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Franz Kafka im sprachnationalen Kontext seiner Zeit
Sprache und nationale Identität in öffentlichen Institutionen der böhmischen Länder
Hg.: Marek Nekula, Ingrid Fleischmann und Albrecht Greule
266 S., geb., Böhlau Verlag Köln 2007
€ 32.90; ISDN 978-3-412-12006-1 


 

 

 

 

 

 



 



Böhmisch oder Tschechisch?
Der Streit über die adäquate Benennung der Landessprache der böhmischen Länder zu Anfang des 20.Jahrhunderts *

von Tilman Berger


Die Verwendung der Adjektive böhmisch und tschechisch ist im heutigen Deutschen klar geregelt. Das erste von ihnen bezeichnet einen Bezug zum historischen Landschaft Böhmen1, das zweite einen Bezug zum dort ansässigen tschechischen Volk2 . So wird in geografischen Termini nur böhmisch verwendet ('Böhmisches Paradies', 'Böhmische Masse'), ebenso spricht man von böhmischen Wäldern, von böhmischer Küche (die ja auch von den dort früher ansässigen Deutschen gepflegt wird), von böhmischen Knödeln usw. Auf der anderen Seite spricht man von der tschechischen Sprache, der tschechischen Gesellschaft, der tschechischen Politik usw. In allen diesen Fällen ist die Verwendung des anderen Adjektivs nicht möglich (so insbesondere bei Termini) oder zumindest ungewöhnlich.

Eher selten sind diejenigen Fälle, in denen die Bezeichnungen in Konkurrenz treten, so kann man zwischen der böhmischen und der tschechischen Geschichte unterscheiden, ebenso auch zwischen böhmischer und tschechischer Kunst oder Musik – in all diesen Beispielen markiert tschechisch eine neuere Entwicklungsphase, die eindeutig mit dem tschechischen Volk zu korrelieren ist, während böhmisch eher älteren Entwicklungsphasen zugeordnet ist, deren nationale Zuordnung zumindest diffus ist. – Die Verteilung der Völkernamen Böhme und Tscheche lässt sich prinzipiell in ähnlicher Weise beschreiben, allerdings führen die beschriebenen Verhältnisse dazu, dass Böhme nur noch selten verwendet wird3 und auch in eher unklar zu definierenden Kontexten.


Die Tatsache, dass das Deutsche in diesem Fall so klar zwischen dem Bezug auf das Land und auf die dort lebende Bevölkerung unterscheidet, ist schon allein dadurch bemerkenswert, dass eine solche Differenzierung eher unüblich ist. Sie wird in der Regel nur da verwendet, wo ein Land über keine klare Mehrheitsbevölkerung verfügt, so etwa im Falle von Belgien (belgisch vs. wallonisch und flämisch) oder im Falle von Jugoslawien – was sofort die Vermutung nahelegt, dass dieser Faktor auch im Falle von böhmisch und tschechisch eine Rolle gespielt haben mag. Die Unterscheidung zwischen ungarisch und magyarisch, die offenbar in der K.u.K.-Monarchie parallel zu der zwischen böhmisch und tschechisch verwendet wurde4 , ist heute obsolet (da magyarisch eher peripher verwendet wird), die in den letzten Jahren propagierte Unterscheidung zwischen russländisch und russisch hat sich bisher nicht durchsetzen können5 .

Andere Beispiele sind mir nicht geläufig, es ist aber nicht auszuschließen, dass etwa Dubletten wie griechisch/hellenisch zu gewissen Zeiten ähnlich verwendet wurden (für mich ist hellenisch ein dem hohen Stil zuzuordnender Archaismus). Die Frage, warum im Deutschen dieser Unterschied gemacht wird, wird noch reizvoller, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Tschechische diesen Unterschied gerade nicht macht und für böhmisch wie tschechisch gleichermaßen das Adjektiv český verwendet, und ebenso für Böhme und Tscheche gleichermaßen Čech. Eine Parallele gibt es lediglich bei den Ländernamen, wo Böhmen das tschechische Čechy entspricht, Tschechien (bzw. dem tabuisierten, dennoch aber weit verbreiteten 'Tschechei') das tschechische Česko, aber auch hier sind die Verhältnisse in den beiden Sprachen recht unterschiedlich6.

Einem in der klassischen Literatur bewanderten Muttersprachler des Deutschen ist in der Regel auch bewusst, dass es sich hier um eine neuere Unterscheidung handelt, denn ein Ausdruck wie die böhmische Sprache ist zwar heute kaum noch akzeptabel, jedoch aus älteren Texten bekannt und gewissermaßen als Archaismus erkennbar. Da dieser Beitrag im Kontext einer Tagung zur Kafka-Zeit entstanden ist, seien zwei Beispiele aus Texten dieses Autors gewählt, die zeigen, dass er – zu Anfang des 20. Jahrhunderts – in Bezug auf die in den böhmischen Ländern gesprochene Sprache noch beide Adjektive verwendet hat. So schreibt er etwa in seinem Bewerbungsschreiben an die „Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen“ vom 30. Juni 1908:


Der Petent ist der deutschen und böhmischen Sprache in Wort und Schrift mächtig, beherrscht ferner die französische, teilweise die englische Sprache. (KAFKA1984: 93)


In einem Brief an Felice Bauer vom 13./14. Januar 1913 heißt es hingegen:


Nun sagte er das aber tschechisch, und von der Liebe, Bewunderung und Zartheit, die sich in dem Worte „Kněžna“ vereinigen, ist in „Fürstin“ keine Ahnung, denn dieses Wort ist ganz auf Pracht und Breite hergerichtet. (KAFKA1970: 249)


Und in einem Brief verwendet er sogar beide Adjektive kurz hintereinander:


Ich, so auch der Vater, haben Sympathie für ihn [Josef David, den späteren tschechischen Ehemann von Ottla]; wenn er nur ein bißchen deutsch sprechen wollte; er spricht aber kein Wort, und obzwar wir böhmisch ziemlich gut sprechen, strengt es uns doch nur an, wenn man den ganzen Abend gezwungen ist, tschechisch zu sprechen. Vielleicht machst Du ihn darauf aufmerksam. (BINDER 1969: 537).


