LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
info@letnapark-prager-kleine-seiten.com




Der Oligarch - Ein Beitrag zur Berufskunde

von Wolfgang Kemp


Der Oligarch ist reich, er ist so reich an Merkmalen, Attributen, Accessoires und Spielzeug, dass er sich instinktiv dagegen wehrt, Oligarch zu heißen. Aber was dann? Tycoon, das verstehen nur Leute, die alte Hollywoodfilme sehen. Plutokrat ist was für Micky-Maus-Leser. Mogul, da denkt man schon wieder an die große Zeit von Hollywood. Der Oligarch aber ist heute zuallererst Russe und in zweiter Linie auch Ukrainer. Magnat? Geht schon eher, aber es bietet dem Oligarchen keine Perspektive. Der Oligarch, zumindest der klassische Oligarch der Nach-Perestroika-Ära, ist nämlich heute in einer schwierigen Übergangsphase. Was ihm wirklich erstrebenswert erscheint, wäre der Titel Philantropist, aber das verstünde außerhalb von Großbritannien und den Vereinigten Staaten niemand. Was wiederum nichts macht, denn der Oligarch strebt ein Leben und Wirken in eben diesen Ländern an. Schweiz ist Geschichte, die Côte d’Azur zu plebejisch, Toskana geht, aber London, London ist für den Oligarchen, was Rom für Goethe war. Die Umbenennung in Londongrad steht unmittelbar bevor.
Es fällt auf, dass auch die Forschung die Bezeichnung, ja das Phänomen Oligarch umgehen möchte und Anführungsstriche setzt, wenn sie darauf rekurriert. Stattdessen spricht man lieber von Wirtschaftseliten, ökonomisch relevanten Akteuren, von FIGs (finanzindustriellen Gruppen), informellen Entscheidungsträgern oder Korruptionsnetzwerkern. Das Konzept Oligarch hat in den Augen der Zeithistoriker mehrere Nachteile: Personalisierung,Konzentration auf eine zu kleine Zahl von Akteuren und natürlich die Nähe zum journalistischen Interesse an diesem Personenkreis. Man verlangt nach abstrakten Strukturen und Modellen, also dominieren Netzwerkanalysen und neoinstitutionelle Ansätze, die aber an der Größe Oligarch scheitern müssen – auf jeden Fall gilt das bis etwa 2005. Auch an der Größe ihrer kleinen Zahl scheitern sie. Monarchen lassen sich auch nicht ignorieren, weil sie allein regieren. Oligarchie bedeutet schließlich Herrschaft der Wenigen.

Der Oligarch, dies sei vorausgeschickt, ist einerseits – zum Glück – eine seltene Spezies, agiert andererseits aber heute an der Spitze eines Trends, der die Mehrzahl der Gesellschaften in West und Ost erfasst: Das ist der Trend zu massiver sozialer Ungleichheit. Wenn in Russland ein Einkommen aus vielen Milliarden gegen einen Durchschnittslohn von monatlich 700 Euro gerechnet wird, dann denkt man: Inkommensurabel, aber der Unterschied von 1 zu 200, die Differenz zwischen dem Einkommen eines einfachen Arbeiters oder Angestellten und den Gehältern der Topmanager amerikanischer Konzerne sprengt doch auch schon das soziale Gleichgewicht und wird (noch) von einer Gesellschaft ausgehalten, die keine hundert Jahre Einübung in gleich niedrige Einkommensverhältnisse hinter sich hat wie die russische.


2011 bezog der Chef von Apple 375 Millionen Dollar an „Kompensationen“, wie es im Amerikanischen so keusch heißt. Damit lag sein Gehalt 6200-mal höher als das eines durchschnittlichen Apple-Mitarbeiters. Man kann das auf den globalen Maßstab übertragen: Oxfam wies neulich nach, dass die Wirtschaftskraft der 85 Reichsten erst dann aufgewogen wird, wenn 3,5 Milliarden der ärmsten Menschen ihr Einkommen in die Waagschale werfen. Das Phänomen der wachsenden Ungleichheit machte Thomas Pikettys Le capital au XXIème siècle zu einem Instant-Klassiker des Jahres 2013, aber die Oligarchen des Ostens werden bei ihm nur in einem Satz erwähnt – aus den oben erwähnten Vorbehalten: Sie erscheinen eher wie ein wild aufschießendes Gewächs. Als Ausreißer aber sind sie keine Ausnahmen. In den Vereinigten Staaten hat man die Piketty-Lektüre mit einer Erinnerung an Robert Michels „eisernes Gesetz der Oligarchie“ (formuliert 1911) verbunden und sich direkt angesprochen gefühlt. Paul Krugman überschrieb seine enthusiastische Besprechung (in der New York Review of Books) mit Why We’re in a New Gilded Age – man beachte das Präsens. Wenn zehn Prozent der US-Bürger fünfzig Prozent der Einkünfte aus Arbeit und Kapital beziehen, dann kommt das ziemlich genau dem Verteilungsverhältnis gleich, das für das späte Vergoldete Zeitalter, für die späten Gründerjahre diesseits und jenseits des Atlantik galt.


Woran erkennt man den Oligarchen? Da die Wenigen, wie gesagt, über so viele Merkmale verfügen, ist diese Frage nicht ganz leicht zu beantworten. Das sündhaft teure Penthouse in London, der Fußballklub, die extravagante Geliebte und die alle Rekorde brechende Abfindung für die Ex-Ehefrau – alles einschlägig, keine Frage, aber wir entscheiden uns für ein anderes Standardattribut: die Jacht. Der Oligarch ist neben dem Scheich eine öffentliche Person, die in ihrem Wikipedia-Artikel einen eigenen Eintrag zum Thema Jacht hat. Das weiß vielleicht die Osteuropaforschung nicht, aber ansonsten ist das wohlbekannt. Früher sammelten einsame Männer die Laufnummern von Lokomotiven, heute geht das dank GPS auch vom Schreibtisch aus: Anbieter wie Live Marine Traffic nennen einem Standort, Kurs, Geschwindigkeit, alles was man über eine Jacht nicht unbedingt wissen will – die längste Oligarchenjacht mit Namen „Eclipse“ liegt jedenfalls im Moment des Schreibens im Hafen von Barcelona.


