignisse auf der Krim und im Donbass in russischen und was in ukrainischen Lehrbüchern stehen wird. Ich werde meine Zeit nicht damit vergeuden, die beiden neuen Geschichtslehrbücher ausfindig zu machen und zu vergleichen. Meine persönliche Erfahrung sagt mir schon jetzt, was in diesen Büchern steht und wie darüber geschrieben wird. Meiner persönlichen Erfahrung vertraue ich mehr als den Autoren dieser Lehrbücher und den Autoren des aktuellen ukrainischen Dramas.


Es ist Herbst geworden. Die Weizenernte ist eingebracht. Die Bauern graben ihre Kartoffeln aus, schaffen Kisten mit Winteräpfeln in ihre Keller, behalten die Weintrauben im Blick und fragen sich, wie viel Zeit man ihnen in der Herbstsonne noch gönnen sollte.

Das geschieht nicht nur in der Ukraine oder in Russland, sondern auch sonst überall. In Polen, Deutschland oder Italien. Die Welt ist dem gewohnten Zyklus des Lebens unterworfen. Wenn die Zeit der Ernte kommt, bringen die Menschen die Ernte ein. Kommt die Zeit der Geburt, wird ein Mensch geboren.

Ich vertraue der Zeit, der Natur, dem natürlichen Kreislauf der Dinge. Wenn ich hungrig bin, vertraue ich meinem Hungergefühl und gehe in die Küche, um mir etwas zu essen zuzubereiten. Aus irgendeinem Grund mache ich, wenn ich allein zu Hause bin, immer zu viel für einen. Es kommen jedes Mal mindestens drei Portionen dabei heraus! Und dann überlege ich, wen ich mir zum Essen einladen könnte.


© Andrej Kurkow für das ilb 2014; www.literaturfestival.com/programm/kulturen-des-vertrauens/



 

Andrej Kurkow, *1961 in Budugoschtsch in der Nähe von Leningrad (heute: Sankt Petersburg). Seit seiner frühen Kindheit lebt er in Kiew, seine Muttersprache ist Russisch. 1983 schloss er sein Studium am Kiewer Staatlichen Pädagogischen Fremdspracheninstitut ab – Kurkow beherrscht sieben Sprachen – und ging danach verschiedenen Tätigkeiten nach. Bereits als Schüler hatte er angefangen zu schreiben. Bis heute verfasste er zahlreiche Romane und fünf Kinderbücher, darüber hinaus schrieb er Drehbücher für über zwanzig Spiel- und Dokumentarfilme und arbeitete in dieser Funktion auch für das Staatliche Filmstudio A. Dovženko in Kiew. Durch das Prisma seiner surreal und satirisch überhöhten Prosa wirft Kurkow einen zeitdiagnostisch präzisen, bisweilen sogar prophetischen Blick auf die Verhältnisse in seiner postsowjetischen Heimat. Sein literarisches Werk ist in über dreißig Sprachen übersetzt. Er veröffentlichte Artikel in vielen europäischen und anglo-amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften. Zu seinen Auszeichnungen zählen der in Rom verlieheneNikolai-Gogol-Preis (2012) sowie der Publikumspreis des Europäischen Literaturfestivals in Cognac. Andrej Kurkow lebt in Kiew.

 


Werke (Auswahl)

Picknick auf dem Eis Diogenes, Zürich, 1999 [Ü: Christa Vogel]
Die letzte Liebe des Präsidenten, Diogenes. Zürich, 2007 [Ü: Sabine Grebing]
Der Milchmann in der Nacht, Diogenes,Zürich, 2009 [Ü: Sabine Grebing]
Der wahrhaftige Volkskontrolleur, Haymon, Innsbruck, 2011 [Ü: Kerstin Monschein]
Der Gärtner von Otschakow, Diogenes, Zürich, 2012 [Ü: Sabine Grebing]
Der unbeugsame Papagei, Haymon, Innsbruck, 2013 [Ü: Sabine Grebing]
Ukrainisches Tagebuch, Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests, Haymon. Innsbruck, 2014 [Ü: Steffen Beilich]


2IX14

 



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