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Beqë Cufaj

beim 12. Internationales Literaturfestival Berlin 2012.


Von Menschen und Missionen   

von Katja Schickel


 

Beqë Cufaj: projekt@party.

Aus dem Albanischen von Joachim Röhm.

160 S., geb., Secession, Wien 2012, 19,95 Euro, ISBN 9783905951172.



Wie Ost-Erweiterung und mit ihr, in einigen Fällen, das so genannte state oder nation building vonstatten geht, beschreibt der gebürtige Kosovare Beqë Cufaj in seinem zweiten Roman. Da wird sein Protagonist, der Ich-Erzähler, ein durchaus idealistischer deutscher Professor, aufgeklärter Geist in der Tradition der 68er, in ein durch Krieg zerstörtes Land geschickt, bei dessen Aufbau er helfen soll (Schwerpunkte des Masterplans: Schule und Hochschule, Erziehung und Pädagogik). Auch für ihn soll es, nach persönlichen Tragödien, ein Neuanfang sein, denn der Tod der Tochter hat in zutiefst verstört und für Jahre völlig aus der Bahn geworfen. Vor dem Ex-Sein (Exehemann, Exvater, Exprofessor), seiner inneren Leere, sucht er Zuflucht in einer neuen, sinnvollen Aufgabe, denn etwas für Menschen tun, einer höheren Sache dienen, wollte er schon immer. Zunächst muss er sich im UN-Hauptquartier melden, eine langwierige bürokratische Prozedur von Überprüfung und Sicherheitskontrollen durchlaufen, die nach Stunden mit Unterschriften auf für ihn unverständliche Papiere endet. Schnell ist klar, dass es hier keine Helden geben wird, auf die neue Abenteuer warten. Alles ist genau geregelt und festgelegt. Die unwirtliche graue Landschaft mit ihren Plattenbauten führt direkt in den Sumpf der Bürokratie, in der jede noch so gute Idee in Form von Papieren zur Strecke gebracht wird, schließlich als Aktenvermerk verendet. Es gilt Schema F, das die UN-Verwaltung vorgibt. Deren Geschäftsplan sieht andere Vorgehensweisen als die angegebenen, also etwa an die je spezifische Situation angepasste Lösungen, nicht vor. Man erwartet eher Erfüllungsgehilfen als kreative, eigenständige Köpfe. Alles andere würde den Apparat überfordern. Scheitert ein Projekt, wird ein anderes aufgelegt, angepasst, wieder verworfen, und der Kreislauf beginnt von Neuem. Auch das Scheitern wird finanziert. An Geld mangelt es offenbar nicht, und die Machtfülle, die sich für Einzelne, auch den Erzähler, daraus ergibt, lässt sie stolz und einige auch maßlos werden. Die gerne so genannten Friedensmissionare sind objektiv immer in der Zwickmühle, da sie etwas tun müssen, über das sie keinerlei Verfügungsgewalt haben und dessen Sinn und Zweck sie oft nicht kennen. Außerdem stehen sie wie ein Puffer zwischen den Entscheidungsträgern, einem relativ anonymen Oben (UN-Apparat) und den Einheimischen, einem ebenso unbekannten Unten. Die UN-Kommissionäre sprechen offiziell ausschließlich Englisch, untereinander in ihren jeweiligen Muttersprachen, fast niemand ist der Landessprache mächtig. Verständigungsprobleme werden hingenommen, sie dienen auch der Hierarchisierung innerhalb der UN-Community und ihrer Abgrenzung nach Außen. Ohnehin geschieht das meiste ohne Beteiligung derer, für die es gedacht ist. Sie sind allenfalls als Handlanger willkommen. Immer entscheidet das ferne New York, das von den jeweiligen Einsatzgebieten noch weniger Ahnung hat als die von ihr geschickten Spezialisten. In den jeweiligen Teilfragen will jeder das Sagen haben, das von anderen eifersüchtig begrenzt wird. Es herrscht ein Klima der Konkurrenz, die die Entwicklung von Projekten eher lähmt als voranbringt und in dem sich die Mitarbeiter gegenseitig aufreiben, begünstigt noch durch Misstrauen und nationalen Dünkel untereinander. Schon die Planung von Schulen kann da zum kaum lösbaren Dilemma werden und zeigt die von oben oktroyierten Prämissen als Groteske. Muss zuerst die Heizungsfrage geklärt sein, weil niemand kommt, wenn es zu kalt ist, oder doch zunächst die Schule als Gebäude stehen, um einen sichtbaren Anreiz zu bieten, oder müssen zuallererst neue Lehrerinnen und Lehrer rekrutiert werden. Das Hin und Her der Argumentation - im eng gesteckten Rahmen, den niemand durchbrechen darf - verdeckt nur den Stillstand und – was vielleicht das Schlimmste ist - verkommt zur Routine. Gesellt sich noch die Profilierungssucht Einzelner und ihrer Ressorts hinzu, dümpelt ein Projekt oft jahrelang vor sich hin, wird - einem Naturereignis gleich - zur "Katastrophe" erklärt, die nicht zu managen ist.

Die hehre Mission wird Alltag, wie ihn die hier "Internationals" genannten UN-Leute aus ihren Ländern kennen. Er vollzieht sich zwischen Besprechungen und Projektplanung in gesicherten Gebäuden einerseits und vor allem in Hotel und Hotelbar andererseits. Immer bleibt man unter sich. In der Freizeit, d.h. mindestens jeden Abend, trifft man sich im Tricky Dick, es herrscht das übliche Geplänkel; die wachsende Langeweile wird kompensiert mit Essen und Trinken und Party-Machen (mit viel Alkohol), mit dem Streuen von Gerüchten (garniert mit viel Sarkasmus), mit (gekauftem) Sex und den immer gleichen Schimpftiraden auf UNO, das fremde Land, in dem nichts funktioniert und dessen Kultur man nicht versteht. In den Nächten telefoniert und mailt man seine Erfolgsgeschichten nach Hause, leistet sich aber auch Larmoyanz und Selbstmitleid und schreibt eifrig Tagebuch. Vor persönlichem Kontakt mit den Einheimischen schreckt man zurück, zu andersartig erscheinen die Menschen. Die eingeflogenen Ausländer registrieren zwar die Zerstörung des Landes, ekeln sich aber doch vor dem Gestank des Elends, der Armut, und selbst das beste Hotel am Platz entspricht nicht ihren gewohnten Standards von Ordnung, Sauberkeit und Hygiene. Empathie verwandelt sich da schnell in Aggression. Auf beiden Seiten, denn auch die Bevölkerung hat sich eine andere Art von Hilfe, Unterstützung und Teilhabe erhofft.