Der Oligarch als die Verkörperung materieller Macht

Angesichts des Schadens, den Oligarchen in ihren Ländern und weltweit anrichten, scheint es vielleicht frivol, mit einem so äußerlichen Attribut zu beginnen, aber es kann gezeigt werden, dass sich anhand der Jacht geradezu modellhaft erklären lässt, was den Oligarchen ausmacht. Die Jacht ist zuallererst etwas sehr Materielles, und von dieser Art ist auch die Macht des Oligarchen: Sie ist materielle Macht, nicht ideologische Macht, nicht politische Macht. Diese drei Formen von Macht sind nur schwerlich in eine Hierarchie zu bringen und nach Reichweite und Wirkung zu unterscheiden. Dies sei unterstrichen, weil die Tendenz automatisch dahin geht, Oligarchen nach ihrem politischen Einfluss zu beurteilen. Politische Macht ist aber nur leichter zu identifizieren und zu verfolgen.

Rinat Achmetow, der reichste Mann der Ukraine, hat dreihunderttausend Menschen auf seinen Lohnlisten. Die beschäftigt er aber nicht, um Herrscher der Ukraine zu werden. Er könnte zu diesem Zweck ganz einfach seinen Fernsehsender benutzen. Selbstverständlich kann der Oligarch materielle Macht, wann immer er es für nötig erachtet, in politische Macht übersetzen, aber man muss sehr genau zwischen Ansatz- und Endpunkt differenzieren. Um es stark zu vereinfachen und nur für die Länder sprechend, in denen es Oligarchen gibt: Die Politiker wollen herrschen und nebenher gerne reich sein, aber sie wollen sich dem Erwerb und der Erhaltung des Reichtums nicht übermäßig widmen. Auch nutzen Politiker das alte Privileg der Mächtigen, ihre Macht als Idealismus auszugeben. Der Oligarch kennt solche Versuchungen nicht. Er will unermesslich reich werden und bleiben. Der Oligarch braucht und benutzt die politische Sphäre: Es geht um Rahmenbedingungen und um unkomplizierten Zugriff auf Staatseigentum. Selten nur übernimmt er politische Ämter, und wenn, dann kurzfristig. Dass jetzt zwei Oligarchen zu Gouverneuren zweier Bezirke der Ukraine ernannt wurden und ein dritter ins Präsidentenamt auf-rückte, erinnert an die allererste Phase des russischen Oligarchentums, als die Sieben Banker nicht nur Boris Jelzin künstlich an der Macht erhielten, sondern dafür auch mit Regierungsämtern belohnt (bestraft?) wurden. Das war 1996 und für alle Seiten nicht sehr ergiebig und schnell vorbei.
Typisch ist vielmehr der politische Stil des bereits erwähnten Oligarchen Achmetow. Er ließ sich in das Parlament seines Landes wählen, wurde dort aber nur einmal gesehen. Er trug entscheidend dazu bei, dass der Gouverneur der Donezk-Region, Viktor Janukowitsch, in das Amt des Ministerpräsidenten aufrückte.
Das war um vieles effektiver als mühselige parlamentarische Kleinarbeit. Der Mann, der in Hunderten von Prozessen international die Behauptung hat untersagen lassen, er sei der Pate der Donezk-Mafia, Achmetow, hat sich von seinem Günstling Janukowitsch 2013 distanziert, dessen Versuch, sich aus dem Amt heraus in den Rang eines Oligarchen hochzuklauen, gründlich scheiterte.

Es bleibt die Frage: Wie aber werden der Ex-Präsident und der Oligarch ihren gemeinsamen Firmenbesitz entflechten? Vierzig Prozent des größten Transportunternehmens der Ukraine gehören auf dem Papier einem Mann, der auf dem Landsitz Janukowitschs Dienst tat und manchmal die Jacht des Präsidenten bewegte. Der Rest gehört Achmetow und seinen Puppen-in-der-Puppe-Firmen, auf russisch: matryoshki. Die Journalistin Sevgili Musayeva zog aus dem Material, das im Hauptsitz des Familienclans der Janukowitschs geschreddert wurde,einen intakten Überweisungsbeleg, der über 2,3Millionen Dollar für die Jacht „Princess 72 Y“ ausgestellt wurde. Dabei kann es sich aber nur um die Miete für ein oder zwei Jahre gehandelt haben. War das vielleicht auch das Schiff, mit dem Janukowitsch aus Sewastopol floh, wo es vor Anker lag? Jachten können für vieles gut sein, nicht nur als Leitmotiv für einen Artikel über Oligarchen.
Welche Jacht aber gehört Achmetow? Im Internet ist die Diskussion eröffnet. Er hat die Sache des Euromaidan unterstützt und sich gegen die pro-russischen Tendenzen der von ihm ökonomisch beherrschten Donezk-Region ausgesprochen. Der Maidan aber fordert auch die Rücknahme der „Enteignung des Staates“ durch die Oligarchen. Renationalisierung ist eine Parole.

Detaillierte Listen, umfangreiche Dossiers und Entschlüsselungen der Firmenstrukturen und Strohmänner liegen vor. Sollte jetzt etwas schief gehen, wartet auf Achmetow in London sein Penthouse, die teuerste Immobilie der Welt. Von dort ist es nur ein Fußweg, will er die Frau seines Kollegen und Konkurrenten Dmytro Firtasch besuchen, des achtreichsten Oligarchen der Ukraine (Jacht „Oboz“, 70 Meter), der im März 2014 auf Verlangen der Vereinigten Staaten in Österreich festgenommen wurde.
Noch einmal: Die Macht des Oligarchen ist materielle Macht. Er kann sich mit ihr vieles kaufen, auch Abgeordnete, auch führende Politiker, aber er wird dies nur tun, um seinen Reichtum zu vermehren. Ende März erließ der Stahlmagnat Wiktor Pintschuk (Jacht „Oneness“, 45 Meter, ohne Gewähr) eine Botschaft an sein ukrainisches Volk, in der dasselbe die erstaunlichen Sätze lesen konnte: »It is necessary to reach the point when money does not gain power and power does not gain money in Ukraine.«

