LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
info@letnapark-prager-kleine-seiten.com

 

 

Europäische Verständigung?

Bemerkungen zu einem Leipziger Buchpreis

von Katja Schickel

 

 

Bloodlands

Von Timothy Snyder

Europa zwischen Hitler und Stalin

3. Auflage 2011, 523 S., mit 36 Karten. Gebunden

Aus dem Englischen von Martin Richter

C.H.Beck Verlag, ISBN 978-3-406-62184-0



 

 

 


Der diesjährige Preis geht zu gleichen Teilen an zwei Historiker: den Briten Ian Kershew (*1943) und den US-Amerikaner Timothy Snyder (*1969). Der Preis soll laut Statut an eine Persönlichkeit gehen, die wesentlich zum wechselseitigen Verständnis in Europa beigetragen hat. Bloodlands von Timothy Snyder ist eine voluminöse und imposante Zusammenfassung aller Schrecken, die in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts mit unterschiedlicher politischer und ideologischer Ausrichtung und Motivation stattgefunden haben. Man kann Snyder nicht vorwerfen, dass er Quellen nicht zitiert, und dennoch tut er gerade so, als gäbe es mittlerweile nicht die Standardwerke, als hätten nicht viele WissenschaftlerInnen in mühevoller Kleinstarbeit Teilaspekte erforscht, als hätten sich nicht Überlebende in Büchern beeindruckend geäußert, als gäbe es nicht Film- und Fotomaterial, das einen nie mehr loslässt. Bei Snyder folgt auf eine Aktion die Gegenaktion, ein Massaker evoziert geradezu das nächste, als wäre Geschichte nur eine Abfolge von Siegen, die es zu toppen gilt, und von Niederlagen, denen man mit noch grauenvolleren Vergeltungsmaßnahmen Herr werden muss. Snyder liefert das Mehr, Höher und Schneller, als wäre es lediglich um sportliche Konkurrenz gegangen. Man könnte sagen, dass dieser Mechanismus in allen hierarchischen, patriachalen Strukturen wirksam ist, aber darüber hinaus erkenntnisfördernd ist das nicht. Nein, sein Buch lässt auch nicht kalt. Selbst wenn man alle Ereignisse, die er beschreibt (und er tut dies nüchtern und voller Anteilnahme, was ihm großartig gelingt!), bereits aus anderen Zusammenhängen kennt, die Konfrontation mit den Fakten ist immer wieder schrecklich und immer noch verstörend und zerreißt Verstand, Seele und Herz. Aber vor lauter Hitler-Stalin-Manie verliert er Europa vollkommen aus den Augen. Dieser permanent durch Kriege zerstörte Kontinent und seine Geschichte von Niedergang und Wiederaufbau interessiert ihn überhaupt nicht. Dabei liefert er bereits auf den ersten Seiten mit dem Abdruck einer Karte, mit der er das Gebiet seiner Bloodlands umreißt, auf dem alle Gräuel des 20.Jahrhunderts stattgefunden haben sollen, das wichtigste Indiz. Es ist mit wenigen Abstrichen das Land des ehemaligen Großen Königreichs Polen-Litauen (von der Ostsee bis zur Schwarzmeerküste, so wird das Land auf Polnisch besungen). Ab dem 17. Jahrhundert haben alle Konflikte mit der Territorial- und Hegemonial-Politik von Russland, Habsburg-Ungarn und dem kleinen, aber für die Balance der Großen immer wichtiger werdenden Preußen zu tun, das wesentlich zur Zerschlagung Polen-Litauens beitragen sollte. Keines der heute noch gerne als deutsch bezeichneten Gebiete in Polen waren es vor der Dreiteilung Polens im 18.Jahrhundert. Es gab Siedlungsgebiete von Deutschen: Landstriche, Dörfer und Kleinstädte mit deutscher Bevölkerung – wenige Reichsstädte und Großstädte, in denen sich die Bevölkerung neu zusammen setzte; es gab den doktrinären Deutschen Orden, aber ein umfassendes Deutsch-Land in dieser Region gab es nicht. Die verschiedenen Minderheiten lebten mehr oder weniger friedlich miteinander, wie in anderen Ländern auch. Das Königreich Polen-Litauen galt als ein tolerantes Staatsgebilde, an dessen Spitze ein gewählter König stand. Es gab keine Staatsreligion, was Juden ermöglichte, sich dort anzusiedeln. Sie erhielten keine Privilegien, aber waren - anders als im übrigen Europa - freie Bürger und konnten somit über Wohnort, Beruf und Heirat selbst bestimmen. Es war immer der Einfluss der katholischen Kirche, die in dieser Region zu Pogromen führte, und die Willkür der eingesetzten fremden Könige, die andere politische und militärische Koalitionen bzw. kurzfristige Zweckbündnisse eingingen, um ihre absolutistischen Herrschaftsgelüste zu sichern. Wenn Snyder sein Augenmerk auf den Vielvölkerstaat Polen-Litauen gelenkt hätte, wäre er vielleicht auf die Mechanismen von Machterhalt (Teile und Herrsche) gestoßen, auf die fortschrittlichste europäische Verfassung des verbleibenden, so genannten Kongress-Polens (benannt nach der Neuverteilung Europas beim Wiener Kongress 1815, Vorläufer so manchen Europa-Gipfels), die mit ihrer Strahlkraft, aber vor allem wegen ihrer gewollten Folgenlosigkeit zu ersten internen, nationalistischen Verheerungen führte. Die obskuren Bloodlands waren schon früh die Killing Fields Europas, das Gebiet, auf dem das Abschlachten stattfand und sich fremde Machtinteressen exzessiv austobten. Das durch Usurpation gewonnene Land wurde ausgebeutet (Agrarwirtschaft, Bodenschätze), seine marginalisierten Bewohner verarmten. In den Kriegen wurden die jeweiligen Untertanen gegeneinander gehetzt, Hunderttausende verloren ihr Leben, Städte wurden immer wieder zerstört, die lebensnotwendige Landwirtschaft zunichte gemacht. Die katastrophalen Folgen dieser Politik blieben den Einheimischen vorbehalten. So war es auch nicht die Westfront im 1.Weltkrieg, die die meisten Kriegsopfer zu beklagen hatte, es war die vergessene Ostfront, und die Entente-Mächte vereinbarten - noch bevor dieser Krieg zu Ende war - die Aufteilung des Landes, weil in Russland gerade eine ominöse Revolution stattfand, von der man nur wusste, dass man ihre Verbreitung um jeden Preis verhindern musste. Obwohl man Polen nach fast zweihundert Jahren oktroyierter Nicht-Existenz einen eigenständigen Staat versprochen hatte, teilte man nun erst einmal das Land an seinen nord-östlichen Rändern in mehrere kleine Satellitenstaaten auf, die als Gürtel gegen das revolutionäre Russland gedacht waren. Die Politik war die gleiche geblieben: sie war kolonialistisch und nur den eigenen Interessen verpflichtet. Um die zu schützen, zwang man andere Volksgruppen in neue Strukturen. Man fragte nicht nach Zugehörigkeiten, Sprachräumen oder gewachsenen Lebens- und Arbeitsverhältnissen. Im Gegenteil: Man zerstörte sie mutwillig. So blieben alle beherrschbar und schwach. Winston Churchill gab in seiner Autobiografie unumwunden zu, dass Groß-Britannien dem russischen Zaren zwanzig Millionen Pfund zur Verfügung stellte, um die Russische Revolution im Keim zu ersticken. Von Frankreich waren noch einmal vier Millionen Pfund in den Topf geflossen, der die Kriegsmaschinerie in Gang halten sollte. Der autokratische russische Herrscher mobilisierte seinen Geheimdienst und seine Soldaten und versprach Privilegien allen, die die Konterrevolution unterstützen würden. Die ukrainische Weiße Garde tat sich mit bestialischem Mord, Vergewaltigung, Brandschatzung und Plünderung dermaßen hervor, dass sogar die New York Times mehrmals – moralisch empört und konsterniert - darüber berichtete. Den Zulauf von Kleinbauern hatten die Bolschewiki vermutlich nur der Brutalität dieser kulakischen Kommandos und Mörderbanden zu verdanken. (An dieser Stelle sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass mit der Erinnerung an den weißen Terror rote Gewalt nicht gutgeheißen wird).