Unter Einbeziehung einiger weiterer Beispiele kann man feststellen, dass Kafka böhmisch vor allem in amtlichen und tschechisch in privaten Briefen verwendet. Ich will hier aber nicht in eine detaillierte Analyse eintreten, sondern führe die beiden Beispiele zunächst zur Illustration an. Am Ende des Beitrags komme ich aber noch einmal auf die Beispiele zurück.


Im Folgenden möchte ich nun einen Überblick über die Verwendung der beiden Adjektive ab ihren ersten Belegen geben und bei ihrer Interpretation besonders herausarbeiten, in welcher Weise die spezifische Nationalitätenverhältnisse in den böhmischen Ländern zur Bedeutungsdifferenzierung beigetragen haben.

Dabei wird es nur in beschränktem Maße darum gehen, eigene Forschungsergebnisse vorzutragen, denn die Frage nach dem Verhältnis der beiden Bezeichnungen ist im Laufe des 20. Jahrhunderts schon mehrfach Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gewesen. Am ausführlichsten haben über dieses Thema die beiden tschechischen Germanisten Antonín Beer (1881-1950) und Arnošt Kraus (1859-1943) debattiert, auf deren Arbeiten ich mehrfach zu sprechen kommen werde, da sie nicht nur die ältere Entwicklung beschrieben und (z.T. sehr unterschiedlich) kommentiert, sondern auch selbst Position bezogen haben.

  

Zu Beginn der neunziger Jahre hat sich der tschechische Historiker Jiří Kořalka in seiner Arbeit über die Tschechen im Habsburger Reich ausführlich mit den unterschiedlichen Selbstbezeichnungen der tschechischen Bevölkerung beschäftigt (KOŘALKA 1991: 23–75), einen kurzen Abriss der Problematik gab in dem Regensburger Sammelband Deutsche und Tschechen Alexandr Stich (vgl. STICH 2001). Eine gute Quelle über die Entwicklung des Sprachgebrauchs, allerdings im Wesentlichen eingeschränkt auf die Bezeichnung der Sprache, ist schließlich der dieser Problematik gewidmete Abschnitt der Dissertation von Stefan Newerkla (NEWERKLA 1999: 26–34).
Trotz der guten Forschungslage gibt es einen Bereich, in dem mir zusätzliche Akzente sinnvoll erscheinen, und zwar da, wo es um die Verwendung der beiden Adjektive außerhalb des ehemaligen Österreich-Ungarn geht. Dieser Gesichtspunkt ist in den bisherigen Studien (mit Ausnahme von Kořalka) kaum enthalten, was damit zusammenhängen mag, dass die genannten Arbeiten ausschließlich von Tschechen oder Bohemisten stammen.


Wie sieht nun die Beleglage für den Beginn der schriftlichen Überlieferung aus? Ganz grob gesagt kann festgehalten werden, dass für das Land und seine Bewohner (die zu jener Zeit noch ganz überwiegend Slaven waren) sowie deren Sprache in deutschen Texten von Anfang an die Bezeichnungen Böhmen bzw. böhmisch (bzw. ihre alt- und mittelhochdeutschen Äquivalente Bêhaim/Bêhaimb und bêhaimisch) verwendet werden, in tschechischen Texten hingegen Čechy (für das Land), Čech/Češi (für die Bewohner) und český (als Adjektiv u.a. für die Sprache).

Die deutsche Bezeichnung steht offenkundig in engem Zusammenhang mit der lateinischen, die etwas früher belegt ist, denn ab Ende des 8. Jahrhunderts kommen in lateinischen Chroniken und Urkunden die Boemani, Beheimi, Beheimare usw. vor (vgl. GRAUS 1980: 170ff.). Andererseits ist der Name etymologisch offenkundig germanisch, er wird üblicherweise auf den Namen der (keltischen) Boier in Kombination mit einem zweiten Bestandteil, der mit deutsch Heim zusammenhängt, zurückgeführt (vgl. etwa HOLUB/LYER 1967: 100f.). Im Tschechischen sind die Bezeichnungen nie in größerem Umfang heimisch geworden, wenn wir von Latinismen wie Bohemia/Bohemie (vor allem für Vereine, bis hin zum Fußballklub FC Bohemians Praha) oder bohemismus (als wissenschaftlicher Terminus) einmal absehen.

Die tschechische Bezeichnung ist erst später belegt, und zwar in der russisch-kirchenslavischen Nestorchronik und in der russisch-kirchenslavischen Version der auf das 10. Jahrhundert zurückgehenden Wenzelslegende (vgl. GRAUS 1980: 164 und HAVRÁNEK 1925: 116f.). Die Datierung ist hier etwas schwierig, da sowohl die Chronik als auch die Legende erst in späteren Handschriften überliefert sind. Völlig unstrittig ist jedoch, dass Čechy, Čech/Češi und český ab dem Beginn der schriftlichen Überlieferung in tschechischer Sprache im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts die vorherrschende und bald auch einzige Selbstbezeichnung ist. Über die Etymologie der Bezeichnung besteht in der Literatur keine Einigkeit, BLAŽEK und KLAIN (2002) führen zwanzig (!) Erklärungsversuche an, von denen hier nur zwei genannt seien, nämlich einerseits Dobrovskýs Vorschlag eines Zusammenhangs mit dem Verb *čęti ‘anfangen’ und andererseits die Zurückführung auf ein hypothetisches *čelěninъ ‘Hochlandbewohner’ (vgl. hierzu ERHART 1998).