Pintschuk ist verheiratet mit der Tochter des ehemaligen Präsidenten Leonid Kutschma, der für die Oligarchen seines Landes so nützlich war wie Jelzin für die russischen. Einer der größten Betriebe der Metallbranche sollte für eine so lächerlich niedrige Summe an Pintschuk und einen Partner gehen, dass Julia Timoschenko aus guten Gründen oder aus schierem Oligarchenneid den Deal rückgängig machte. Aber der Oligarch konnte in der Zwischenzeit Vermögen und Einfluss durch die Erweiterung seiner Aktivitäten in den Medien- und Finanzsektor ausbauen. Wenn er für die Europaorientierung der Ukraine eintritt, hat das gute geschäftliche Gründe. Wenn er politische und materielle Macht voneinander abkoppeln will, dann empfiehlt er sich den Euromaidan-Leuten als ein guter Oligarch, einer, der auf Androhung von Strafe nicht mehr als solcher tituliert werden will. Es gibt freilich auch ein anderes Motiv: Europe is more fun. Dort, genauer in Courchevel, feierte er zum Beispiel 2010 eine Geburtstagsparty mit dreihundert Gästen aus Showbusiness und Politik – Kostenpunkt: 7,8Millionen Dollar (ab jetzt immer Dollar, das war von Anfang an die Währung in der Oligarchei).


Die Jacht isoliert, schützt und macht autark

Wie ein Penthouse, so isoliert auch die Jacht und eröffnet eine Welt für sich. Der Oligarch alten Stils ist ein Einzelkämpfer. Er schließt kurzfristige Bündnisse mit Rivalen und Politikern, aber dabei geht es in der Regel mehr um die Absteckung von Claims als um echte Kooperation. In der Frühzeit trafen sich die Oligarchen regelmäßig in einem James-Bond-artigen und total abgeschirmten Villenanwesen in Moskau. Sie versuchten, sich als Netzwerk zu organisieren und sogar schriftliche Regeln aufzustellen, aber wie David E. Hoffman in The Oligarchs (2002), seiner klassischen Darstellung der Anfangsjahre, schreibt: „They wanted protection – from each other.“
Dieser Nichtangriffspakt hielt nicht sehr lange, danach flammten immer wieder Kriege auf, was uns darauf verweist, dass der Jacht-Eigner zwar den Oberbefehl hat, aber natürlich eine Mannschaft braucht – zu Lande ist das jeweils eine kleine Privatarmee. Wie der Oligarch mit Partnern umgeht, zeigte exemplarisch die kurzfristige Kooperation von British Petroleum und TTK, einem Ölkonglomerat in Oligarchenhand. Der britische Repräsentant von BP in Moskau musste die Stadt fluchtartig verlassen, denn die Justiz, von seinen Partnern bestochen, war hinter ihm her. Er kam als kranker Mann im Westen an: Man hatte versucht, ihn zu vergiften.

An den Jachten selbst lässt sich die Sonderstellung des Oligarchen ablesen, wenn wir auf ihre wiederum James-Bond-reifen Gadgets achten. Sie sind so schnell, dass sie auf dem Wasser kaum jemand einholen kann, sie haben Helikopter an Bord, und die neuesten Extras: Mini-U-Boote und Flugabwehrraketen vervollkommnen den Charakter dieser Schiffe als schwimmende Festungen. Das ultimative James-Bond-Design gab aber Philippe Starck der „A“ (119 Meter), A wie Andrei Melnitschenko (Metall, Banken), die wie ein U-Boot gepanzert und spitz im Wasser liegt – eine „stealth yacht“ nennt sie Starck. Aggressiv und unsichtbar zugleich, schnell und hochgerüstet – damit verweist die Jacht auf die älteste und die hauptsächliche Sorge, die den Oligarchen noch mehr als der Erwerb und die Vermehrung des Reichtums beschäftigt –, und das ist der Schutz des Reichtums.



Dass dieser meist unrecht erworben wurde, zumindest nach westlichen Maßstäben, flößt dem Oligarchen zwar kein schlechtes Gewissen ein – Letzteres ist vielleicht der einzige Luxus, den er sich nicht leistet –, aber dass er über Nacht so immens reich wurde, diesen schwindelerregenden Aufstieg begleitet notwendig der Gedanke an die ebenso plötzliche Umkehrung ins Gegenteil. Hinzukommt, dass die Oligarchen den Abstand zwischen Arm und Reich in ihren Ländern ins Unvorstellbare gesteigert haben und dass solche Differenzen die ewige Frage nach der Berechtigung von Besitz wach halten, zumal in ehemals kommunistischen Gesellschaften. Die meisten Oligarchen sind so alt, dass sie auf der Schule noch den Satz „Eigentum ist Diebstahl“ (Proudhon) gelernt haben dürften. Die allgemeine Rechtsunsicherheit, die die Oligarchen im Grunde seit ihren Anfängen begünstigt und die sie weiter begünstigen, kann sich plötzlich gegen sie wenden, und so sind sie gehalten, einen beträchtlichen Teil des Reichtums aufzuwenden, um Reichtum zu schützen. In Oligarchenkreisen setzt man etwa ein Viertel der Ausgaben dafür ein. In seiner Studie Oligarchy (2011) hat Jeffrey A. Winters seine Definition ganz auf diesen Aspekt abgestellt: „Oligarchy refers to the politics of wealth defense by materially endowed people.“


Ihre Jachten sind so groß, dass sie auf ihnen auch dauerhaft leben könnten. Blohm + Voss mussten die „Eclipse“, die Jacht des Oligarchen Roman Abramowitsch (Öl), während der Bauzeit zweimal verlängern, um Mitbewerber aus den Feld zu schlagen und die stolze Rekordzahl von 162,5 Metern zu erreichen. Der Rekord war zwar bald gebrochen und steht im Moment bei 180 Metern, aber der Besitzer der „Eclipse“ kann darauf verweisen, dass er fünf Jachten sein Eigen nennt. Abramowitsch zahlte für seine Jacht bis zu 850 Millionen. Das Auftragsvolumen mag stimmen, aber keiner kommt mit so vielen plötzlichen Extrawünschen wie der Oligarch. Nachbesserungen aber sind der Nährboden, auf dem die internationalen Rechtsanwaltskanzleien gedeihen. „Litigation“ ist das zuständige Wort, dem man sogleich anhört, wie unangenehm die Sache sein kann. Oligarchen sind Master-Litigatoren, auf ihren Wikipedia-Einträgen findet sich außer der Rubrik „Jacht“ auch die Sparte „Prozesse“. Oligarchen streiten für das Recht, weniger oder am besten gar nichts zu zahlen. Die derzeit längste Privatjacht, die einem Scheich gehört, kostet jährlich 60 Millionen an Unterhaltungskosten. Für die „Eclipse“ liegt eine solche Ziffer nicht vor, aber sie dürfte ähnlich hoch sein und würde damit eines klarstellen: Um die Rechnung für ein zusätzliches Badezimmer wird vor Gericht gestritten, aber die Betriebskosten, die in hohem Maße Sicherheit garantieren sollen, werden klaglos hingenommen.