Ein UN-Einsatz ist immer gut gemeint - in der prekären Situation der Menschen jedoch blanker Zynismus, wenn ein grundlegendes Verständnis für Land & Leute fehlt. Es sind diese mission hopper, moderne miteinander vernetzte Nomaden, die von einem Krisengebiet ins nächste geschickt, nirgends etwas wirklich verstehen und begreifen (lernen können/wollen), weil sie turnusmäßig ausgetauscht werden und keinerlei Verantwortung für das von ihnen Veranlasste übernehmen müssen, gegen deren Arroganz sich der zunächst heimliche, dann unverhohlene Zorn der Einheimischen richtet. Im Buch rebellieren sie schließlich gegen die Bevormundung und ihre permanente Beschämung durch die Fremden. In der Realität hat dieser Aufstand nicht stattgefunden. Mit Abu Beqir, dem Dolmetscher, kann Cufaj den Werdegang eines „Fundamentalisten wider Willen“ schildern, der die Kehrseite der Überwältigung durch die Ausländer zeigt, die, wie Beqir betont, sich allzu sehr in der Attitüde von Kolonialherren gefallen, sich aufspielen und ihre Privilegien genießen. Mit PowerPoint-Präsentationen und Partys feiern sie lediglich sich selbst und ihre Projekte (eine Feststellung, die dem Roman den Titel gab). Gegen ihre Begriffshülsen und Phrasen, vor allem aber ihre herablassende Art, ihren protzigen Lebensstil setzt der zum Islam konvertierte, ehemalige Drogendealer auf Gewalt, die ihm allerdings schon vorher im Umgang mit Frauen und seinen Geschäften nicht fremd war, jetzt aber religiös legitimiert wird. Was als Hilfsmission deklariert wurde, entpuppt sich als postkoloniale Eroberung, als eine von außen auf das ruinierte Land übergestülpte Verwaltungsmaschinerie, die nicht zu Frieden und Demokratie führt, sondern nur zu mehr Feindschaft. Von den Krawallen aufgebrachter Menschen hört der Deutsche zunächst aus dem Radio. Nach einigen heftigen Auseinandersetzungen beruhigen sich die Aufständischen wieder bzw. werden neutralisiert. Nato-Patrouillen kontrollieren Straßen und Brennpunkte. Für den erstaunlich gefassten Erzähler ist sein Einsatz vermutlich gescheitert, wie er selbstkritisch und gleichmütig konstatiert. Seine Position hat ihn mit Stolz erfüllt, ihm Selbstbewusstsein gegeben, ihn gerade damit aber auch korrumpiert. Er ist enttäuscht, Weltbild wie Selbsteinschätzung sind leidlich ramponiert, und er beginnt ein bisschen zu selbstgefällig "darüber nachzudenken, ob es sich wirklich lohnt, die Arbeit in diesem Land hier unten fortzusetzen.“

Ein sehr lesenswertes Buch über Anspruch und Wirklichkeit von Missionen aller Art, die Frieden sichern sollen und Menschenrechte, die demokratische Strukturen aufbauen wollen; über die ungeahnte Machtfülle, die einzelne Akteure oder Gruppen, Fremde in ihnen fremden Ländern, erhalten - und wie sie damit umgehen, lauter hochbezahlte Individuen, die sich als Elite sehen, sich weltweit für Projekte anheuern lassen und dann weiterziehen.

Mit der Entscheidung, einen Ich-Erzähler berichten zu lassen, wird man gleich ins Geschehen gezogen. Sein vertraulicher, jedoch nie anbiedernder Tonfall bleibt nah an den geschilderten Personen und Konflikten, verobjektiviert sie nicht. Im Gegensatz dazu hat Cufaj klugerweise kein bestimmtes, konkretes Land beschrieben (obwohl er auch und vor allem den Kosovo im Blick hatte), weil es ihm um die Verallgemeinerung von Phänomenen ging, die mit den weltweiten UN-Aufbauprojekten für die jeweils Beteiligten zunehmend an Bedeutung gewinnen: für die Organisationen, Experten und Projektentwickler auf der einen Seite und alle die Menschen, die in der Folge Objekte von Maßnahmen werden, über die sie nicht bestimmt haben, auf der anderen. 