Bemerkenswert ist nun, dass die tschechische Bezeichnung auch in deutschen Texten belegt werden kann, zwar nicht unbedingt häufig, aber doch so oft, dass diese Verwendung Gegenstand der Debatte zwischen Beer und Kraus werden konnte. Der älteste deutsche Beleg stammt aus derselben Zeit wie die ältesten Belege in tschechischen Texten, und zwar wie von KRAUS (1886) erstmals festgestellt in den Versen des Seifried Helbling:


Lâz Beier trinken birenmost / schaefîn kursen fur den frost. / Komet uns von Tsechen / die lâz ouch bier zechen / mit sant den Merhaeren. (SEIFRIED HELBLING 1886: 123)


Eine andere, oft zitierte Stelle finden wir in der deutschen Übersetzung der Dalimilchronik:


Vnd darvmb, das ir vorweszer hies Czech, vnd darvmb nante sie sich Czechy, das ist czwdewcze, Pehem. (JIREČEK 1878: 258)


Im ersten Falle geht es vermutlich eher um eine ad-hoc-Benennung, um die sich auch prompt ein Streit entspann. BEER (1917: 9) verweist darauf, dass Seifried Helbling überwiegend bêhaimisch verwendet, und möchte den Reim für den Beleg verantwortlich machen, KRAUS (1916/17: 8f.) widerspricht und mokiert sich über Inkonsistenzen in BEERS Darstellung.

Im zweiten Falle ist bereits eine Tendenz erkennbar, die sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts fortsetzt: Die Bezeichnung tschechisch bzw. czechisch7 wird vor allem da verwendet, wo auf die Ableitung des Völkernamens vom Urvater Čech verwiesen wird, bzw. da, wo es um einen Kontrast geht (etwa mit 'deutsch' oder 'mährisch'), sonst herrscht böhmisch vor. Letztere Verwendung sei mit einem Zitat aus einem Brief von Dobrovský an Kopitar vom 1. Jänner 1810 illustriert:


Die geographischen Benennungen kümmern mich wenig. Ragusiner, Macedonier, Bosnier sind doch Serben, Krainer, Besiaken, pannonische Kroaten sind dem Stamme nach Kroaten. Mährer, Slowaken sind geographisch keine Böhmen, aber doch Czechen. (JAGIĆ 1885: 79)


Um die Ableitung des Völkernamens geht es in dem Kapitel „Von den Cžechen oder neuen Böhmen“ in Pelzels Kurzgefasster Geschichte der Böhmen, wo wir u.a. folgendes lesen:


Diese neuen Einwohner von Böhmen wurden zwar insgesamt Cžechen genannt; woher aber dieser Name entstanden sey, und ob sie ihn mit sich in das land gebracht haben, weis ich
nicht. Es ist besser seine Unwissenheit zu gestehen, als das Wort zu foltern, oder eine
abgeschmackte Fabel zu wiederholen. (…) Cžechen also und Böhmen sind gleichbedeutende
Namen, ob zwar der erste den heutigen Deutschböhmen nicht kann beigeleget werden.
(PELZEL1774, 22)


In der späteren längeren Fassung steht derselbe Text (vgl. PELZEL 1782: 22), allerdings nur noch unter der Überschrift Von den Cžechen. Auch über die Bewertung dieser Belege waren Beer und Kraus uneinig. KRAUS (1916/1917: 10) sah hier den Beginn einer neuen Terminologie und meinte, Pelzel verwende das Wort auch dort, wo es nach dem damaligen Sprachgebrauch nicht nötig sei, BEER (1917: 18ff.) rechnet vor, dass Pelzel ansonsten immer von Böhmen bzw. böhmisch spricht. Aus heutiger Sicht ist hier wohl eher Kraus zuzustimmen, vielleicht mit der zusätzlichen Bemerkung, dass offenbar in der neu entstehenden Geschichtswissenschaft ein Bedürfnis bestand, terminologisch klarer zwischen den Bevölkerungsgruppen zu unterscheiden.

Natürlich ist auch zu berücksichtigen, dass dies die Zeit ist, in der sich allmählich nach den josephinischen Reformen die tschechische Nationalbewegung formiert und im Gegenzug auch die in Böhmen ansässigen Deutschen zu einer eigenen Identität finden. In diesem Kontext wird immer wieder der Name des Prager Finanzverwalters Ferdinand Opiz (1741-1812) genannt, dessen Literarische Chronik von Böheim Kraus 1909 in Auszügen herausgegeben hat und die seither vor allem deswegen zitiert wird, weil in ihr erstmals der Ausdruck Deutschböhme verwendet wird (vgl. etwa BĚLIČ 1951: 75). Opiz verwendet in seinen Texten aber auch öfter Tscheche bzw. tschechisch, vgl. etwa das folgende etwas längere Zitat aus einem Brief an den Grafen Lamberg:


Von einem böhmischen Schauspielhause, wo Thalia böhmisch spräche (denn also verstehe ich Ihre Frage) und das Gf. Nostitz in Prag errichten solle oder schon errichtet habe, ist mir nichts bekannt, ist auch unwahrscheinlich. Gf. Nostitz erbaute das prächtige Schauspielhaus, aber böhmisch wird da nicht gespielt. Er hat auch ein Familientheater in seinem Hause, aber auch dieses ist meines Wissens nichts weniger als tschechischen Schauspielen gewidmet. Er hat zwar einen Erztschech, Herrn Pelzel, seit mehreren Jahren als Hofmeister, bei seinen jungen Grafen und einen ebenso grossen Freund der tschechischen Literatur, Herrn Magister Dobrowsky, als Lehrmeister bei denselben. Böheim hat auch eher einige tschechische Theaterstücke aufzuweisen. Alles dies zusammen spricht aber noch kein kein hinreichend geltendes Wort für jene Sage. (OPIZ 1909: 61)


Hie wechselt Opiz mitten im Abschnitt von böhmisch zu tschechisch, und zwar vermutlich deshalb, weil da, wo es hauptsächlich um die Sprache geht, die Verwendung von tschechisch Eindeutigkeit schafft, die bei der Verwendung von böhmisch nicht immer gewährleistet ist, andererseits wird hier aber das Wort 'Erztschech' als (vermutlich nicht besonders positive) politische Charakterisierung einer Person verwendet.