Loans for share: Frühkapitalismus als Kleptokratie

All das hat mit dem Aufstieg der Oligarchen zu tun, den wir jetzt ein wenig genauer betrachten müssen. Ihr erstes Geld kam meist aus sehr simplen Devisenspekulationen. Um es dauerhaft gewinnbringend anzulegen, kaufte man die Anteile großer Staatsbetriebe auf. Das eigene Kapital hätte aber dazu niemals ausgereicht; zu Hilfe kam den prospektiven Oligarchen ein bis heute kaum glaubliches Verfahrensmuster, das im Westen unter dem Begriff loans for share in die Geschichte eingegangen ist. Das neue Russland war ökonomisch schwer angeschlagen, es brauchte sehr schnell sehr viele Rubel, um Gehälter und Pensionen bezahlen zu können. Also wurde Geld geliehen und Anteile an Unternehmen als Sicherheit ausgegeben. Der eigentliche Deal begann jedoch erst ein Jahr später, wenn der Staat nicht zurückzahlen konnte, was er nie konnte. Dann waren die Leihgeber berechtigt, die Anteile zu versteigern – und dies in eigener Regie.
Wen wunderte es, dass der Versteigerer in den allermeisten Fällen zum neuen Besitzer aufstieg? All das hätte aber auch noch nicht funktioniert,wenn der Wert der Anteile korrekt berechnet worden wäre. Die zukünftigen Oligarchen hätten dieses Kapital nie gehabt, und westliche Investoren interessierten sich zur Zeit der ersten Auktionen nicht für Russland. Man nimmt heute an, dass die Anteile im Durchschnitt für ein Zweihundertstel ihres realen Wertes weggegeben wurden. Warum? Zum einen peitschten die Reformer das Projekt Privatisierung um jeden Preis durch, weil sie nicht ohne Berechtigung den Rückfall in den Kommunismus fürchteten. Zum anderen war schlicht Bestechung im Spiel. Bestochen wurden sowohl diejenigen, die die Werte ansetzten, als auch diejenigen, die die schleppende und irgendwann ganz ausbleibende Begleichung der Schulden ignorierten.
Was uns wieder zur Jacht zurückbringt und dem Bestreben der Oligarchen, weniger zu bezahlen. Sie sind es nicht anders gewöhnt. Der heute so bemitleidete Oligarch Michail Chodorkowski (Jacht „Lauren L“, 90 Meter) soll in die Versteigerung der Ölfirma Yukos mit Geldmitteln gegangen sein, die Yukos gehörten! Eine weitere beliebte Maßnahme, die ersten Unkosten loszuwerden, war das „Mergen“. Der Oligarch ist ein Master-Merger. Firmen werden verschmolzen und wieder neu geteilt und umgruppiert und an irgendwelche Holdings verkauft – und siehe da, das einzige, was diese Holding nicht mehr halten kann, das sind die lächerlichen Altschulden. Die klassische Betriebsform des Oligarchen ist freilich das Konglomerat. Konglomerate verstecken sich gerne unter nichtssagenden Großbuchstaben wie AAR, AAA oder SSAqL. „Basic Element“ aber ist der einzige Firmenname eines solchen Gebildes, der wirklich etwas aussagt. Davon sprechen wir später.


Zwei Symbolorte: Datscha und Jacht

Jeder Symbolort hat ein Doppel, das ihm vorausgeht und das er in eine neue Dimension überführt. Im Fall der Jacht ist es die Datscha, das traditionelle Holzhaus, irgendwo auf dem platten Lande versteckt, für die Russen ein Rückzugsort aus dem System der totalen Überwachung. In der legendären Datscha 15 brütete in den frühen neunziger Jahren eine kleine Gruppe junger, wild entschlossener Reformer das Blueprint für den Übergang vom Kommunismus zur Marktwirtschaft aus. Am Ende der darauf folgenden größten Umverteilungsaktion in der neueren Geschichte stand die Jacht, das Ergebnis und Symbol eines parasitären Kapitalismus.
Die Männer der Datscha 15 waren Verschwörer, sie waren eine Gesellschaftsordnung gewohnt, die neue Gedanken und Handlungen strikt unterdrückte; sie waren auf fatale und so nicht intendierte Weise erfolgreich, aber diejenigen, die dann das Heft in die Hand nahmen, die Oligarchen, hatten