Leseprobe

Das laute Poltern, mit dem die Germanwings-Maschine, über deren rötlichen Rumpf sich in großen, schwarzen Lettern die Werbeaufschrift Mhhhh, Baden-Württemberg zog, ihr Fahrwerk ausfuhr, zeigte uns, dass die Landung bevorstand. Nach einem ruhigen Flug teils über weißen Wolken, teils bei klarem, blauem Himmel, in dessen Verlauf sich durch die schmalen Fenster ein herrlicher Blick auf die winterlichen Landschaften geboten hatte, mussten wir nur noch die jetzt dunkle Wolkendecke durchstoßen, um schließlich auf dem Boden dieses fremden Landes aufzusetzen. Nur wenige, sehr wenige Turbulenzen störten den Anflug. Ohne dass noch irgendetwas Beunruhigendes sich ereignet hätte, berührten die Räder quietschend den Beton, das Flugzeug rollte weiter bis zum Ende der Landebahn, vollführte eine leichte Wendung und hielt an. Noch immer war ein Rest kläglichen Kindergeschreis zu vernehmen. Die erwachsenen Fluggäste hingegen, die in ihren Blicken und im Tonfall ihrer Unterhaltungen bis zum Augenblick der Landung eine geradezu furchterregende Ruhe bekundet hatten, änderten schlagartig ihr Verhalten und fingen an, sich mit lauter Stimme darum zu streiten, wer zuerst seinen Mantel, seine Tasche oder irgendwelche anderen Dinge aus der Ablage über den Sitzen nehmen durfte. Manche trugen ein Lächeln auf den Lippen, während sie sich energisch vordrängten, um am Ausgang unter den Ersten zu sein. Lediglich eine Frau war sitzen geblieben und gab dem Säugling auf ihrem Schoß ihre große, weiße Brust. Erst in diesem Moment begriff ich, dass es für mich tatsächlich kein Zurück mehr gab. Nein. Ich musste mich unwiderruflich auf dieses Land einstellen, das mir in diesem Augenblick, da ich mich anschickte, seinen Boden zu betreten, als das gelobte erschien, wenn ich auch, als ich die ersten Schritte tat, mich umblickte, die kalte Luft einsaugte und auf etwas Unerklärliches stieß, das in der Luft hing, irritiert war… Ich verstand nicht, was mit mir vorging. In einem ganz gewöhnlichen Land. Ein hektisches Hin und Her um mich herum, hektisch auch die Grenzkontrollen. Menschenschlangen und Gelärme in der niedrigen Halle des schäbigen Flughafengebäudes, das sich Terminal nannte. Alle wirkten irgendwie befreit. Bewegt. Sie waren in ihrem Heimatland angekommen. Wir dagegen, außer mir vermutlich auch einige andere, derer ich noch nicht ansichtig geworden war, fühlten uns ein wenig hilflos. Wir mussten dieses fremde Land, über das wir bisher nur gehört und gelesen hatten, erst noch kennenlernen. Wir mussten ermessen, wo wir waren und wie es uns erging. Ich war jetzt da unten. Und ich musste an dort, an das ferne Oben denken. Jedoch war nichts mehr zu bedenken. Es gab keine Umkehr mehr. Ein Schritt folgte auf den anderen. Alles musste zügig geschehen. Jeder rückwärtsgerichtete Gedanke hinderte mich, vorwärtszuschreiten. Zwar wusste ich nicht, wohin es ging und wie. Doch das war jetzt auch nicht so wichtig. Wie in einem flüchtigen Traum überschritt ich die Grenze zwischen hier und dort. Draußen stand der Bus. Ich stellte fest, dass ich tatsächlich nicht der einzige andere, der einzige Ausländer im Flugzeug gewesen war. Es gab wenigstens acht von meiner Sorte. Wir wurden von einem Menschen erwartet, der ein Schild mit der Aufschrift UN hochhielt. Wir traten auf ihn zu. Es kam mir so vor, als seien wir ein paar Bettler, die diesen offenbar einheimischen Menschen um ein Almosen angingen. Jedenfalls führte er sich auf, als habe er es bloß mit Nummern ohne irgendeine Bedeutung, irgendeinen Wert zu tun. Oder mit einer Schafherde, die endlich ihren Hirten gefunden hatte. Der respektlose junge Mann hielt das Schild mit der Aufschrift UN nun fest in der linken Hand, während er mit der rechten einen Zettel aus der hinteren Hosentasche zog, von dem er mit rauer und gepresster Stimme unsere Namen ablas. Jemand fehlte. Jemand namens Lars. Lars Swartz. Ein Schwede. Der junge Mann, unser Hirte, wies mit dem Finger auf unseren Bus, den wir allerdings schon selbst entdeckt hatten. Er musste ja notgedrungen auf den Schweden warten, falls der überhaupt noch kam. Wir nahmen Platz in dem, was eher Kleinbus als Omnibus genannt zu werden verdiente, und warteten. Während wir warteten, beobachteten wir die Menschenmenge vor dem Flughafeneingang. Verwandte wurden mit Umarmungen, Schluchzen und Freudenrufen empfangen. Ich verstand nicht ganz, was sich dort abspielte. Auch wenn es sich mir nicht erschloss, so ahnte ich doch, dass bei der Begegnung zwischen Ankömmlingen und Wartenden ein schmerzliches Verlangen unter Lachen und Weinen verging. Das war verständlich. In diesem Land hier unten hatte ein schrecklicher Krieg stattgefunden, Tausende von Menschen waren im Verlauf weniger Monate umgekommen. Nun kehrten jene, die sich in Sicherheit hatten bringen können, in ihre Heimat zurück, um inmitten von Zerstörung und tiefen Wunden ihr Leben fortzusetzen oder wenigstens ihre Verwandten zu besuchen und zu unterstützen. Eine solche Gefühlslage war mir selbst fremd. Durch das schmutzige Fenster im rückwärtigen Teil des Kleinbusses sah ich, wie die Mutter, die im Flugzeug ihr Baby gestillt hatte, von einer alten Frau mit Kopftuch und einem alten Mann mit Filzkappe in Empfang genommen wurde, die ihr eilig den Säugling abnahmen, um ihn zu herzen. Fast zur selben Zeit erblickte ich auch, wie unser junger Mann jemandem die Hand drückte, bei dem es sich wahrscheinlich um den gesuchten Schweden handelte. Der Fahrer verstaute den Koffer des Neuankömmlings unter meinem Sitz. Dann zwängten sich die letzten beiden Fahrgäste zu uns herein. Der Schwede kam geradewegs auf mich zu. Wahrscheinlich war es die Sorge um sein Gepäck, die ihn herzog. Mit einem etwas gekünstelt klingenden »Hallo« setzte er sich neben mich auf die Bank. Der Fahrer startete den Motor unseres Transportmittels, während ich wieder einmal eine jener großen, an meiner Würde zehrenden Enttäuschungen erlebte, hatte ich doch erwartet, es werde eigens für mich eines dieser großen, weißen Autos kommen, wie sie im Fernsehen und in den Zeitungen gezeigt werden, um mich in die Innenstadt zu befördern. Stattdessen saß ich nun zusammen mit acht Tölpeln aus aller Herren Länder in einem schäbigen Kleinbus, und nicht nur das, die anderen waren auch noch geschickter als ich