 

 

 

   

 František  Palacký

 

Tübinger Chronik, 1848


Die Tendenz, die Sprache nicht mehr als Böhmisch zu bezeichnen, setzt sich in den folgenden Jahren fort, allerdings nicht besonders häufig. So veröffentlichte der Grammatiker František Jan Tomsa ab 1800 eine Reihe von Publikationen, in deren Titel čechisch vorkommt, beispielsweise die Über die Aussprache der čechischen Buchstaben, Sylben und Wörter. Nebst Leseübungen (TOMSA 1801). Weitere Beispiele anderer Autoren sind das Praktische Lehrbuch der čechischen vulgo böhmischen Sprache (TRNKA 1830) sowie die Abhandlung Bemerkungen über die in Boehmen so häufig vorkommende Verschiedenheit der Ortsnamen, in deutscher und czechischer Sprache (KALINA VON JÄTENSTEIN 1825).

Wichtiger ist aber die zweite Entwicklungstendenz, mit der sich vor allem Kořalka eingehend beschäftigt hat, nämlich das Phänomen, dass ab Ende der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts das Adjektiv tschechisch (bzw. in jener Zeit eher czechisch) im Deutschen als (zumeist abwertende) Bezeichnung der Anhänger der Nationalbewegung verwendet wird. KOŘALKA (1991: 65ff.) verweist auf eine Debatte über das Slaventum und den Panslavismus in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, in der insbesondere der westfälische Publizist und spätere österreichische Staatssekretär Gustav Höfken (1811–1889) polemisch gegen die tschechische Nationalbewegung Stellung nahm und „wahrscheinlich zum erstenmal in den Spalten der Allgemeinen Zeitung die Begriffe Tschechen und tschechisch in breitem Ausmaß benutzte und begründete“ (KOŘALKA, ebd.). Im Zusammenhang mit der Revolution von 1848 wurden diese Begriffe schnell in der deutschsprachigen Presse geläufig. Da Kořalka sich im Weiteren vor allem auf österreichische Zeitungen bezieht, will ich seine Angaben aus einer anderen Quelle ergänzen, und zwar aus der ab 1845 erscheinenden Tübinger Chronik, deren Sprachgebrauch sehr eindrücklich die allgemeine Entwicklung illustriert.

Schon im ersten Beleg überhaupt, der etwas mit der politischen Entwicklung in Böhmen zu tun hat (in den Jahren 1845–1847 hat man sich in Tübingen noch nicht für so ferne Gegenden interessiert), heißt es am 10. Juni 1848:


Der Slavencongreß soll in deutscher Sprache gehalten werden, da sich die Slaven in ihren verschiedenen Dialekten gar nicht verstehen. (TÜBINGER CHRONIK 1848, Nr. 113: 478)


Hier ist bemerkenswert, dass von Slaven die Rede ist (die sogar mit v geschrieben werden), was zeigt, dass sich die Informationen über die politischen Aktivitäten um den Slavenkongress schnell verbreiteten. Von den Tschechen ist dann das erste Mal am 20. Juni 1848 die Rede, und zwar gleich ausführlicher:


Der Fürst Windischgrätz, der Vertreter der deutschen Sache in Prag, dessen Gemahlin von den Tschechen getödtet wurde, ließ 5 Stunden lang mit Kartätschen auf die Aufrührer schießen, welche 4,000 Gewehre, 80,000 Patronen und eine Batterie Geschütz verlangt hatten. Das Militär blieb im Besitze der besseren Stadttheile, die Insurgentien hatten sich im Karolinenthal verbarrikadirt. Die verlangte Abtragung der Barridkaden wurde verweigert, worauf der blutige Kampf von Neuem losbrach. Das Militär blieb Meister der Stadt, die deutsche Sache hat gesiegt, der Sclaven-Congreß (sic) ist versprengt, der Tschechenführer Faster wurde von seiner eigenen Parthei ermordet. (TÜBINGER CHRONIK 1848, Nr. 119: 506)


Und in ähnlicher Weise geht es dann weiter, von Böhmen ist nur noch ausnahmsweise die Rede, etwa am 27. Juni 1848, aber nur in Bezug auf die deutsche Bevölkerung, denn gleich anschließend wird ein „Tschechen-Aufstand“ erwähnt:


Am 18. haben die Sachsen und deutschen Böhmen in Aussig an der Elbe ein Verbrüderungsfest gefeiert. – Die Entwaffnung von Prag geht schnell vor sich; 15.000 Gewehre sind bereits abgeliefert. Der Mörder der Fürstin Windischgrätz, Namens Maur wurde kriegsrechtlich erschossen. Ein Tschechen-Aufstand in Brünn wurde von dem Militär ebenfalls bemeistert. (TÜBINGER CHRONIK 1848, Nr. 125: 529f.)


Dass diese Verwendung nicht auf die Publizistik beschränkt blieb, zeigt das folgende Zitat aus Grillparzers Notizen zur Zeitgeschichte, in dem ebenfalls die Nationalbewegung scharf kritisiert wird (vgl. hierzu auch die kritischen Kommentare von BEER 1917: 50ff.):


Herr Professor Palacky ist wahnsinnig geworden. Er stellt in einem ernsthaft gemeinten Aufsatz in diesen Blättern an die Regierung die Anforderung, den einzelnen Kronländern eigene Ministerien des Innern, des Unterrichts usw. zu gewähren. (…) Glücklicherweise aber ist Herrn Palackys Gesinnung nicht die der Mehrheit seiner Landsleute, sondern nur einer kleinern Fraktion, der Partei der germanisierten Tschechen. Nachdem sie alles, was sie wissen und können von den Deutschen gelernt haben, ahmen ihnen zum schuldigen Dank, auch ihre neuesten Narrheiten nach. (…) Glücklicherweise aber, wiederhole ich, gibt es noch einen Kern der Nation, der von diesem slavischen Deutschtum nicht angesteckt ist. Es sind jene eigentlichen Tschechen, verständig natürliche Menschen, die ihre Sprache reden, weil sie eben ihre Muttersprache ist, aber auch nichts dagegen hätten, sich einer anderen zu bedienen, wenn sie zufällig zehn Meilen weiter rechts oder links geboren wären. (GRILLPARZER 1964: 1051f.)