Es sind diese Verwundungen und Spuren, in jeder einzelnen Landschaft, in Ortschaften und Städten, vor allem in Menschen, die sich im (unbewussten) Gedächtnis einnisten und jeden Einzelnen Schlüsse ziehen lassen, vermutlich auch über den eigenen Vorteil oder über Menschlichkeit in schrecklichen Zeiten, über Scham und Schamlosigkeit.

Snyder ist gescheitert, weil ihn das Material, das sich nicht in seinen Hitler-Stalin-Dualismus einfügen ließ, also nicht direkt verwertbar war, nicht interessiert hat. Das wäre wahrscheinlich noch viel quälender gewesen, weil es neben der scheinbar plötzlich auftauchenden, blutrünstigen Grausamkeit der Täter auch um einfache Vorteilsnahme gegangen wäre, um gesellschaftlichen Dünkel, um Ressentiments, die sich auch heutzutage relativ umstandslos bedienen lassen. Eine lohnende Fragestellung wäre gewesen, wie es gelang, den Hass der vermeintlich oder tatsächlich Zukurzgekommenen zu schüren, auf andere Gruppen zu lenken und sie zu willfährigen Werkzeugen der eigenen Machtpolitik zu machen? Die nationalistischen Handlanger, die sich besonders gewalttätig hervortaten, galten immer auch als ehrbare Bürger. Der Wehrmachtsoffizier, der Zwangsarbeiter auspeitschen ließ, war nach dem Krieg respektierter Bürger und Architekt. Der Vater des ukrainischen Politikers hat sich bei der Erschießung in Babi Jar besonders hervor getan. Es gibt ja durchaus immer noch bis auf den heutigen Tag ein Verschweigen über eigene Verstrickungen und monströse Greueltaten. 

Snyder hätte sich die unterschiedlichen Sichtweisen zu dieser europäischen Geschichte erzählen lassen sollen: von Polen, von Litauern, Esten und Balten, von Ukrainern und Russen, von Deutschen und Tschechen. Und allen anderen. Von Männern. Und von Frauen. Er wäre vielen Mythen begegnet, Inszenierungen, Lügen und Selbstgerechtigkeit, aber er hätte vielleicht angefangen zu verstehen, warum sich heute noch Menschen aus nationalistischen, rassistischen, religiösen oder sexistischen Gründen gegenseitig umbringen, was Indoktrination und Vergessen anrichten. Es ging ihm aber überhaupt nicht um europäische Verständigung, wie es jetzt so vollmundig heißt, sondern lediglich um die Gleichsetzung zweier diktatorischer Systeme, deren Dynamik er mit dieser These jedoch gerade nicht entschlüsseln kann.

 

 

 

"Hoffen wir darauf, dass die alten, reifen Völker Europas nicht nur die Tage des Ruhmes, sondern auch die Nächte der Schande der eigenen Geschichte im Gedächtnis zu behalten imstande sind."

Bogdan Bogdanovic

 

 

 

16.02.2012 



Tweet