gewesen, denn praktisch jeder von ihnen hatte eine Sitzbank für sich allein erobert, während ich mir eine mit diesem Burschen teilen musste. Diesem merkwürdigen Schweden. Ich wusste nicht, ob der Blick, den er mir zuwarf, mich dazu veranlassen sollte, ein Gespräch zu beginnen, oder ob er meine nationale Zugehörigkeit zu ermitteln suchte. Möglicherweise wollte er auch nur, dass ich mich zurück beugte, damit er mehr von der Landschaft hier unten mitbekam. Wortlos verständigten wir uns darauf, einander nicht weiter zu behelligen.Die Schlaglöcher auf der schmalen Landstraße schleuderten uns hin und her, was mich und vermutlich auch die anderen Passagiere allerdings nicht daran hinderte, auf die wenigen kahlen Hügel hinauszuschauen. Einige meiner Mitreisenden tauschten Kommentare aus. Welch eine bedrückende Landschaft! Dieses seltsame Grau! Die Schneehauben auf den bräunlichen Buckeln machten den Anblick nicht erträglicher. Der Flughafen, auf dem außer der Maschine, mit der wir angekommen waren, auch noch ein paar Hubschrauber vom Typ Apache herumstanden, blieb hinter uns zurück. Ich fragte mich, warum ich die Kühe, Schafe und Pferde, die zwischen den Flugzeugen grasten, nicht schon früher wahrgenommen hatte. Was fanden die Tiere hier mitten im Winter bloß zu fressen? Vielleicht hatte man sie auch nur ins Freie gelassen, damit sie etwas frische Winterluft schnappen konnten. Inzwischen hatte mich ein, wenn auch unbestimmtes, Wohlgefühl überkommen, weil ich es geschafft hatte, ein durchaus nicht leichtes Kapitel meines Lebens abzuschließen. Ich lächelte. Am Straßenrand waren teils noch zerstörte, teils bereits wiederaufgebaute Häuser zu sehen, Kinder rannten in den Höfen hintereinander her, Holzprügel in der Hand, die mittelalterliche Schwerter oder Maschinenpistolen darstellen sollten, träges Viehzeug stand auf den kahlen Flächen links und rechts der Fahrbahn herum … Beklemmende und bis zu einem gewissen Grad bedrohliche Bilder huschten vorbei, doch dies konnte die Hochstimmung, die mich ergriffen hatte, nicht beeinträchtigen. Ich hatte mein früheres Leben hinter mir gelassen, zum ersten Mal war ich ganz bei mir. Ein Ex. Exehemann und Exvater. Exfreund und Exkollege. Exprofessor an verschiedenen Universitäten. Mein Leben lang hatte ich davon geträumt, etwas für die Menschheit zu tun, doch erst jetzt bot sich mir die Chance, etwas Konkretes zu unternehmen. Meine Mutter war die zweite Ehefrau meines Vaters. Seine erste Frau, eine Jüdin, hatte er während der Nazizeit verlassen, um sich selbst nicht zu gefährden. Über ihr weiteres Schicksal weiß ich nichts. Überhaupt hatte ich erst als Student begonnen, mich mit den fatalen Jahren der braunen Diktatur und des Krieges auseinanderzusetzen, der das Leben von Millionen Menschen auf der ganzen Welt zerstört hatte. Wie so viele meiner Altersgenossen konnte ich meinem Vater sein damaliges Verhalten nicht verzeihen. Ich ließ kein Sit-in, keine Protestversammlung, keine Demonstration aus. Aber wie konnte man verhindern, dass sich diese Tragödie wiederholte? Dazu mussten wir das kapitalistische System stürzen, das sie zwangsläufig hervorgebracht hatte, und ein anderes, besseres System an seine Stelle setzen. Das, was wir gewissermaßen vor der Haustür hatten, drüben in der DDR, entsprach ganz und gar nicht unseren Vorstellungen von einem idealen Staat der werktätigen Menschen. Also glaubten wir Mao Tse-tung, dass die Verhältnisse im sowjetischen Lager auf den Verrat der revisionistischen und sozialimperialistischen Führer am wahren Marxismus-Leninismus und an Stalins Lehren zurückzuführen seien, und wurden zu Stalinisten. Das Heil suchten wir nun in China. Und in Albanien. Ausgerechnet in dem kleinen, abgeschotteten, von der Küste bis in die entlegensten Bergtäler hinein mit Betonpilzen übersäten Albanien, in denen wir aber ein Zeichen besonderer Wehrhaftigkeit im Kampf gegen den Weltimperialismus erblickten. Es dauerte eine Weile, bis wir begriffen hatten, dass es auch in diesem Ländchen nicht anders zuging als im Rest der kommunistischen Welt: Das Volk wurde unterdrückt, erniedrigt und ausgebeutet von ein paar paranoiden Spießern, die um der Erhaltung ihrer Macht willen nicht nur jedes freie oder bloß unbedachte Wort verfolgten, sondern sich, wenn es sein musste, sogar gegenseitig umbrachten. Diese Einsicht versöhnte uns ein wenig mit den Verhältnissen in unserem eigenen Land, auch wenn wir natürlich noch immer nicht mit allem einverstanden waren. So demonstrierten wir zwar nicht mehr gegen das System selbst, sehr wohl aber gegen Missstände wie den Doppelbeschluss der NATO, die Atomkraft und die Rechten. Wir organisierten Fackelzüge und Menschenketten. Legte man Goethes Farbenlehre zugrunde, könnte man sagen, dass wir überzeugungsmäßig zwischen zwei Komplementärfarben gewechselt hatten. Außerdem waren wir inzwischen ein paar Jahre älter, der Überschwang der Jugend hatte nachgelassen und der Alltag forderte seinen Tribut. So fand ich mich eines Tages als Professor mit gebügeltem Hemd und Krawatte in einem geräumigen Büro wieder. Insbesondere die Studentinnen schätzten nicht nur meine Vorlesungen undSeminare, sondern auch mich persönlich. Ich hatte keinen Grund, etwas auszulassen. Sie vereinbarten Termine bei mir im Büro, und wir landeten anderenorts zusammen im Bett. Das ging natürlich nicht ohne Verwicklungen und Eifersüchteleien ab, Spötteleien und hämische Blicke von Mitprofessoren und -professorinnen, Rektoren und Rektorinnen. Dann aber tauchte Manuela, auch sie an der Universität tätig, in meinem Leben auf. Allen Anfechtungen und ironischen Kommentaren zum Trotz, die Liebschaften im Kollegenkreis in der Regel begleiten, fanden wir uns schließlich in fast strammer Haltung vor dem Standesbeamten des zuständigen Bezirksamts wieder, um öffentlich zu verlautbaren, dass wir gewillt seien, den Bund der Ehe einzugehen. Das Ergebnis dieser Erklärung war Caroline.Ach, Caro… Natürlich musste ich an diesem Tag in diesem Bus in diesem mir noch unbekannten Land an sie denken. Ihre Geburt hatte vieles verändert. Ich hielt ein Wesen in den Armen, das mein eigen Fleisch und Blut war. Wenn sie weinte, konnte ich nicht schlafen. War sie fröhlich, hatte ich Angst um sie. Ihre ersten Zähne und Schritte werde ich nie vergessen. [...]