Es überrascht nicht weiter, dass die in der deutschsprachigen Presse außerhalb Böhmens eingeführte Fremdbezeichnung tschechisch im Land selbst auf wenig Gegenliebe stieß und im Gegenteil klar abgelehnt wurde. Das strikte Beharren auf der weiteren Verwendung des Terminus böhmisch lässt sich aber, wie KOŘALKA (1991: 70) zu Recht bemerkt, nicht nur hierauf zurückführen, sondern hängt auch mit dem Selbstverständnis des Adels zusammen, der zu jener Zeit, obwohl überwiegend deutschsprachig, im Sinne des „Landespatriotismus“ eine böhmische Identität pflegte. Ihren Beginn sieht KOŘALKA (1991: 51) in der Desiderienschrift der böhmischen Stände von 1791, theoretisch begründet wurde der „Bohemismus“ in den Erbauungsreden von BOLZANO (1850). Ihre deutlichste Ausprägung hat die bewusste Selbstdeklaration als „Böhme“ in der bekannten Flugschrift des Grafen Joseph Matthias von Thun (1794–1868) Der Slawismus in Böhmen gefunden:


Darauf kann ich nur im vollen Selbstbewußtsein erwidern: daß ich weder ein Čeche noch ein Deutscher, sondern nur ein Böhme bin, daß ich, von inniger Vaterlandsliebe durchglüht, das Unterdrückenwollen einer dieser beiden Nationalitäten – gleichviel welcher – als das unheilvollste Mißgeschick betrachte, und daß ich für meine čechischen Brüder das Wort ergreife, weil ich es für Ritterpflicht halte, auf der Seite des Schwächern zu stehen. (VON THUN 1845: 17)

 

   

Bernard Bolzano

 

Matthias von Thun

 

Dieser Text zog verschiedene Erwiderungen nach sich, beispielsweise unter dem Titel Worte eines Čechen veranlaßt durch die Graf Jos. Math. v. Thun’sche Broschüre (MALÝ 1845), und war auch im 20. Jahrhundert noch ein Ärgernis – so schreibt BĚLIČ (1951: 74) recht boshaft, dass Thun „in seiner Muttersprache“ über sich erkläre („svou mateřštinou o sobě prohlašuje“), dass er weder Tscheche noch Deutscher sei. Die Relevanz dieser Position wird beispielsweise erkennbar, wenn man die Protokolle der Sitzung des böhmischen Landtags vom 9. April 1861 betrachtet (vgl. zu ihnen ausführlich KRAUS 1916/1917: 18f., BEER 1917: 50f., und KOŘALKA 1991: 60ff.). In dieser Sitzung setzte sich der tschechische Abgeordnete und katholische Priester Jan Karel Rojek (1804–1877) gegen die Verwendung des Terminus čechisch zur Wehr: 

 

Ich bin ein geborener Böhme, und entsinne mich nicht, daß unsere Nation sich der Benennung Čeche und čechisch bedient hätte. Wir waren Böhmen, und waren böhmisch; nur die neueste Journalistik hat leider zu unlöblichen Zwecken das Wort Čeche und čechisch ins Leben gerufen. Ich beantrage daher, man möge in dem hohen Hause hier das Wort Čeche und čechisch nie mehr wieder hören. (zitiert nach KOŘALKA1991, 61)


Nach einer längeren Debatte, in der deutschböhmische Landtagsabgeordnete die Differenzierung verteidigten, während die tschechischen Historiker Václav Vladivoj Tomek und die Verwendung von tschechisch ablehnten, wurde schließlich der Beschluss gefasst, „daß im Sprachgebrauche des Landtags die beanstandeten Worte offiziell vermieden werden sollten“ (KOŘALKA 1991: 61).

Dieser Beschluss von 1861 hat in Österreich-Ungarn faktisch bis 1918 Bestand gehabt. Er wurde 1911 auch noch einmal vom Tschechischen Nationalrat, der Dachorganisation der tschechischen Parteien (mit Ausnahme der Sozialdemokraten), ausdrücklich bestätigt (vgl. KOŘALKA 1991: 62), allerdings mit dem Zugeständnis, dass inoffiziell auch die Ausdrücke Tschechen und tschechisch zugelassen werden könnten. Zwischen 1861 und 1911 war die Entwicklung auch offenkundig weitergegangen, wobei allerdings die Sekundärliteratur hierzu eher weniger sagt als zu der Epoche davor. KOŘALKA (1991: 62f.) beschränkt sich auf einige kurze Bemerkungen, KRAUS und BEER nehmen vor allem zu den Auseinandersetzungen Stellung, an denen sie selbst beteiligt waren. Von Bedeutung ist hier vor allem KRAUS’ Eingeständnis aus dem Jahr 1921 (vgl. KRAUS 1921a: 1), dass er selbst schon früh gewohnt gewesen sei, „im Gespräch“ den Terminus tschechisch zu verwenden, sich in seinen Publikationen aber „ruhig der nationalen Disziplin“ unterworfen habe („… podroboval jsem se klidně národní disciplině“). Auch wenn andere dies nicht getan hätten

(so habe Mourek bereits 1885 von der „tschechischen Bearbeitung“ des Tandariuš gesprochen8), sei für ihn die Notwendigkeit erst entstanden, als er 1906 die Zeitschrift Čechische Revue mitbegründete. Hierzu zitiert er aus dem ersten Jahrgang:


Wir brauchen ein schlagendes Wort zur Bezeichnung unseres Volksstamms, und das kann böhmisch nicht sein, da es zweideutig ist: es bedeutet auch jeden Angehörigen dieses Königreiches und seine deutschen Bewohner nehmen es mit in Anspruch. – Da wir nun nicht bloss čechische, sondern auch böhmische Patrioten sind, kann es uns nur willkommen sein, wenn auch die Deutschen Böhmens gute Böhmen sein und heissen wollen; es gibt Aufgaben genug, bei denen ein Zusammenwirken aller „Böhmen“ möglich und wünschenswert wäre. (ČECHISCHE REVUE 1906: 190).


