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das internationale literaturfestival berlin
09. - 19.09.2015
Lidija Dimkovska
Asylanten
Unter der Erde befindet sich das größte Asylantenheim.
Dort sind die Selbstmörder untergebracht, Emigranten ins Jenseits,
nicht akzeptiert, unterdrückt und gequält im Diesseits.
Das unterirdische Asylantenheim bietet Bewegungsfreiheit
von der Peripherie ins Zentrum und wieder zurück,
drei Mahlzeiten am Tag und täglich einen Passierschein für den Spaziergang.
Die Asylanten tragen Anhänger mit Nummern an ihren Armbändern.
Aber sieh da, die gewöhnlichen Toten treten in den Hungerstreik
gegen die Überzahl von Selbstmördern um sie herum.
Sie wollen keine Asylanten in der Nähe ihrer adretten Häuser,
sie wollen keine herumliegenden Schlingen, keine leeren Medikamentenfläschchen,
keine gebrochenen Knochen vom Sturz und keine aufgeblähten Bäuche vom Ertrinken,
in ihren grünen Gärten stellen sie Kreuze statt Vogelscheuchen auf
gegen jene, die ohne Gottes Zutun gestorben sind. Die Asylanten
sind verwirrt und wütend, mit einem Bein hier, das andere will ständig zurück.
Die einen haben vergessen, einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, andere, ihre Tochter zu küssen, die einen haben noch einen Anzug in der Reinigung abzuholen, andere kein Testament gemacht, einige haben versäumt, eine Reise abzusagen, andere keinen Termin mit dem Tod vereinbart.
Und jetzt sind sie hier. Mit Dolmetschern im Korridor
und Heftmappen in Händen warten sie darauf, dass der Asylbeamte sie empfängt.
Nationalität, Geschlecht, Konfession. Viele haben einen Vater,
aber kein Vaterland. Die einen sind allergisch auf Ackerland,
und weil sie ihr Land nicht küssen konnten, mussten sie in den Untergrund.
Andere waren ein Leben lang auf der Flucht vor sich selbst,
und niemand gab ihnen Geld für Pillen gegen das Altern.
Wieder andere haben auch das Unglück verspielt, nicht nur das Glück.
Manche haben mit der Liebe ihres Lebens seit Jahren nicht mehr Liebe gemacht.
Einige wurden von ihren Nächsten nicht mit einem Messer, sondern mit einer Nadel
oder Pinzette
umgebracht.
Unter ihnen sind Leute, die erst mit dem Tod lebendig geworden sind.
Voll ist es, das Asylantenheim, abgegrenzt mit Stacheldraht von der Welt der gewöhnlichen
Toten.
Gestern bin ich angekommen. Ich erhielt zwei Passierscheine.
Tagsüber werde ich mich im Asylantenheim aufhalten,
nachts bei den gewöhnlichen Toten.
Ich weiß nicht, woher ich nicht zurückkehren werde.
© Lidija Dimkovska. Aus dem Makedonischen von Alexander Sitzmann
Ludwig Fels
Die Farbe der Erde
„Traue dem leitenden Gott und folge dem schweigenden Weltmeer.“ Friedrich Schiller
I.
Und die da kommen in Booten über das Meer
Gebt ihnen Herberge, gebt ihnen Schutz.
Sie haben die Farbe der Erde
Haben andere Himmel gesehn.
Gebt ihnen Herberge, gebt ihnen Schutz
Empfangt sie wie Gäste!
Macht ihnen Platz im Herzen, im Herzen!
So viele, so viele,
passen in ein großes Herz.
Laßt euch von ihnen zeigen, wie man lacht
Es gibt noch tausend andere Träume und Tränen.
Die da kommen nach beschwerlicher Reise
Die da starben in Wüsten, an Stränden
Verbluteten im Stacheldraht der freien Welt
Lasst ihre Geister kommen, helft ihnen auf!
Laßt sie kommen, all die Frauen, die Kinder, die Männer
mit nichts als der Hoffnung auf geringere Not.
Zu Tausenden gehen sie verloren unterwegs,
welch mildes Wort für sinnlose Tode, Krankheiten
und Gewalt von Hunden und Männern
Polizisten, Soldaten.
Und sie kommen in Booten übers Meer
die Kleider voll Löcher, Salz und Wind
aber sie tragen die Farbe der Erde
wie Schmuck für den morgigen Tag.
Sie kommen übers Meer ohne Ketten heute, ohne
die Narben der Peitsche
haben mehr Hoffnung als Angst
wissen von einer größeren Not.
Nur die Sterne gehören ihnen, nur ihnen.
II.
Aber warum
Empfinden wir keine Scham
wenn sie sterben da draußen, wo wir nie waren?
sterben und sterben Tag und Nacht, immer mehr
seit Jahren schon?
Und warum erfinden wir laufend neue Gesetze und Lügen?
Und warum geben wir keinen Trost? Und wieso
scheuen wir zurück vor der Schönheit ihrer Wünsche
tun, als hätten wir Angst
vor der Farbe der Erde?
Verraten, verkauft
ans Schicksal, das wir ihnen nicht ersparen
kommen sie übers Meer mit ihren Wunden und Träumen.
Gebt ihnen Würde, ein Lächeln, sagt nicht nein
Gebt von allem, was man ihnen genommen
Zeigt endlich Herz, zeigt, dass es schlägt!
Und sie kommen in Booten übers Meer, die Bibel im Kopf
vor Augen ein Leben fern von Armut und Tod
das gelobte Land eine Insel im Ocean: schwimmender
Stein skelettierter Illusionen, driftend ins kalte Paradies.
Gebt ihnen Herberge, gebt ihnen Schutz
ein Wort der Begrüßung, was wie Willkommen klingt.
Fahren in Booten übers Meer, Gerettete, Verschollene
Geister und Schatten, Menschen der Erde
im bitteren Glanz der Verzweiflung.
Und manchmal fährt Jesus mit in ihren Booten, mit übers Meer
stumm im Gebelfer der Megaphone, im Tumult der Rotoren
steht er auf unter den Schlägen der Wogen
die Wolken in Spiegel verwandelnd und die Sterne in Licht.
Helft ihnen an Land, an die Ufer eurer Herzen
gebt ihnen Herberge, Schutz, ein menschliches Wort
auch jenen, die nicht kamen
am Meeresgrund liegen in der Farbe der Erde.
III.
Gott hat die Menschen aus Erde gemacht. Komm an Land
das Herz ein Hafen
für all die Wanderer im Licht.
Nehmt sie auf In der Blüte ihrer Jahre und in ihrer größten Not
Frauen, Kinder, Männer, mit Masken aus Sand und Salz
Darunter tief im Ursprung unseres Seins:
die Farbe der Erde.
© Ludwig Fels
aus: http://www.literaturfestival.com/programm/berlin-liest/berlin-liest