Doch diese Zeit lag nun hinter mir. Ich war dort, wo ich hingehörte. Im Grandhotel, das hier Hotel Grand hieß. Angeblich hatten in diesem sozialistischen Zweckbau Präsidenten und Premierminister übernachtet und gefeiert. Helfer in der Not und Mordbuben, Arbeitswütige und Faulpelze, Zerstörer und Erbauer. Inzwischen glich das Etablissement allerdings einer Ruine. Die Zimmer starrten vor Schmutz, verschlissene Teppiche lagen auf den zerkratzten Böden, die Kühlschränke waren seit einer Ewigkeit nicht mehr gereinigt worden, bleichsüchtige Lampen verrichteten wenig erfolgreich ihren Dienst, wenn man durch die langen, kahlen Flure wanderte, glaubte man sich in die Welt von Kafkas Romanen versetzt, und das gesamte Personal schien der Schwermut verfallen. Da war ich nun, hier unten, ein Fremder in einer fremden Welt, und wusste nicht genau, ob ich mit diesem Schritt nun anderen oder vielmehr mir selbst hatte helfen wollen. Ging es mir um die Leute, die durch die Straßen dieser kalten und abweisenden Stadt strömten, oder um mich selbst, die kleine Nummer, die nicht genau wusste, ob es besser war, beim menschlichen Höllenspiel mitzumachen oder sich herauszuhalten und aufs Zuschauen zu beschränken. Aber solche Fragen ergaben nun keinen Sinn mehr. Ich war angekommen. Es hatte mich zwar in dieses lausige Zimmer eines maroden Hotels verschlagen, aber ich konnte nun nach vorne blicken. Und wer nach vorne schaut, kann auch vorwärtsschreiten. Dies ging mir durch den Kopf, während ich mit geschlossenen Augen dalag und auf den Schlaf wartete.Was für ein trübseliger Morgen! Als Erstes ging ich zum Fenster und öffnete es. Ich war so müde, dass ich meinen Körper nicht spürte. Aber warum? Schließlich hatte ich nichts Anstrengendes unternommen. Ein übler Gestank erfüllte das verdammte Zimmer, wahrscheinlich eine Mischung meiner Ausdünstungen mit dem Schimmelgeruch der feuchten Wände. Ich befand mich im dritten Obergeschoss des Hotels. Durch das Fenster drang eiskalte Luft herein und stach in meine Haut. Nun nahm ich auch noch einen anderen Geruch wahr: den Geruch dieser Stadt und dieses Landes. Er war mir ganz und gar unvertraut. Es roch brenzlig, nach Kaffee und Zigarettenrauch, aber auch Zerstörung. Ein Hauch von Depression ging von dem Beton und dem Schlamm aus, den ein aus immer noch dicken grauen Wolken strömender Regen über Nacht produziert hatte. Wo man den Blick auch hinwandte, überall herrschte eine schreckliche, widerwärtige Gerüche erzeugende Unsauberkeit. Obwohl meine Augen noch nicht gänzlich aufnahmebereit waren, bemerkte ich, dass in der Nähe des großen Gebäudes, in dem ich die Nacht verbracht hatte, noch zwei oder drei andere von der gleichen Art standen, Plattenbauten aus der Zeit des Sozialismus, von dem auch ich eine Weile lang geträumt und für den ich sogar gekämpft hatte. Ein Sonnenstrahl quälte sich ins Zimmer, wo ich auf meine beiden großen Koffer starrte, die wie schwarze Sarkophage vor mir auf dem Boden lagen. Es war noch nicht acht Uhr, die Hauptstadt dieses Landes schlief noch. Ich zog mich an und ging hinunter. Im Licht des neuen Tages machten die Räumlichkeiten des Hotels und die Kellner, die sich darin umherbewegten, einen noch unangenehmeren Eindruck. Keiner redete mit dem anderen. Die Hotelgäste saßen in dem großen Kellerrestaurant vor randvollen Tellern und schaufelten Rührei, Fleisch, Käse und Tomatenscheiben in sich hinein. Der Kaffee war entsetzlich. Nie in meinem Leben habe ich schlechteren Kaffee getrunken, er schmeckte wie lauwarme Kastanienbrühe. Aber nur wenige Augenblicke später durfte ich den besten Kaffee meines Lebens genießen. Was für ein Unterschied! Das furchtbare Getränk hatte ich als Hausgast ohne zusätzliche Kosten zum Frühstück serviert bekommen, für den wunderbar schmackhaften Kaffee musste ich in der Hotelbar im Erdgeschoss zwanzig Cent bezahlen. Ein Barmann oder Kellner mit gepflegtem Schnurrbart und schmutziger Schürze erteilte mir den »guten Ratschlag nur für besondere Gäste«, Kaffee ausschließlich an der Hotelbar zu bestellen, wenn ich Wert auf Qualität legte. Ich bedankte mich bei Salih, so hieß der Mann, für den überaus nützlichen Hinweis. Ein paar Cent für den besten Mokka meines Lebens! Meine Müdigkeit war nun verflogen und hatte Neugier Platz gemacht. Schließlich lag ein langer Tag voller unwägbarer Ereignisse und neuer Erfahrungen vor mir. Der Tag meines Neuanfangs. Adieu, ihr eingefahrenen Alltagsrituale mit dem wechselnden Wetter als einzig inkonstantem Faktor. Adieu Wirtschaftskrisen, Internetblasen und Börsenkräche in Frankfurt, London, New York oder Tokio. Adieu nytimes.com, perlentaucher.de und spiegel.de. Adieu, ihr Alumni-Treffen mit endlosen Debatten über Irak und Afghanistan, Iran und die USA, zu denen Ströme von Bier flossen. Am Ende war ich irgendwo angekommen, wo man noch etwas bewirken konnte, wo man sich vor allem nicht damit begnügte, vor dem Fernsehapparat zu sitzen und zuzuschauen, wie tapfere Männer und Frauen ihr Leben für das Wohl der Menschheit einsetzten. Adieu Löwenstraße, adieu Pensionen und möblierte Zimmer. Dass ich den Mut besessen hatte, mein altes Leben hinter mir zu lassen, erfüllte mich mit Stolz. Es gab für mich nichts zu bereuen, so schwer mir dieser Schritt auch gefallen war. Ich war glücklich, mein ach so zivilisiertes Heimatland verlassen und mich in eine völlig andere Welt begeben zu haben, obwohl die geographische Entfernung eigentlich nicht sehr groß war. Als ich auf die Straße trat, wehte mir ein scharfer Wind kalte Regentropfen ins Gesicht, sodass ich darauf verzichtete, zum Himmel hinaufzuschauen. Ich blickte mich überhaupt nicht um. Die Stadt döste weiter vor sich hin und nur wenige, ganz wenige Menschen und Autos waren unterwegs. Ich hatte nicht die geringste Idee, wohin ich mich wenden sollte. Aber irgendwo musste ich Bescheid geben, dass ich (eine weitere von vielen Nummern) nun hier war. Und da entdeckte ich ihn, Lars, den Schweden, der sich vor kaum zwölf Stunden zu meinem Leidwesen im Kleinbus auf den Platz neben mir gezwängt hatte. Er ging ein paar Schritte vor mir, ich sah, dass er es eilig hatte, und wunderte mich, dass er mir erst jetzt über den Weg lief, mit einem Stück Papier in der Hand und einem Rucksack auf dem Rücken. Sollte ich ihm ein »Hallo« zurufen und ihn bitten, mir den Weg zu zeigen? Nein, lieber nicht, denn damit hätte ich zugegeben, dass er sich besser zurechtfand als ich. So beschloss ich, ihm einfach zu folgen. Diese Entscheidung erwies sich als sehr vernünftig. Kaum hundert Meter von der Rückseite des Hotels entfernt befand sich linker Hand ein etwas niedrigeres, von einem Stacheldrahtzaun umgebenes Gebäude, vor dem Soldaten und Wachmänner der Vereinten Nationen auf und ab patrouillierten. Jeder, der das Gelände betreten wollte, wurde strengstens kontrolliert. Nur wer sich als UN-Mitarbeiter ausweisen konnte, wurde ohne Weiteres durchgelassen. Alle anderen nahm man sich gründlich vor. »Gehen Sie dort drüben