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Das seelenlose Land

Von Radka Denemarkova - 13. Februar 2010

 

Über die Last des Verdrängens in der Tschechischen Republik

 

Die tschechische Gesellschaft ist krank. Und nicht nur das. Sie lehnt es ab, sich behandeln zu lassen. Seit Jahrzehnten leben wir mit gefälschter Geschichte, und solange diese Wirrnis nicht aufgelöst wird, sind wir nicht wirklich frei. Wir leben in einem tragischen Land, in dem sich die Menschen nach Vergessen sehnen, und in ihrer Sehnsucht von der zeitgenössischen Kunst unterstützt werden. Die Abneigung gegen die Wahrheit haben wir mit den Russen gemeinsam. Wenn ich mir Gedanken über die zwei Jahrzehnte nach 1989 machen soll, denke ich zwangsläufig darüber nach, warum ich trotz Freiheit nur Kälte spüre. Logischerweise führen mich diese Überlegungen in die Vergangenheit, denn das Heute ist ihr Resultat. Eine tschechische Chronik herausquellender Kleinkariertheit, Scharfzüngigkeit und Rachsucht, endloser Sitzungen, Rundschreiben- und Fragebogenkonzepte, blinder Anpassung an das sowjetische Vorbild und autokratischer Entscheidungen von Nichtskönnern, Annalen permanenter Redeschwingerei, demoralisierter Arbeitseinstellung und separatistischer Gelüste seitens der Slowaken.

Die Stimmung in unserem Land speist sich aus der Überzeugung, wir seien lediglich eine Art Prellbock zwischen dem Westen und dem Osten. Dazu beigetragen hat auch unsere erste Massenhysterie: die Vertreibung der Deutschen von 1945. In der Schule hat man mir nie erzählt, dass vormals Tschechen und Deutsche hier Jahrhunderte lang friedlich nebeneinander gelebt haben.

Das Münchner Abkommen, das Heimholen der Sudetendeutschen zurück ins Reich, die Anwendung der Nürnberger Gesetze im Protektorat Böhmen und Mähren, die Okkupation, der Holocaust und die Vernichtung der jüdischen Kultur wie auch die auf den Nationalsozialismus folgenden Vertreibungen in der Nachkriegszeit beendeten die deutsch-tschechische Koexistenz gewaltsam.

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Böhmen und Mähren beinah drei Millionen Deutsche. Nach dem Zweiten Weltkrieg bekamen undifferenzierte, gehässige antideutsche Stimmungen die Oberhand. Vom Prinzip der Kollektivschuld ausgehend, vermengten sie sich auf eine absurde Weise mit dem traditionellen tschechischen Antisemitismus und fanden ihren Höhepunkt in der Vertreibung der Deutschen. Das jüdische und deutsche Element in der Geschichte der Länder der böhmischen Krone wurde mithilfe von nationalistischen Argumenten entweder verzerrt oder ganz ignoriert, manchmal wurde die ablehnende Haltung auch klassenkämpferisch untermauert. Die solcherart deklarierte - und ohnehin latent vorhandene - Aversion war bezeichnend für das Verhältnis zur deutschen Kultur insgesamt. Die organisierte Vertreibung der Mehrheit der deutschen Bevölkerung aus Böhmen und Mähren (Dezember 1945 bis Dezember 1946), die ja im Rahmen einer beabsichtigten nationalen Einheit ihre Rechtfertigung fand, wurde im Einvernehmen mit den Siegermächten ausgeführt. Bereits im Sommer 1945 kam es allerdings zu der sog. wilden Vertreibung, die durch Organe der Staatsmacht vor Ort durchgeführt und vom Terror und Massenmord an Deutschen, Kollaborateuren und unschuldigen, denunzierten Mitbürgern begleitet wurde. Diese Revolutionsexzesse nahmen die politischen Säuberungen nach Februar 1948 vorweg.

Bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts stellten in der Tschechoslowakei die deutsch-tschechischen Beziehungen ein zutiefst tabuisiertes Thema dar. Aus der Vertreibung der Deutschen leitete sich ein stark von Revisionismus und revanchistischen Tendenzen geprägtes Deutschlandbild ab. Die Deutschen waren vertrieben, die Juden tot oder im Exil. Für lange Jahrzehnte wurde jeglicher deutsche oder jüdische Beitrag zur tschechischen Kulturgeschichte praktisch verschwiegen.

 

Doktrin des Verdrängens

 

Die Atmosphäre der hiesigen Geschichtsverdrängung wird bis heute von populistischen tschechischen Politikern als Schreckgespenst benutzt (Präsident Václav Klaus begründete seine Weigerung, den Vertrag von Lissabon zu unterschreiben, mit dem Verweis auf "Revanchismus"). Außerdem bereitete die wilde Vertreibung anderen furchtbaren Geschehnissen den Boden. Der im amerikanischen Exil verstorbene Journalist Ferdinand Peroutka schrieb 1956 in einem Beitrag für Radio Freies Europa: "Durch die Vertreibung der Deutschen ist eine Atmosphäre entstanden, in der es möglich ist, den politischen Gegner ohne großen Alarm zu beseitigen, eine Atmosphäre, die ein Leben ohne Recht und außerhalb des Gesetzes möglich macht ... Dies sind die moralischen Folgen der Massenvertreibung, die bereits heute zu ahnen sind: Wenn es möglich ist, einen Menschen dafür zu bestrafen, dass er zu einer bestimmten Nation gehört, dann ist es auch möglich, ihn dafür zu bestrafen, dass er einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse oder politischen Partei angehört."

Nach der kommunistischen Machtübernahme von 1948 und der sowjetischen Okkupation von 1968 wurde der geltende Rechtsstatus für weitere Hunderttausende aufgehoben. Der Stalinismus florierte bei uns ohne Rücksicht darauf, was zur gleichen Zeit in der UdSSR passierte. Stalin galt bei uns als ein Vorbild - dabei wusste man bereits, dass er ein Massenmörder war. Jene Generation, die sich damals auf ihn berufen hatte, wischte 1968 mit einem einzigen Satz ihre Taten vom Tisch. Sie erklärte: "In unserer Jugend haben wir einige Fehler und Irrtümer begangen". Hinter dem Plural "wir" fanden viele Gesichter Platz. Die "Fehler und Irrtümer" hätten aber auch vermieden werden können. Man kann immer etwas nicht tun. Die Tschechoslowakei der 50er Jahre war ein korrumpiertes Terror-Regime mit Vorliebe für Massenmord, ein Staat, in dem die Rechtsgesellschaft verhöhnt wurde. Als hätten junge SS-Chargen mit dem Satz "in unserer Jugend haben wir Irrtümer begangen" die Welt beruhigen, als hätten sie damit ihre Unterstützung von Hitlers Regime vergessen machen können. Während diese Menschen in Deutschland als Kriegsverbrecher bezeichnet wurden, schloss man bei uns für ähnliche Taten keinen Menschen von der Teilnahme am öffentlichen Leben aus, weder für Verbrechen in den 50er Jahren (Verhaftungen und Schauprozesse, die Hinrichtung von Milada Horáková, Zwangstrennung von Kindern und Eltern, Enteignung von Eigentum, Zwangsexmatrikulation ganzer Jahrgänge nichtkommunistischer Studierender, Umsiedlung von Familien, Plünderung von Klostern, Vernichtung von Bibliotheken) noch für die in den 60er, 70er und 80er Jahren (keine Zulassung von Kindern der Klassenfeinde zum Studium, straflose Verbreitung von anonymen Denunziationen und Lügen. Die Mörder blieben an der Macht, weil sie als Rückendeckung sowjetische Panzer hatten).