nicht nur dieselbe Prägung erfahren, sie behielten auf ihren Jachten das Prinzip Datscha bei: einsame Entschlüsse, versteckte Operationen, Agieren durch Strohmänner, verschachtelte Firmenkonstruktionen.
1990 wurde in der Nähe von Sankt Petersburg eine neue Datschenkolonie gegründet. Das Mitglied Putin stieg sehr schnell zum Staatspräsidenten auf, seine Nachbarn gelangten in hohe Ämter im Staat und in Staatsbetrieben. Das war der Typ Datscha 2, der eine neue Machtstruktur etablierte, die an die Stelle einsamer Entschlüsse die koordinierte Aktion im Netzwerk setzte und den Oligarchen alten Stils den Krieg erklärte. Die Sankt Petersburger Datschenkolonie war in zwei weiteren Machtgeflechten abgesichert: den Sicherheitsdiensten und der Stadtverwaltung. Putin kam 1990 zur Verwaltung der Stadt an der Newa und vergaß seitdem seine Kollegen nicht: Dreizehn Männer aus dem höheren Verwaltungsstab machten Karriere in führenden Positionen in Wirtschaft und Politik – und dies oft im Wechsel.
Das beste Beispiel ist Dmitri Medwedew, den Putin in der Stadtverwaltung kennenlernte und der seitdem Dienst tat in der Holzindustrie, in der Moskauer Präsidialverwaltung, beim Energiekonzern Gazprom, wieder in der Präsidialverwaltung, als Premierminister, als Staatspräsident und wieder als Premierminister. Der Begriff Tandemokratie, mit dem man die regelmäßige Stabübergabe zwischen Putin und Medwedew bezeichnet, lässt sich auch auf die Rochaden der Wirtschaftsbosse und Politiker im Russland Putins übertragen. Da Staatseigentum im großen Stil nicht mehr abgegeben wird und im Gegenteil die Staatsquote wieder wächst – auf derzeit etwa sechzig Prozent–, ist auch das oligarchische Ziel des Privatbesitzes an einem großen, am besten monopolistischen Firmenkomplex nicht mehr gegeben. Die Bereicherung geschieht heute anders. Es werden milliardenschwere Staatsaufträge vergeben, in deren Kalkulation gleich jenes Drittel eingepreist ist, das dann den Männern des engeren Putin-Kreises zufließt. Oder, wie es die Bundeszentrale für politische Bildung in ihrem Russland-Dossier so schön ausdrückt: Um sich dauerhaft ihrer [der Hochbürokratie] Unterstützung zu versichern, beteiligte Putin sie an staatlichen Wirtschaftspfründen.

Es werden also große Blöcke von Anteilen an Staatsunternehmen weitergereicht, ohne dass aber, wie gesagt, Privatisierung auch nur mitgedacht wäre. Die Namen der derart Begünstigten und kremlnahen Unternehmen liest man heute auf den Sanktionslisten, die nach der Besetzung der Krim

von den USA und der EU verhängt wurden. Wie man die neuen Typen nennen soll, ist schwer zu sagen. Nicht wenige dürften sich aus der Silowiki-Fraktion des Kreml rekrutieren, den „Machtmenschen“ und Sicherheitsleuten, die streng anti-oligarchisch eingestellt sind. Auf Kosten des Staates sich bereichernde „Staatisten“ – wie alles in Russland wäre das durch und durch hybrid. Die russische Seele hat sich selbst und dem Westen immer große Probleme bereitet. Wie soll sie zur Ruhe gelangen, wenn schon die Strukturen im Großen sich als so gespalten erweisen?
Die Nachfolger der Oligarchen hüten sich, als solche aufzutreten. Putin hatte bald nach seinem Machtantritt den alten Oligarchen den Kampf angesagt. Einige liefen zu ihm über, für die anderen statuierte er das Exempel Michail Chodorkowski.

 

Den Besitzer von Yukos, des größten Nach-Perestroika-Konzerns, hielt er so lange eingekerkert, um seinen Genossen eine deutliche Warnung auszusprechen. Chodorkowski hing sozusagen als das lebende Schwert des Damokles über den Häuptern der Oligarchen. (Damokles war einer, der nach der Macht des Tyrannen strebte.) Im Westen verachtete man das Verfahren als Schauprozess. Das mit der Schau ist korrekt, die Anklage als solche aber bestand völlig zu Recht. Ob die Beschuldigungen im einzelnen einwandfrei formuliert waren, ist völlig egal: Wie alle Oligarchen hatte der Mann so viel Dreck am Stecken, dass er im Westen ebenfalls viele Jahre eingesessen wäre. Jetzt hat Chodorkowski den Rang als reichster aller Oligarchen eingebüßt und dürfte mit 150 Millionen Restgeld knapp über  die Runden kommen. Für den doppelten Betrag hatte er 1995 in einer manipulierten Auktion seinen Ölkonzern erworben. 2003 war das Unternehmen 27 Milliarden wert. Irgendwie kann man Putin verstehen. Der Oligarch hatte ihm in einer 
Fernsehdebatte vorgehalten, dass viele Regierungsbeamte bestechlich seien. Putin hätte an dieser Stelle einfach in ein schallendes Gelächter ausbrechen müssen, aber das ist ihm nicht gegeben. Er wählte das primitive Mittel der Retourkutsche und ließ Chodorkowski unter anderem wegen aktiver Bestechung festnehmen.

 


Des Oligarchen Lieblingsort: vor der Küste, auf der Jacht

Ein unverzichtbares Element im Betriebssystem des Oligarchen heißt „offshore“. Offshore ist die

Datscha des entwickelten Oligarchentums; jetzt schließt der Symbolort auch zum Vehikel auf: Offshore-Firmen liegen ja meist in Weltgegenden, die von Jachten angesteuert werden. Sie bilden den relativ sicheren Hafen für das zusammengeraffte Vermögen, sie ersparen Steuern, sie waschen Gelder und sind gut für die Abwicklung all der vielen illegitimen Zahlungen, die ein Oligarch so zu leisten hat.

Als Wladimir Potanin (Jacht „Anastasia“, 76 Meter) sich 1997 auf die Auktion vorbereitete, die ihn zum Teileigentümer der nationalen Telefongesellschaft machte, ließ er die Geldmittel durch ein System hinter- und ineinander geschalteter Firmen sammeln und weiterleiten: von einer Firma namens Bideo auf Zypern, durch eine Firma Investci auf den Virgin Islands, die als Fassade der Firma Svyaz Finance Ltd. diente, und von dort wieder zurück nach Zypern, wo am Ende der stillen Post das Unternehmen IFCI wartete. Die Oligarchen haben das Spiel über die Bande Offshore nicht erfunden. Potanins Kompagnon war damals George Soros. Spätestens dann wusste man in Russland, wie man so etwas aufzieht.