einen Kaffee trinken und kommen Sie sagen wir in einer halben Stunde wieder. Oder besser in einer Stunde, heute Morgen herrscht hier das totale Chaos. Ach ja... und schreiben Sie mir bitte Ihren Namen auf, damit ich ihn hier in der Kabine habe«, erklärte mir der Somalier im Wächterhäuschen, bei dem sich eigentlich alle, die durch das Tor wollten, auszuweisen hatten. Seltsamerweise zeigte aber niemand einen Identitätsnachweis vor. Besonders wunderte mich, dass der Schwede, der gestern noch so getrödelt hatte, anstandslos eingelassen wurde, während ich draußen bleiben musste. Unrasiert und mit zerzaustem rotem Schopf, die gleichen groben Stiefel wie gestern an den Füßen und in einem zerknautschten schwarzen Sakko, das vielleicht zu einem Journalisten passte, aber nicht zu einem Beamten, ging er einfach durch das Tor. Letzten Endes würde man auch mich nicht daran hindern können, das Gebäude zu betreten, in das ich schließlich so gut wie alle anderen gehörte. Aber ich befolgte den Ratschlag des Somaliers und ging über die Straße in das Café, auf das er mich hingewiesen hatte. Leider fand ich keinen Platz am Fenster mit Blick auf den Somalier, der versprochen hatte, mir ein Zeichen zu geben, wenn der Dienstsitz der Organisation, der wir beide angehörten, für mich endlich zugänglich war. Ich empfand die ganze Situation als ziemlich unbefriedigend. Im Café war nur Englisch zu hören, allerdings ein sehr merkwürdiges. Nicht dass mich die Gespräche und die Herkunft der Leute wirklich interessiert hätten, doch mir fiel die gelöste Stimmung auf, in der man Kaffee und Whisky konsumierte. Der Kellner, der, wie ich später erfuhr, eigentlich Bekim hieß, sich mir aber mit dem Namen Beki vorstellte, der auch auf dem Plastikschildchen über der Brusttasche seines roten Hemdes stand, erkundigte sich in einem etwas unsauberen, aber immerhin verständlichen Englisch nach meinen Wünschen. Ich saß kaum auf meinem Stuhl, da fragte er schon: »Wollen Sie etwas Hochprozentiges oder doch lieber etwas weniger Starkes ... Aber am besten bringe ich Ihnen erst einmal einen Kaffee, dann können Sie immer noch entscheiden. Ist das in Ordnung?« Ja, dies sei in Ordnung, bestätigte ich, fügte aber hinzu, es bleibe wahrscheinlich bei dieser einen Tasse Kaffee, denn wenn mir der Somalier drüben ein Zeichen gebe, müsse ich unverzüglich aufbrechen. Bis heute weiß ich nicht, ob der Mann am Tor tatsächlich aus Somalia kam. Er hätte genauso gut aus Eritrea oder Burkina Faso stammen können, aber ich war nun einmal überzeugt, dass es sich um einen Somalier handelte, und noch heute würde ich eine Wette auf diese Annahme eingehen, die mir an jenem Morgen aus irgendwelchen Gründen sehr wichtig war. Beki brachte den Kaffee, während ich in der Speisekarte blätterte, um mich über die Gerichte und Getränke zu informieren, die dieses Land hier unten anzubieten hatte. Ich erfuhr außerdem, dass das Lokal, in dem ich Platz genommen hatte, Tricky Dick hieß, und da ich logisch denken konnte, wurde mir sofort klar, dass es von diesem Morgen an ein untrennbarer Bestandteil meines alltäglichen Lebens sein würde. In diesem Moment aber, als ich den letzten Schluck aus meiner Kaffeetasse nahm, kam ich mir vor wie ein Hornochse, weil ich hier nur herumsaß und darauf wartete, dass der Somalier endlich geruhte, mich heranzuwinken. Nachdem ich mir eine halbe Stunde lang angehört hatte, wie an den Nachbartischen bei Kaffee und Whisky lauthals über stumpfsinnige Witze gelacht wurde, stand ich auf und ging, weil der Somalier mich offensichtlich ignorierte oder sogar völlig vergessen hatte. Wie falsch ich lag! Nicht nur dass er mich sofort wiedererkannte, er wies mich auch ohne weitere Umstände an, meinen Namen in ein schmutziges Heft zu schreiben, in dem sich alle Leute, die dieses Gebäude betraten, mit Vor- und Nachnamen eintragen mussten. Dann erklärte er mir in seinem holprigen Englisch den Weg. Ich war fest davon überzeugt, dass dieser Mensch, wäre ihm klar gewesen, wer da vor ihm stand, sich mir gegenüber gleich ganz anders verhalten und auf keinen Fall einen unpünktlichen Schweden vor mir hereingelassen hätte. Doch das spielte nun keine Rolle mehr. Fest stand, dass man mich ungebührlich hatte warten lassen. Aber mein Zorn auf diesen Afrikaner, mit dem ich mir die Vereinten Nationen als Arbeitgeber teilte, war verflogen, schließlich hatten andere als dieser arme Bursche darüber zu entscheiden, wer wann dort hineindurfte. Er war ein kleiner Wachmann, der bloß ausführte, was ihm aufgetragen wurde. Nachdem ich das Gebäude betreten hatte, zwängte ich mich in einen engen, furchtbar engen Fahrstuhl, der maximal vier Personen fasste, also sehr viel weniger als der Aufzug im Hotel, und fuhr ins zweite Obergeschoss hinauf. Dort erfuhr ich von einer schwarzen … Mutter … Schwester aus (vermutlich) Sambia, dass ich einem großen Irrtum unterlegen war. Ich musste mich nämlich zuerst im Büro für Zivilangelegenheiten melden, um mich dort erfassen zu lassen und die nötigen Anweisungen und Dokumente in Empfang zu nehmen. Erst dadurch wurden die Voraussetzungen für die Zuweisung zu einer »Einheit« geschaffen. »Es tut mir schrecklich leid, Sir, aber Ihr Name steht nicht auf der Liste der Mitarbeiter, die heute hier anfangen. Wissen Sie, diese Liste kommt von dem eben erwähnten Büro. Lassen Sie sich also dort registrieren, wir bekommen daraufhin die Unterlagen übersandt und kümmern uns um die Sache«, sagte die schwarze Mutter aus Sambia, zu deren ritualisierten Pflichten es offenbar gehörte, sämtliche Neuankömmlinge zu empfangen und abzufertigen. Ich beugte mich ihren Anordnungen. Allerdings kann ich nicht leugnen, dass ich das Büro ziemlich wütend verließ. Diesmal nahm ich nicht den Aufzug, sondern die Treppe, die allerdings, wie sich herausstellte, nicht weniger eng, dafür aber noch schmutziger als der Fahrstuhl war, um schließlich auf den ebenso schmutzigen Asphalt des Hofes hinauszutreten. Mit raschen Schritten ging ich zum Tricky Dick hinüber, vor dem ich Ausschau nach einem Taxi hielt, das mich zu dem verflixten Büro bringen sollte. Beki, der Kellner, entdeckte mich und fragte mit einem höflichen »Sir«, womit er mir dienen könne. Keine zwei Minuten später hielt direkt vor meiner Nase ein uralter Mercedes, auf dessen Dach ein Schild mit dem magischen Wort TAXI befestigt war. Ohne mich nach Fahrpreis und Zahlweise zu erkundigen, nahm ich darin Platz. Ich ertrug die furchtbare Musik, die aus dem Lautsprecher dröhnte, und den Gestank der Zigaretten, die der Fahrer zu meinem Verdruss Kette rauchte, und ließ mich durch ein Verkehrschaos ohne Ampeln, ohne Ordnung schaffende Polizisten und überhaupt ohne alles, was man als einigermaßen normal bezeichnen konnte, zu meinem Bestimmungsort befördern. Immerhin konnte ich bei dieser Gelegenheit einen ersten Blick auf die Hauptstadt werfen. Sie sah überall gleich aus. Ein einziges Fußgängertohuwabohu. Die meisten Passanten liefen kreuz und quer über die Straßen […]. 