Als Gegenposition aus derselben Zeit wird von BEER (1917) die Debatte zwischen Max Burckhard und Fritz Pick in der Wiener Zeitung Die Zeit angeführt. Der Dramatiker, Theaterkritiker und zeitweilige Direktor des Burgtheaters Burckhard (1854–1912) hatte sich am 9. November 1901 recht kritisch zu einem Stück des tschechischen Dramatikers Jaroslav Vrchlický geäußert:


Hat der Mann, der die böhmische Dichtkunst im Herrenhause vertritt, keine besseren Stücke geschrieben, dann braucht man ihn überhaupt nicht im Burgtheater aufzuführen, und sollte es etwa keine besseren Dramen im Böhmischen geben, so brauchte man überhaupt keine böhmischen Dramen im Burgtheater aufzuführen, denn dort gilt ja die Theorie noch nicht, daß man um der nationalen Gleichberechtigung willen Sachen machen muß, die an sich keinen Sinn haben. (ZEIT 1901, Nr. 371: 91).


Hierauf reagierte ein Prager Leser, Dr. Fritz Pick, am 1. Februar 1902 mit folgendem Kommentar:


Die Nummer 371 der „Zeit“ vom 9. November v. J. hat mir wieder einmal deutlich gezeigt, wie nothwendig und zeitgemäß es ist, einige Worte über eine Selbstverständlichkeit zu sagen. Denn, wenn ein Mann wie Max Burckhard, gewiß ein äußerst kenntnisreicher, vielseitig gebildeter Mann, in der mit Böhmen in so innigen Beziehungen stehenden Reichshauptstadt, anscheinend völlig ohne Bewußtsein des wichtigen Irrthums, das Wort „böhmisch“ sechsmal in der falschen Bedeutung gebraucht, und die „Zeit“, die sonst in böhmischen Fragen bestens informiert, daran nichts auszusetzen findet, dann ist es wohl ein ziemlicher Beweis für die Thatsache, daß man sich außerhalb Böhmens über manchen Fragen des alten Sprachenstreits in Böhmen und deren Bedeutung noch nicht in dem Maße klar ist, wie es die Sache selbst verdienen würde. (ZEIT 1901, Nr. 383: 74).


Burkhard gießt wiederum in seiner in derselben Nummer abgedruckten Erwiderung die Schale seines Spotts über die Erwägungen aus, dass eine Differenzierung zwischen den deutschen und tschechischen Bewohnern Böhmens nötig sei:


In der deutschen Sprache umfassen die Worte deutsch, ungarisch, böhmisch, genau so, wie die Worte englisch, französisch u.s.w. in gleicher Weise Land und Leute, Gebiet und Volk, und daß die Böhmen in ihrer Sprache sich Czechen nennen, ist für uns so wenig ein zwingender Grund, unsere Sprache mit dem Fremdwort „czechisch“ zu belasten, als wir uns beifallen lassen, statt „Engländer“ „Englishmen“ zu sagen, weil Engländer in ihrer Sprache sich mit diesem Ausdruck bezeichnen. Wenn die Böhmen wünschen oder wenigstens gewünscht haben, daß man sie auch in den anderen Sprachen mit dem Worte benenne, mit dem sie selbst ihr Volksthum betonen, so erscheint mir das wenigstens begreiflich; wenn aber ein Deutscher von mir verlangt, ich solle die Böhmen Czechen nennen, damit sich die Deutschen in Böhmen Böhmen nennen können, so fehlt mir hierfür jedes Verständnis. (ZEIT 1901, Nr. 383: 75).


Karte der Länder der Böhmischen Krone


Anhand der beiden Zitate von Kraus und Burckhard, denen man noch viele weitere aus derselben Zeit hinzufügen könnte, sehen wir, wie hier gewissermaßen die deutsche und die tschechische Position ihre Plätze getauscht haben. Hatte 1861 im tschechischen „Lager“ noch Einigkeit darüber bestanden, dass nur durch die Verwendung des Adjektivs böhmisch der „mehr oder weniger klar geäußerte[n] Auffassung, daß Böhmen den Böhmen (Čechy Čechům) gehöre“ (KOŘALKA 1991: 61), Ausdruck verliehen werden könne, so meinte KRAUS im Jahre 1906, nicht auf ein sprachliches Mittel der Abgrenzung zwischen den „Deutschen Böhmens“ und den Tschechen verzichten zu können. Burckhard vertritt demgegenüber eine unaufgeregte nichtnationalistische Position, die über Böhmen und seine Mehrheitsbevölkerung in ähnlicher Weise sprechen wollte wie über andere Länder. Burckhards Position war freilich nicht die seiner deutschböhmischen Landsleute, die in dieser Zeit noch stärker als früher Bestrebungen der Abgrenzung gegenüber den Tschechen (und sogar bis zu einem gewissen Grade dem Staat Österreich-Ungarn gegenüber) zeigten, Kraus’ Position war zwar noch nicht die offizielle (vgl. den Beschluss von 1911), sie war aber vermutlich schon damals mehrheitsfähig, wenn man bedenkt, wie schnell sich nach 1918 die alleinige Verwendung von tschechisch mit Bezug auf die Sprache durchsetzte. In ähnlicher Weise äußerten sich im Jahre 1911 übrigens auch andere tschechische Intellektuelle – KOŘALKA (1911: 71ff.) erwähnt u.a. den Historiker Josef Pekař, den Ökonomen Albín Bráf und den Philosophieprofessor František Drtina.

Zu klären wäre, was nun eigentlich zu diesem Meinungsumschwung in der tschechischen Gesellschaft geführt hat, denn der Anspruch, dass Böhmen (und Mähren) den Tschechen gehörten, wurde ja keineswegs aufgegeben. Ich sehe mich derzeit noch nicht in der Lage, eine vollständige Erklärung der entsprechenden Entwicklungen zu geben, für die vor allem noch viel Material beschafft und aufgearbeitet werden müsste. Ich möchte aber auf zwei Bereiche hinweisen, die hier viel stärker als bisher einbezogen werden müssten.