 

Zypern – wir erinnern uns: Bankenkrise 2013. Als die Europäische Union die Verluste zyprischer Banken zum Teil auf die Anleger, darunter auf die milliardenschweren Russen, abwälzte, sprach Dmitri Medwedew etwas verwirrend, aber nicht falsch vom „Diebstahl dessen, was bereits gestohlen wurde“. Der Janukowitsch-Clan mietete die oben erwähnte Jacht über eine Briefkastenfirma, die ihren Sitz auf dem Majuro-Atoll der Marshallinseln hat. Bei Youtube kann man sich in einer Reihe faszinierender Filmchen anschauen, wie Flieger auf dem Atoll landen, auf einem dünnen Streifen Beton zwischen Meer links und Meer rechts. Landeten hier auch, elektronisch natürlich, die siebzig Milliarden, die nach Angaben des Interimsministerpräsidenten in den letzten drei Jahren aus dem ukrainischen Staatshaushalt abgezweigt wurden? Die Mutter der Firma auf dem Korallenriff Majuro sitzt in Kiew. Kiew-Majuro-Atoll: Ist es das, was wir uns unter Weltwirtschaft vorzustellen haben? Andererseits: Die Marschall-Inseln gehörten als Kolonie einmal zum Deutschen Reich.

 

Das System Offshore spart zuallererst Steuern. Rusal, die weltgrößte Aluminiumschmelze, bis zum Börsengang Eigentum von Oleg Deripaska, zahlte in den letzten sieben Jahren in Russland durchschnittlich zwei Prozent des Gewinns an Steuern, auf ihrem Hauptsitz Jersey durchschnittlich null. Offshore ermöglicht es dem Oligarchen auch, ungeliebte Miteigentümer zu schädigen oder auszuschalten. Michail Chodorkowski brachte seinen Ölkonzern Yukos außer Landes und löste ihn in ein unentwirrbares Netz von Firmen auf, die sich über eine Vielzahl von Steueroasen und Steueratollen verteilten. Diese Maßnahme ging Hand in Hand mit einer massiven Erhöhung des Aktienvolumens, die den Wert der Papiere ausländischer Investoren in etwa halbierte. Deren Klagen gingen unter im Offshore-Dschungel. Muss noch dazugesagt werden, dass nur ein in Russland eingetragenes Unternehmen eine solche Kapitalerhöhung vornehmen durfte? Nachforschungen in diese Richtung gingen unter im Onshore-Dschungel der russischen Machtgeflechte.


2013 eröffnete das International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) die Offshore-Leaks-Datenbank, einen Tresor mit 5,4 Millionen Seiten, das macht 260 Gigabyte. Die Recherche-Aufträge hat das internationale Journalisten-Gremium an zuverlässige Zeitungen in dreißig Ländern vergeben. Lokalforschung biedersten Stils ist gefordert: Zehn Firmen mit international klingenden Titeln sind in diesem Einzimmerbüro in einem Vielfamilienhaus in X angesiedelt. Wer ist dort gemeldet? Ist dieser Herr Y vielleicht der Strohmann des Oligarchen A oder des Politikers B? Die Journalisten machten sich mit großem Elan an die Sache, auch in Deutschland, aber nach relativ kurzer Zeit kehrte verdächtige Stille ein. War man im Datenmeer untergegangen? Dabei bilden die 5,4 Millionen Seiten nur fünf Jahre im Geschäftsleben von nur zwei Offshore-Investment-Firmen ab, die zusammen 170.000 Kunden, in der Mehrzahl natürlich Scheinfirmen und Schattenmänner, betreuen. (Aber auch die Deutsche Bank ist Kunde, was niemanden wundern wird, wenn tax efficiency das Mantra dieser Branche ist. Sie ließ für deutsche Anleger Unternehmen gründen und kontrollieren, die vertrauenserweckend „Thrilling Returns Incorporated“ oder „Amazing Opportunity Limited“ heißen.)
Einer der beiden Offshore-Dienstleister hört auf den seltenen Namen Portcullis, was so viel wie Fallgitter bedeutet. Das Fallgitter ist nach Jacht und Datscha das dritte Erkennungszeichen oder besser Tarngerät der klandestinen Wirtschaft der Oligarchen. Das Unternehmen erklärt sein martialisch zugespitztes und nagelverstärktes Gitter wie folgt: „By virtue of its appearance and ancient function, it is a potent symbol of safety, security and protection.“ Dass mit drei Worten dasselbe gesagt wird, versteht sich vor allem nach der peinlichen Offenlegung des gesamten Geschäftsverkehrs, aber der Sinn der Beschwörung reicht viel weiter und führt uns noch einmal zurück in die Geschichte des Oligarchentums.


Virtuelle Ökonomie

Das System der Puppen-in-der-Puppe- oder Schachtelfirmen, Firmenfassaden, Scheinfirmen und Offshore-Adressen erschien wie gemacht für das nach-kommunistische Russland, dessen Wirtschaft wir uns mit dem Begriff der Ökonomen Clifford Gaddy und Barry Ickes als „virtual economy“ vorstellen müssen. Am virtuellsten war im Russland der neunziger Jahre die Tatsache, dass die Volkswirtschaft ohne Geld auskommen musste: Der Staat zahlte Arbeitern und Rentnern keine Löhne und Renten, die Unternehmen bezahlten ihre Lieferanten nicht und blieben dem Staat die Steuern schuldig. Entgolten wurde durch Tausch. Eine gewisse Berühmtheit erlangte die Stadt Tscheljabinsk, die sich „umsonst“ eine U-Bahn von den Unternehmen bauen ließ, die ihr Steuern schuldeten. Da man den Arbeitern eines Tiefbauunternehmens aber keine U-Bahn als Entgelt anbieten kann, musste immer wieder reales Geld beschafft werden, durch neue Verkäufe von Staatseigentum, durch Anleihen, durch billig abgegebene Exporte, Geld, das mal kam und mal nicht kam, von den Bürgern unter der Matratze aufbewahrt wurde und zwar in Dollars – im Russland der neunziger Jahre waren 30 bis 40 Milliarden Dollar im Umlauf, mehr als in jedem anderen Land außerhalb der Vereinigten Staaten.
Im Land der virtuellen Ökonomie ist nichts sicher, auch nicht die Größenordnungen: Hier Kampf ums nackte Überleben, Zweit- und Drittberuf, Tauschwirtschaft, dort sagenhafter Reichtum, Scheinfirmen, in große, fantastische Fernen ausgelagerte Vermögenswerte, die sich in den Steuerarchipelen in der flüchtigen und höchst unwirklichen Form von Computerdaten niederschlagen: „Eine Geschäftstätigkeit ist in öffentlich zugänglichen Quellen nur für einen kleinen Teil der Firmen festzustellen“, hieß es nach der ersten Einsicht in das Offshore-Leaks-Material. Ohne den Spaß der Freibeuter verderben zu wollen: Das System Offshore ist im Stande, die Weltwirtschaft zum Einsturz zu bringen. Man schätzt, dass ein Drittel der weltweit flüssigen Mittel offshore angelegt sind. Mit ihnen wird nicht eine neue Milchbar auf Majuro eröffnet, sie werden spekulativ auf den internationalen Finanzmärkten eingesetzt. Das sind die Märkte mit der berühmten Dauer von 20 Sekunden, die ein Wertpapier es bei seinem „Besitzer“ aushält. Geld wird durch die Finanzkanäle gejagt, Geld wird gewaschen, es wird vielleicht reiner, aber nicht reeller. Im Gegenteil: Wenn schon jemand es schaffte, die Daten zu stehlen, wie lange wird es noch dauern, bis die Internationale der Geldwäscher ihren Meister in dem großen Datenbleicher findet? Ein Portcullis ist ein Gitter. Durch die Löcher kann Virtuelles leicht hindurch. Das einzige, was an realem Wert übrigbliebe, wäre dann die Jacht im Hafen.