Nach 1989 flüchteten sich die Verbrecher ins Parlament und in die Unternehmerkreise. Und was passierte mit den nicht gelebten, verkrüppelten Leben? Die Opfer haben schweigen müssen. Bis heute will keiner das Zeugnis der Überlebenden hören. Während zwanzig langer Jahre nach 1989 wurde kein einziges Mal erwähnt, dass ein Mensch sich nach seinen Taten und nicht nach seinen Worten bemisst. Die Worte kann man ändern, je nachdem ob wir gerade 1953 oder 1968 bzw. 1989 oder 2010 schreiben. Wer einmal auf der Seite von einem Regime stand, das gemordet hat, der muss sich zu seinen Taten bekennen. Das Verschweigen beleidigt die Toten. Und mit ihnen auch diejenigen, die nach mehrjähriger Inhaftierung zwar physisch überlebt, psychisch aber ruiniert sind.

Prozesse gegen kommunistische Verbrecher schleppen sich dahin, keiner wurde bestraft und wird es wohl auch nicht werden, weil wir unseren Teil der Schuld nicht annehmen wollen. Womit wir der jüngeren Generation eine klare Botschaft übergeben: Im Leben ist alles erlaubt, denn jede Abartigkeit lässt sich mit dem Satz "in unserer Jugend haben wir Fehler und Irrtümer begangen" vom Tisch wischen.

In unserer Jugend liegt keine Hoffnung, sie wächst in einer Atmosphäre auf, in der seit Generationen Halbwahrheiten und Vorurteile weitergegeben werden. Wusste Václav Havel denn 1989 nicht, dass seine Vorstellung, bei null anzufangen und einen dicken Strich unter die Vergangenheit zu ziehen, das Gleiche heißt, wie die Vergangenheit unter den Teppich zu kehren, wo sie bis heute weiter gären kann? Der Einmarsch der Panzer von 1968 galt auch den einstigen Parteimitgliedern, von denen viele in den 50er Jahren in Stalins Namen geholfen hatten, die Stricke zu knüpfen. Und die enttäuscht waren, als sich diejenigen vom "Frühlingserwachen" distanzierten, die die vorangegangenen Jahre im Knast verbracht hatten, während sie selbst ihr Leben leben, ihre Bücher schreiben konnten - um dann endlich die Wahrheit zu erkennen, allerdings just in dem Moment, als sie von der Macht entfernt wurden.

Das alles wurde 1989 vom Tisch gewischt, als hätte es das nie gegeben. Peinlicherweise wird immer wieder die Causa Milan Kundera durchgekaut, aber über die Anstifter, die die Gesellschaft in ähnliche Situationen gebracht hatten, über die verliert man kein Wort. Es werden immer wieder die "gleichen" Erinnerungen hervorgeholt, die im Kontext der damaligen Zeit und im Kontext der zugänglichen Informationen unterschiedlich wahrgenommen werden; somit verstärken sie unsere Blindheit nur. Unser privates Gedächtnis wird durch das Kollektivgedächtnis vervollständigt. Aber wird auf diese Weise nicht die Wahrhaftigkeit unserer Erinnerungen geschwächt?

Wer als Russlands Vasall in einem sozialistischen Land und in einem okkupierten Regime gelebt hatte, der scheint in keiner anderen Welt mehr leben zu können. Die einstigen "Parteifreunde" versuchen heute einen Kapitalismus "mit sozialistischem Antlitz" in Böhmen zu errichten: Die Auserwählten tragen ihren Sieg außer Konkurrenz davon, freien Wettbewerb gibt es nicht (so wie es im Sozialismus gang und gäbe war, den Feind mittels politischer Verfolgung aus dem Spiel zu bringen). Auch die alte Mentalität wurde herübergerettet: Man fördert nicht die, die begabt und fähig sind, sondern die mit weniger Fähigkeiten Ausgestatteten, weil diese sich durch Loyalität und Skrupellosigkeit auszeichnen. Überhaupt könnte man sagen, dass Tschechien zwar physisch einen Kerker überlebt hat - sechs Jahre während der nationalsozialistischen und vierzig Jahre während der kommunistischen Herrschaft -, aber psychisch als ein Wrack in die freie Welt zurückgekehrt ist, mit der Befähigung, ausschließlich eigene Wünsche zu befriedigen.