An erster Stelle möchte ich erwähnen, dass ab den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts auch von tschechischer Seite häufig der Terminus čechoslawisch verwendet wurde. Hier ging es um die Übersetzung des tschechischen českoslovanský, das als Entsprechung zu českoněmecký (im Sinne von deutschböhmisch) geprägt worden war und ursprünglich die Sprache der slavischen Bewohner Böhmens markieren sollte (vgl. hierzu auch KOŘALKA 1991: 72ff.). Dieser Terminus machte später eine große Karriere, da er die Einbeziehung der Slovaken und des Slovakischen erlaubte, und floss letztlich mit der konkurrierenden Bezeichnung československý zusammen, was wiederum zur Verdrängung des deutschen Äquivalents čechoslawisch durch tschechoslowakisch führte – eine kurze Zeit lang wurde er aber auch in gewissen offiziellen Kontexten verwendet. Ich verweise hier auf die Tatsache, dass am Altstädter Gymnasium, das Franz Kafka besuchte, das Unterrichtsfach

Böhmisch ab dem Schuljahr 1894/95 als Čechoslawisch bezeichnet wurde (vgl. NEKULA 2003: 137). Dies war aber offenkundig nur ein Übergangszustand, denn bereits 1911 meinte František Drtina in einem Brief an Josef Podlipný: „Der Name českoslovanský läßt sich mit dem Wort böhmisch-slawisch nicht gut übersetzen, und čecho-slawisch ist viel bedeutungsvoller“ (KOŘALKA 1991: 72).

Ein weiterer und, wie ich meine, wesentlicherer Faktor, der in der Literatur zu wenig beachtet wird, ist der Einfluss der Lage im deutschen Sprachgebiet außerhalb Österreich-Ungarns auf die Verwendung von böhmisch und tschechisch. Ich hatte ja schon oben auf den Sprachgebrauch der Tübinger Chronik im Jahr 1848 hingewiesen, dieser hat sich in den folgenden Jahren auch nicht erkennbar verändert, sondern hier blieb das Adjektiv tschechisch und das Substantiv Tscheche die übliche Bezeichnung des slavischen Nachbarvolks. Vgl. etwa die beiden folgenden Zitate aus dem Jahre 1866:


In Prag (28. Febr.) haben czechische Studenten bei einer Vorlesung des Geschichtsprofessors und Landtagsabgeordneten Höfler, der bekanntlich klar bewies, daß das Gerede von der Krone des heil. Wenzel reiner Unsinn ist, sich so skandalös benommen, daß Höfler den Saal verlassen mußte. Es fehlte wenig, daß es zwischen den deutschen und czechischen Studenten zum Handgemenge gekommen wäre. (TÜBINGER CHRONIK 1866, Nr. 47: 196.)


Prag, 2. März. Im Landtag wurde nach zweitägigen tumultuarischen Verhandlungen der

Rieger'sche Antrag, betreffend die Czechisirung der Prager Universität, mit 121 gegen 101 Stimmen angenommen. Der auf der Gallerie anwesende czechische Pöbel sekundirte seinen Abgeordneten mit Slawagebrüll; die Gallerien mußten geräumt, die deutschen Abgeordneten aber unter dem Schutze der Polizei und deutscher Studenten in ihre Wohnungen gebracht werden. (TÜBINGER CHRONIK 1866, Nr. 48: 199.)


Eine solche konsequente Verwendung von tschechisch (bzw. czechisch) ist aber nicht nur für die Publizistik charakteristisch. Bemerkenswert erscheint mir beispielsweise, dass es bereits in Meyers Conversationslexikon aus dem Jahre 1846 einen Artikel Czechische Sprache und Literatur gibt, in dem es zwar zu Anfang heißt „die böhmische Sprache, von den Böhmen selbst czechische Sprache genannt, ist ein eigner Dialekt des großen slavischen Sprachstammes…“, in dem dann aber im Weiteren nur noch vom Czechischen die Rede ist (MEYER 1846, Bd. 7: 576f.). 1851 erscheint das Wort czechisch erstmals im Titel eines in Deutschland herausgegebenen Buchs. Die Übersetzerin Ida von Düringsfeld (1815–1876) veröffentlichte die Gedichtsammlung Böhmische Rosen.

Czechische Volkslieder (VON DÜRINGSFELD 1851), eine Publikation, die den Tschechen ausgesprochen wohlgesonnen ist, denn die Übersetzerin setzte sich zum Ziel, die in Deutschland unbekannten Lieder bekanntzumachen. Vgl. hierzu einige Sätze aus dem Vorwort:


Es sind jetzt gerade zwei Jahre, daß wir in Prag die Ereignisse abwarteten. Diese Erwartung war damals keine angenehme, wir bedurften einer Zerstreuung und wählten dazu die czechische Sprache. (…) Nachdem ich sie gelernt hatte, wollte ich lesen. In jeder fremden Sprache habe ich noch mit der Poesie angefangen – die Prosa kommt erst nachher. So fragte ich denn nach czechischer Poesie und unser Lehrer brachte mir die Písně Národní, welche von Karl Jaromir Erben gesammelt, 1842 in Prag erschienen sind. (…) Wir gingen nach Dresden, wo ich den Foscarini vollenden wollte. Ich sprach von meinen czechischen Liedern, sang die Melodien davon vor – „wie,“ fragte man mich, „haben die Czechen eine Poesie? das hätten wir nicht gedacht.“ Das arme, schöne, czechische Lied, nicht einmal sein Dasein war bekannt, und das in Dresden, welches Thür an Thür mit Prag liegt!


Ich möchte nicht bestreiten, dass es auch feindliche Stimmen gab, so etwa in der antitschechischen Hetzschrift Tschechische Gänge. Böhmische Wanderungen und Studien (ANDRÉE 1872), die konsequent tschechisch als negatives Attribut verwendet und böhmisch faktisch den Deutschen vorenthält, aber auch die Reihe der sich freundlich zum Tschechischen äußernden Autoren könnte fortgesetzt werden. Erwähnt sei hier nur, dass es für August Leskien offenbar selbstverständlich war, in der Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts in seinen „Vorlesungen zur vergleichenden Grammatik der slawischen Sprachen“ durchgehend von der czechischen Sprache zu sprechen (vgl. EICHLER, SCHRÖTER 1991).