Der Oligarch als Schädling (1): Rohkapitalismus

Die Jacht braucht ein basic element, so auch der Oligarch. Wie die Tycoons des 19. Jahrhunderts setzt er auf Rohstoffe, auf Kohle, Öl (deswegen heißt er auch: Oiligarch), Erze und auf ihre Veredlung in Hütten, Energiewirtschaft und Chemie. „Basic Element“ heißt eine Unternehmensgruppe, die der Oligarch Oleg Deripaska besitzt (Jacht „Queen K“, 72 Meter). Dies macht das Oligarchentum so abgrundtief widersprüchlich: Das Reellste überhaupt, die Bodenschätze, verwandeln sich in das schlichtweg Virtuellste, in Daten auf einem Konto auf einer Insel, von der niemand weiß, wo sie eigentlich liegt. Und natürlich in eine Jacht mit einem Pool, an dem liegend der owner gerade ein paar Millionen hat verschieben lassen. Aber zurück zum Rohkapitalismus, der eine sehr russische und sehr ukrainische Geschichte ist.

Diese Länder haben leider zu viel an Bodenschätzen, was unter heutigen Bedingungen eigentlich nur negative Folgen zeitigt: für die Ökonomie, die Ökologie und die politische Kultur. Die Oligarchen haben sich nicht für knifflige und Geist verzehrende Techniken interessiert. Gut, manche drängte es zu den Medien, aber der Fall Wladimir Gussinski war für viele ein Lehrstück. Dieser Oligarch hatte einen Fernsehsender erworben und ihn nicht zum Gefallen Putins betrieben. Nach ein paar Nächten in einer Zelle mit Red-Collar-Kriminellen verließ er Russland. (Mit seiner Jacht „Blue Star“ rettete er übrigens vor einigen Jahren die Insassen einer anderen Jacht, die an den Klippen der Marshallinseln gescheitert war. Was der Oligarch dort wohl wollte?) Der Sender Gussinskis ist heute im Besitz des Staatsunternehmens Gazprom. Dasselbe geschah Boris Beresowski (gestorben 2013, Jacht „Thunder B“, 50 Meter), der eigentlich Putin den Steigbügel gehalten hatte und dann nach London ins Exil gehen musste. Sein Sender ORT und seine Zeitung Kommersant erregten im Kreml Anstoß. Auch diese Zeitung gehört heute Gazprom. Der Rohstoffsektor erfüllt in Russland auch den geistigen Bedarf, wenn das der richtige Begriff ist. 

Zu Beginn dieses Jahrzehnts machten Rohstoffexporte bereits 70 Prozent aller Ausfuhren Russlands aus und waren damit seit 1999 um 26 Prozent gestiegen, während die Ausfuhr hochwertiger technischer Güter von 11 auf 5 Prozent fiel. Die von den Oligarchen besessenen Firmen haben durch die Einführung importierter Technik, geschulten Personals und hohe Investitionen in Zulieferbetriebe den Output eben enorm gesteigert. Ihre Gewinne wurden weiterhin durch den Preisanstieg, aber auch durch ganz auf den Rohstoffsektor ausgerichtete staatliche Infrastruktur-Maßnahmen wie Pipelines begünstigt. Die Wenigen bereicherten sich, und das Land geriet immer tiefer in die Abhängigkeit von Naturprodukten.


Der Oligarch als Schädling (2): Raiders

Das ist der eine bleibende Schaden, der den Oligarchen anzulasten ist. Der andere entstand aus dem Vorbild, das sie der nächsten Generation hinterließen. Dass man in Russland sehr schnell reich werden kann, diese Erfahrung wollten andere auch machen, auch nachdem die Phase der Privatisierung abgeschlossen war. Die Erben der Oligarchen heißen raiders, und sie „plündern“ nicht Staats-, sondern Privatbesitz. Ihr räuberisches Vorgehen wird nach den Farben schwarz (Gewalt), grau (Fälschung und Bestechung) und weiß (feindliche Übernahme) unterschieden. Am häufigsten ist das Bankrottverfahren: Anteilseigner und bestochene Justizbehörden erheben, oft an weit entfernten Gerichtsorten, Anklage wegen angeblicher Verfehlungen wie Unterschlagung, oder sie machen plötzlich enorm hohe Steuerschulden geltend, sogenannten Steuerterror. Die Gerichte frieren dann das Kapital und die finanziellen Transaktionen des Unternehmens ein, binnen kurzem ist es am Ende und wird übernommen, oft gar nicht weitergeführt, sondern nur ausgeplündert oder an interessierte Dritte verkauft. Das kann den Inhabern eines lukrativen Betriebs mit zweitausend Mitarbeitern genauso passieren wie dem Betreiber eines Restaurants oder dem Besitzer einer Eigentumswohnung. Die Plünderer schaffen es so nur zum Kleinoligarchen, aber sie haben ihren Schnitt gemacht. Das Vertrauen in Staat und Justiz war freilich schon vorher zerrüttet. Es mutete fast zynisch an, als Ministerpräsident Medwedew seinen Landsleuten neulich „Nihilismus in Rechtsdingen“ vorhielt.