 

Der Bazillus des Ostens

 

Diejenigen sind an der Macht, die keinem Druck hatten standhalten müssen, und sie stürzen sich von der Position ihrer Macht nun auf die Menschen, die im Gefängnis gesessen haben, nicht publizieren durften oder ins Exil gegangen sind, um das Recht auf Meinungsfreiheit zu verteidigen. Die Bedeutung einer solchen Haltung wird kleingeredet, für unwichtig erklärt. Wer Angst hat, seine schmackhaft belegte Scheibe Brot zu verlieren, der fördert alles, bleibt bei allem aber innerlich unbeteiligt. Die Zeit der planmäßig gesteuerten Volksverdummung vor 1989 haben sie in Ruhe auf ihren Datschen überstanden, mit einem Glas gut gekühltes Pilsner in der Hand. Mit ihnen überlebt hat auch unsere Vorliebe für parteiliche Vorteile, die Stellung des Präsidenten ist die eines Monarchen, eines Zaren, es ist der Bazillus des Ostens, der in uns hängen geblieben ist, die Angst vor ziviler Gesellschaft, die angeborene Neigung, den anderen auszunutzen.

So zu tun, als wären wir nicht ein Teil von Europa, als befände sich Europa irgendwo außerhalb von uns, als könnte man es ungestraft der Lächerlichkeit preisgeben, wie das auch die tschechischen Politiker während der EU-Ratspräsidentschaft 2009 demonstriert haben. Die tschechische Abkapselung ist gefährlich, die Ichbezogenheit, die kein Interesse daran zeigt, zu erfahren, was vor der eigenen Tür passiert. Die Menschen tun, als würden sie alles besser verstehen, sie fühlen sich wie der Nabel der Welt. Es fehlt an Demut, Neugierde und Menschlichkeit. Das Lakaientum, verstärkt durch die aus Russland importierte asiatische Mentalität, sucht die Schuldigen außerhalb von sich, damit es seine Minderwertigkeitsgefühle an ihnen abreagieren kann. Wir tun, als sähen wir weder die Gesichter der Mörder noch die von denjenigen, die mit dem Okkupationsregime kollaboriert haben. Wir tun so, als wären wir jemand anders. Für manche Menschen gehört das immer noch zu ihrer Überlebensstrategie. Ein Land, in dem es keinen Platz für die Seele gibt. Die tschechische Variante vom Kapitalismus bringt das Gesetz des Dschungels zurück: Der Stärkere beherrscht den Schwächeren.

Die tschechische Wirklichkeit wirkt auf eine merkwürdige Art gespenstisch, bizarr. Aber anders als in einem Horrorfilm oder auf einem expressionistischen Gemälde verlieren hier die Menschen weder ihre Gesichtszüge noch ihre Realitätsbezüge. Die Situation behält ihre "normalen" Umrisse.

Meine Romane sind Gleichnisse für die Auseinandersetzung mit der Geschichte meines Landes. Ein Versuch, sich mit etwas auseinanderzusetzen, womit man sich hierzulande nicht auseinandersetzen kann. Die Tür zu einer nackten Geschichte zu öffnen, dem Drama seine Kraft zurück zu geben. "Die Wahrheit sagen und nicht nur die Wirklichkeit abbilden". Das kann nur Literatur schaffen. Als würde ich mich für das Leben nach dem Tod vorbereiten und an meiner Verteidigung arbeiten. Wenn ich vor diejenigen trete, denen eine solche Zeit zur Selbstreflexion nicht gegeben wurde. Vielleicht werden sie mir mit einer Grimasse Vergebung erteilen. Aber vorher muss ich (mir) eine Ohrfeige verpassen.

Aus dem Tschechischen von Eva Profousova.

 

Erstveröffentlichung: Welt-online.de; Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin

  



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