So entsteht bei Durchsicht deutscher Texte, die außerhalb Österreich-Ungarns entstanden sind, der Eindruck, dass sich in diesem Gebiet die Wörter tschechisch und Tscheche schon ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts vollständig durchgesetzt haben. Hierzu passt auch die Äußerung von KRAUS (1921a: 1), er habe sich schon lange daran gewöhnt, „im Gespräch, insbesondere mit germanistischen Kollegen an Universitäten, ‚Tscheche’ genannt zu werden und sich so zu nennen und Wert auf die Bezeichnung zu legen“, und habe deshalb den Widerstand gegen diese Bezeichnung nicht verstanden9 – ich vermute, dass hier gerade der Sprachgebrauch der germanistischen Kollegen außerhalb Österreich-Ungarns gemeint ist.

Innerhalb Österreich-Ungarns blieb die Verwendung von böhmisch bis zum Auseinanderbrechen des Staates üblich, insbesondere in offiziellen Texten. Dies wird gerade auch durch den oben angeführten Sprachgebrauch Kafkas deutlich, der in anderen Kontexten überwiegend tschechisch verwendete. Die Beibehaltung von böhmisch in der Amtssprache dürfte auf der einen Seite an dem Landtagsbeschluss von 1861 und dem Beharren konservativer tschechischer Kreise auf der ihm zugrundeliegenden staatsrechtlichen Konzeption gelegen haben, auf der anderen Seite war es vermutlich auch im Interesse der österreichischen Behörden, durch eine unklare Terminologie nicht zu deutlich auf die Anwesenheit einer selbstbewussten slavischen Mehrheitsbevölkerung in Böhmen aufmerksam zu machen.


 

*Ich danke Václav Petrbok herzlich für seine unermüdliche Mithilfe bei der Literaturbeschaffung und für eine Reihe inhaltlicher Anregungen.


Anmerkungen

1 Das Duden-Wörterbuch gibt die folgende Erklärung an: Böhmen, die Böhmen betreffend; aus Böhmen stammend (DUDEN 1999, III: 635).

2 finden wir im Duden-Wörterbuch: a) die Tschechische Republik, die Tschechen betreffend; von den Tschechen stammend, zu ihnen gehörend; b) in der Sprache der Tschechen (DUDEN 1999, IX: 3 988).

3 Eine Situation, in der sich jemand vorstellt, er oder sie sei ein Böhme bzw. eine Böhmin, ist schwer vorstellbar. Ich habe dies tatsächlich einmal erlebt, doch ging es hier um eine Tschechin, die sich bewusst im Sinne des „Landespatriotismus“ stilisierte (auf den ich im Weiteren noch eingehen werde). Die Art und Weise, in der die Betreffende wortreich ihre Identität erläuterte, ließ klar erkennen, dass ihr selbst bewusst war, dass eine solche Identität ungewöhnlich und vor allem erläuterungsbedürftig ist.

4 Vgl. dazu KOŘALKA (1991: 62).

5 Ich persönlich halte dies für eine ungeschickte Nachbildung des russischen Gegensatzpaars rossijskij vs. russkij.

6 Zu diesem Thema verweise ich auf die Artikel von LEMBERG (1993) und STICH (2001) und beschränke mich auf einige kurze Bemerkungen. Die Neubildung Tschechien (zwar schon im 19. Jahrhundert belegt, aber eher als poetische Kreation denn als ernsthafte Landesbezeichnung) hat sich im Deutschen schnell als kürzeres Äquivalent von Tschechische Republik durchgesetzt, die tschechische Bezeichnung Česko (ebenfalls faktisch eine Neubildung, wenn auch eigentlich noch früher, nämlich bereits zu Ende des 18. Jahrhunderts, belegt) hat es da deutlich schwerer und ist immer noch umstritten, wird sich aber mit hoher Wahrscheinlichkeit doch durchsetzen, da es die einzig ernsthafte Konkurrenz zu Česká republika darstellt. Die Verwendung von Čechy in dieser Bedeutung kommt zwar vor, ist aber grob missverständlich, da dieser Name ja eigentlich nur den westlichen Teil des Staats bezeichnet (vgl. hierzu STICH 1995: 71).
7 Aus Platzgründen kann ich hier nicht ausführlicher auf die Problematik der Schreibung von tschechisch eingehen und beschränke mich auf die Feststellung, dass bis Ende des 19. Jahrhunderts in der Regel die Formen czechisch (bzw. auch mit Háček cžechisch/čechisch) vorherrschen und die Schreibung mit tsch nur von Deutschen verwendet wird. Nach dem Jahr 1900 befürworten dann auch Tschechen die Anpassung an die deutsche Orthografie (vgl. hierzu etwa KRAUS 1916/1917: 31), die sich spätestens nach 1918 weitgehend durchgesetzt hat.

8 Es ist mir leider nicht gelungen, diese Stelle ausfindig zu machen – in Buchform hat Mourek nur auf Tschechisch über das sog. Tandarius-Fragment der alttschechischenAlexandreis publiziert (vgl. MOUREK 1887).

9 „Byl jsem dávno zvyklý, v hovoru, zvlášť s kolegy germanisty na universitách, býti zván a zváti se „Tscheche“ a zakládat si na názvu, tak že jsem odporu proti němu nechápal“.


Literatur

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© Mit freundlicher Genehmigung des Autors; Erstveröffentlichung: Böhlau Verlag

 


Prof. Dr. Tilman Berger

Slavisches Seminar, Universität Tübingen

*1956 in Passau; von 1975 - 1982 zunächst Studium von Russistik und Mathematik, danach Slavistik; 1986 Promotion, 1994 Habilitation in Slavischer Philologie und ordentlicher Professor für Slavische Sprachwissenschaft an der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte u.a.: die Geschichte der tschechischen Schriftsprache im 17. und 18. Jahrhundert. Mitarbeiter der deutschsprachigen Wikipedia.





s.a. Bernhard #Bolzano. Priester, Provokateur und Aufklärer aus Prag: http://goo.gl/Xj3qh

 

 

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