Womit haben wir das verdient? Der Oligarch als Philanthrop

Was macht der Oligarch, wenn er raus muss oder will und der Rohstoffe überdrüssig ist? Emilio Largo, Auric Goldfinger oder Mr. Big, Bösewichte aus James Bond, die dem Namen nach in seine Richtung weisen, sind des Oligarchen Klassenziel nicht. Bis jetzt wenigstens nicht. Der Oligarch sucht nach allem, was er tun musste, nicht mehr das Böse, sondern das Gute, das ihm soziales Prestige einbringt – im Westen vor allem. Ein anderes griechisches Wort hört er gerne: Philanthrop.

Abramowitsch ist wieder ein gutes Beispiel: Erst kaufte er sich eine Fußballmannschaft, gewissermaßen die Rohkultur des Rohstoffhändlers, dann erwarb er eine ganze Insel in Sankt Petersburg, um dort die Jacht unter den Museen zu errichten (die Insel liegt tatsächlich spitz im Wasser): Dafür schafft er seit drei Jahren hektisch Kunst an und verdirbt alle Preise. Sein mit Aluminium, Öl und Petrochemie reich gewordener Kollege Leonard Blavatnik (Jacht „Odessa“, 50 Meter) stellt derzeit den merger mit dem kulturellen Kapital noch geschickter an: Er erwarb eine Villa an der Straße Kensington Palace Gardens, der teuersten Wohnmeile des Königreichs (Kostenpunkt: 200 Millionen Pfund). Dann läuterte er die neureiche Geste ebenfalls durch 
Kunstsammeln, vor allem aber durch eine 150-Millionen-Pfund-Spende an die Universität Oxford, die mit diesem Geld und unter der architektonischen Federführung der Edelbaumeister Herzog + de Meuron die Blavatnik School of Government errichten wird – „A School for Better Government“, wie sie sich selbst nennt.

Aber auch das Wort „Blavatnik“ im Titel macht Sinn, wie man im Englischen und leider auch im Deutschen sagt, denn in Großbritannien sind better government und Privatisierung Synonyme. Die öffentliche Hand ist jetzt schon ziemlich leer, aber vor kurzem gelang es, das Blutspenden an eine US-Firma zu verkaufen, und auch die Bewährungshilfe sowie die von ihr betreuten 228.000 „Klienten“ werden im Moment in private Regie übergeben. You say! Zum Schluss noch eine Antwort auf die Frage: Warum England? England ist auf dem besten Wege, das europäische Musterland in Sachen sozialer Ungleichheit zu werden – und damit das natürliche Habitat des Oligarchen. 1910 kontrollierte ein Prozent der Bevölkerung siebzig Prozent des nationalen Reichtums. Damals kamen vierzig Prozent der Einkommen aus Kapitaleinkünften. Das fiel dann stark ab, ist aber seit 1970 in stetem Aufstieg begriffen. Heute resultieren dreißig Prozent des Einkommens aus Kapitalbesitz und -verkauf und siebzig Prozent aus Arbeit und Fürsorge.
Vorschlag: Warum nicht „The Blavatnik School of Better Redistribution“? (In Klammern: „in favor of capital“, versteht sich.)
Blavatnik legte sich dann noch aus schwer nachvollziehbaren Gründen Warner Music zu, vielleicht ja auch, um seiner neuerwachten Anglophilie zu frönen. Warner Music gehören nämlich die Beatles-Rechte. Die Fabulous Four müssen das geahnt haben. Vor exakt fünfzig Jahren erschien ihr Album Beatles For Sale. Und was hören wir da? Wie John Lennon etwas trotzig fragt:
„What have I done to deserve such a fate?“



aus: Wolfgang Kemp: Der Oligarch. Merkur – Deutsche Zeitschrift für politisches Denken, 783. Leseprobe - http://volltext.online-merkur.de

© Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Rotebühlstr. 77, 70178 Stuttgart

© Fotos von oben nach unten: wikimedia.org; mosttranslation.eu; faz.net; cdn3.spiegel.de; format.at; teurejacht.de; payer.de; zeit.de; therussianoligarchs,com (2); de.ria.ru; static.guim.co.uk; gh4.hn.ee; static.a-z.ch; independent.co.uk



 

Wolfgang Kemp, *1946 in Frankfurt am Main, ist Professor für Kunstgeschichte an der Universität Hamburg. Veröffentlichungen zur Geschichte und Theorie der Fotografie, zur Rezeptionsästhetik und Erzählforschung, u.a.:

 

Foreign affairs. Die Abenteuer einiger Engländer in Deutschland 1900–1947. Hanser Verlag, München 2010, ISBN 978-3-446-23518-2

Architektur analysieren. Eine Einführung in acht Kapiteln. Schirmer/Mosel Verlag, München 2009, ISBN 978-3-8296-0262-4

Von Gestalt gesteigert zu Gestalt. Hokusais. 100 Ansichten des Fuji. Merve Verlag, Berlin 2006 (= Internationaler Merve-Diskurs, Nr. 291), ISBN 3-88396-225-2.

Foto-Essays. Zur Geschichte und Theorie der Fotografie. Erw. Ausg., Schirmer/Mosel Verlag, München 2006, ISBN 3-8296-0240-5

Kemp-Reader. Ausgewählte Schriften von Wolfgang Kemp. Hrsg.: Kilian Heck, Cornelia Jöchner, Deutscher Kunstverlag, München 2006, ISBN 3-422-06597-0
Theorie der Fotografie. I–IV, 1839–1995 Hg. mit Hubertus von Amelunxen, Schirmer/Mosel Verlag, München 2006, ISBN 3-8296-0239-1
Back to the Library! In: Wolkenkuckucksheim, 9. Jg., Heft 2, März 2005. Eduard Heinrich Führ, BTU Cottbus, ISSN1434-0984


23VIII14

 



Tweet