© Leseprobe: Secession Verlag


 

Beqë Cufaj, *1970 in Deçani / Jugoslawien / Kosovo. Studium albanischer Sprach- und Literaturwissenschaft in Prishtina. Ab 1995 Gerlingen bei Stuttgart.

 

In 205 (1996), einer auf Albanisch verfassten Sammlung von Gedichten und Kurzprosa, verarbeitet er seine Migrationserfahrungen, Kriegserlebnisse, den Verlust der Heimat und das Leben in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft. Als Korrespondent berichtete er für verschiedene europäische Zeitungen über den Kosovo-Krieg, seine Berichte und Essays wurden in Kosova – Rückkehr in ein verwüstetes Land (2000) veröffentlicht und enthalten auch sehr persönliche Texte. Shkëlqimi i huaj (2003; dt. Der Glanz der Fremde, 2005) hieß sein Romandebüt, in dem er zwei junge Kosovo-Albaner, Arben und Ricky, ihre Geschichte erzählen lässt, ihre Kindheitserinnerungen in einem kosovarischen Dorf beschreibt und ihnen bis in ihr gegenwärtiges Leben in Deutschland folgt. Cufaj lebt als Autor und Journalist in Stuttgart und Prishtina.


Werke in Deutsch:

Kosova - Rückkehr in ein verwüstetes Land. Verlag Zsolnay 2000

Der Glanz der Fremde. Roman, Verlag Zsolnay 2005

Last Exit Degerloch. Theaterstück, Theaterhaus Stuttgart, 2011

projekt@party. Roman, Secession Verlag 2012.


BEQË CUFAJ - AUFSÄTZE FÜR BRÜSSEL - EUROPE NOW

12. Internationales Literaturfestival Berlin 2012

 

Kreshnik ist ein Achtzehnjähriger und lebt in Prishtina, der Hauptstadt des Kosovo. Ich kenne ihn nicht persönlich, erhalte aber hin und wieder Post von ihm. Als treuer Leser der kosovarischen Tageszeitung, für die ich eine wöchentliche Kolumne verfasse, hat er sich angewöhnt, mir seine Meinung zu meinen Texten zu sagen.

Vor einigen Monaten, genauer gesagt im Mai, habe ich von Kreshnik einen elektronischen Brief bekommen, in dem es nicht um Zeitungsthemen ging. Vielmehr bat er mich um meinen Kommentar zu einem eigenen Text, den er beigelegt hatte. Es handelte sich um einen Aufsatz: seinen Beitrag zu einem Wettbewerb, der vom kosovarischen Bildungsministerium für Schüler in den Abschlussklassen der kosovarischen Oberschulen ausgeschrieben worden ist. 

Das Aufsatzthema lautet: »Der Balkan in der Europäischen Union«. Den fünf Siegern des Wettbewerbs winkt als Preis eine einwöchige Reise nach Brüssel. Die Gastgeber aus der europäischen Hauptstadt sorgen für das Visum, die Unterbringung und Verpflegung der Preisträger und geben ihnen die Möglichkeit zu Besuchen in wichtigen europäischen Einrichtungen. Kreshniks Aufsatz hat mich beeindruckt. Nicht nur, weil der Verfasser sich erstaunlich gut informiert zeigt, sondern auch, weil er klare Vorstellungen entwickelt, was den Zeitpunkt und die Bedingungen einer Integration des Kosovo in die Europäische Union anbelangt. Kreshnik meint, dass die Völker und Länder der Region zunächst ihre regionale Zusammenarbeit verstärken und Brücken untereinander schlagen müssen, wenn sie die Forderungen, die Brüssel stellt, erfüllen wollen. Und er scheut sich auch nicht, ein Problem anzusprechen, das man auf dem Balkan gerne von sich herschiebt: die allumfassende Herrschaft von Korruption und organisierter Kriminalität.

Ich las den Aufsatz ein zweites Mal und fand meinen ersten Eindruck bestätigt: dass nämlich diese Achtzehnjährige offenbar eine weit klarere Vorstellung von den Erfordernissen der europäischen Integration hat als die erdrückende Mehrheit derer, die sich als politische Klasse des Kosovo verstehen. Bleibt die Frage, wie viele Altersgenossen Kreshniks es geben mag, die ähnlich gut wie er über die EU informiert sind und die Notwendigkeit von Integrationsschritten in der Region als Vorbedingung für die Annäherung an Europa so klar sehen wie er.

Darauf ging ich in meiner Antwort an Kreshnik aber nicht ein. Ich beschränkte mich darauf, ihm zu seinem Aufsatz zu gratulieren und ihm viel Glück für den Wettbewerb zu wünschen.

Er bedankte sich für das Lob, war aber nicht sehr optimistisch, was eine Auszeichnung anbetraf: »die dort oben«, also die Bürokraten im Kulturministerium und in der Auswahlkommission, würden schon dafür sorgen, dass die Preise an Bekannte gingen. Ich zog es vor, keinen weiteren Kommentar dazu abzugeben.

Was hätte ich ihm auch sagen sollen? Dass es nun einmal nicht einfach ist, wenn man in der ärmsten und korruptesten Region Europas lebt? Dass seine Generationsgenossen aus Polen, Tschechien, Ungarn oder der Slowakei, aber auch Rumänien und Bulgarien – also fast Balkan – in einem Europa leben, in das er, den Sieg im Aufsatzwettbewerb vorausgesetzt, für eine Woche hineinschnuppern dürfte?

Kreshniks Geschichte erinnert mich an meine eigene. Ich war ungefähr in seinem Alter, als die Bürger Ex-Jugoslawiens Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts neue Urlaubsländer für sich zu entdecken begannen. Titos Staat war sozusagen das Paradies unter den sozialistischen Ländern. Der Alte, wie ihn ein paar unverbesserliche Nostalgiker noch immer zu nennen pflegen, hatte feste Beziehungen zum Westen hergestellt, was den Bürgern seines Staates unter anderem auch Visumsfreiheit bei Reisen in westliche Staaten einbrachte. Zugleich wurden aber auch die nach dem Bruch mit der Sowjetunion eingeschlafenen Kontakte zu einigen Ostblockländern wiederbelebt: der [damaligen] Tschechoslowakei, Polen und Ungarn. Ich werde nie vergessen, wie ein paar meiner Lehrer nach der Rückkehr von einem Besuch in Polen von diesem »billigen« [nicht »armen«] Land schwärmten, denn sie hatten dort gewissermaßen als reiche Touristen auftreten und in den Geschäften Dinge einkaufen können, die für ihre einheimischen Kollegen absolut unerschwinglich waren.

Zwanzig Jahre später haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Polen wurde untrennbarer Bestandteil Europas, während es den Menschen in den Staaten, die aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangen sind, in der Regel schlechter geht als den Polen damals in den achtziger Jahren.

Die Aufhebung der Autonomie des Kosovo im Jahr 1989 verbot nicht nur das eigenständige politische Leben wie nirgendwo sonst in Europa, sondern bezeichnete auch den Beginn des blutigsten Krieges in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Und während die militärisch-polizeiliche Maschinerie von Slobodan Milošević die Kosovaren unter Kontrolle brachte, liefen die Provokationen weiter und lösten anschließend Kriege in allen Gebieten des ehemaligen Jugoslawien aus. Im Jahr 1991 schickte er die Armee für einige Stunden gegen die Slowenen, die er dann aber »ziehen ließ«. Es folgte ein blutiger Krieg in Kroatien, wo Orte wie Vukovar und Knin in der Krajina zum Synonym für Massentötungen, systematische Vertreibung und unüberschaubare Flüchtlingskolonnen werden sollten. Dann beschloss er, in Bosnien-Herzegowina weiterzumachen, wo das junge Europa von 1992 bis 1995 seinen bis dahin grausamsten Krieg nach dem Ende des Kalten Krieges erleben sollte. Dort wurde die Hauptstadt Sarajevo zum Synonym für die längste Umzingelung und Belagerung einer Stadt seit Jahrzehnten. Und die Stadt Srebrenica im Osten der einstigen jugoslawischen Teilrepublik wurde zum Synonym für das schlimmste Massaker in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges: Binnen 48 Stun den nach dem Fall der einstigen muslimischen Enklave im Juli 1995 ließen dort Radovan Karadžić, der politische Kommissar von Milošević, und General Mladić, der militärische Vollstrecker, auf Befehl Belgrads 8000 unschuldige Männer und Jungen massakrieren. Während all dieser blutigen Jahre, während welcher Milošević in Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina kämpfen ließ und sich erst im allerletzten Augenblick dem militärischen Gegendruck beugte, blieb das Kosovo unter der Knute Belgrads.

Die Verluste in Kroatien und Bosnien-Herzegowina, wo die Nato nach Srebrenica doch mit ihren Bomben eingegriffen hatte, hatten Milošević stark geschwächt. Zumal die Wirtschaft Serbiens so schwer getroffen war, dass er einen neuen Krieg brauchte. Im Kosovo dagegen sah die albanische Jugend ihre Hoffnungen auf Ibrahim Rugova und den Westen enttäuscht. Die Situation im Kosovo Anfang 1997 war identisch mit jener in Bosnien-Herzegowina Anfang 1992, nur hatte es Milošević in diesem Fall noch eiliger, die Sache rasch fertig zu bringen, solange die kosovo-albanische UÇK den serbischen Soldaten und Paramilitärs nicht standhalten konnte. Der Kosovo-Krieg begann schon im Frühling 1997, eskalierte 1998 und endete in der Nacht zum 10. Juni 1999, als in Kumanovo in Mazedonien die Serben ihre Kapitulation nach dem monatelangen Nato-Bombardement unterschrieben.Dann kam die Nachkriegszeit.

Das Milošević-Regime in Belgrad wurde gebrochen. Im Kosovo war und ist die massive Präsenz der internationalen Zivilmissionen der UN, der EU, der OSZE sowie die Militärmission der Nato dazu da, den Behörden und Institutionen dieser jungen und zerbrechlichen Republik beim Wiederaufbau zu helfen und sie zugleich zu überwachen.  

Auch zwölf Jahre nach dem Krieg sind die Probleme mannigfaltig – von der beängstigenden Armut über die Korruption bis zum immens schwierigen Wiederaufbau der Kommunikationsbrücken zwischen der albanischen Mehrheit und der serbischen Minderheit, die weiter in der serbischen Hauptstadt Belgrad die Rettung und in der kosovarischen Hauptstadt Prishtina die Bedrohung ihrer Existenz sieht.
Wir alle südlich von Kroatien, ob es nun in Serbien, Montenegro, Mazedonien oder Kosovo ist, haben schwer nicht nur an der Ausgrenzung aus Europa zu tragen, sondern auch an der regionalen Zerrissenheit. Am bittersten ist, dass für die untereinander zerstrittenen, unfähigen politischen Eliten in den betreffenden Ländern der Anschluss an Europa nicht mehr als ein Objekt der Spekulation ist, während es die Mafia-Organisationen dort längst gelernt haben, sich im Interesse ihres eigenen Wohlergehens über nationalistische Beschränkungen hinwegzusetzen. In ihrem Business, dem Menschen-, Zigaretten- und Rauschgiftschmuggel, funktioniert die grenzüberschreitende Zusammenarbeit.

Wir auf dem Balkan sind noch weit entfernt von einer wirklichen Annäherung an Europa. Vermutlich werden wir noch Jahrzehnte brauchen. Nicht nur die wirtschaftlichen Vorteile, die diese Region hatte, sind in den zehn Jahre mörderischer Kriege zerstört worden, sondern auch die Hoffnung, dass sich in den postkommunistischen, postnationalistischen Gesellschaften rasch eine starke und wirksame proeuropäische Bewegung entwickeln könnte.

Trägt Europa eine Mitschuld an der Situation, unter der wir immer noch zu leiden haben? Ja und nein. Ja, weil es absurd ist, dass sich die Diplomaten Europas gewissermaßen um den Balkan herumbewegen, wenn sie in die Türkei reisen, um Bedingungen für eine Mitgliedschaft in der EU auszuhandeln.

Nein, weil den Völkern auf dem Balkan, besonders aber ihren politischen und intellektuellen Eliten niemand die Entscheidung für eine Zukunft in Europa abnehmen kann. Der Aufsatzwettbewerb, an dem Kreshnik aus Prishtina, Hauptstadt des Kosovo, teilnimmt, in allen Ehren, aber eigentlich müssten aus Brüssel mehr und effektivere Initiativen kommen, was die Heranführung des Balkans an Europa betrifft. Vielleicht ist man in der europäischen Hauptstadt aber auch der Meinung, dass erst auf Kreshnik und seine Generation gesetzt werden kann?

© Text: Beqë Cufaj, ilb.de; Fotos: Secession Verlag





 


 

 



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