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Über Heimatlosigkeit
Verlust der Sprache der Kindheit
und die ungestillte Sehnsucht nach ihr


Carolina Schutti

Einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein



2. Kapitel: Daunenhöhle


Steh nicht in der Tür herum, sagt die Tante.

Maja drückt sich vom Türstock weg, macht einen Schritt vorwärts, auf die Tante zu.


Ist sie gekommen?, fragt Maja.


Die Tante trocknet ihre nassen Hände am Geschirrtuch ab, nimmt die Strickjacke vom Haken, schlüpft zuerst in den rechten Ärmel, dann in den linken, immer zuerst in den rechten, schließt zwei Knöpfe, krempelt die Ärmel hoch und stellt sich wieder an die Spüle. Maja sieht die Tante von der Seite an, nimmt wortlos ein Geschirrtuch und hilft beim Abtrocknen. Das zarte Sonntagsgeschirr, weißes Porzellan mit hellblauem Muster, die frisch abgetrockneten Teller und Tassen kommen zuunterst in den Schrank. Maja steigt auf einen Stuhl, die Tante hebt vier Teller in die Höhe, Maja schiebt zwei Teller auf einmal unter den Stapel.


Damit das Geschirr in Umlauf bleibt, hat ihr die Tante beigebracht. Die Tassen schafft sie schon allein, die Gläser hat die Tante bereits auf ein eigenes Regal gestellt. Dann kommt das Besteck.


Pass auf, das Messer ist scharf, sagt die Tante, das sagt sie jedes Mal, und Maja fasst es am Griff, trocknet vorsichtig die Klinge, und wenn die Tante nicht hinschaut, greift sie prüfend mit dem Finger an die Schneide, bevor sie es in die Küchenschublade legt. Nur vor den schweren Pfannen hat sie Angst, sie braucht beide Hände, um sie zum Tisch zu tragen, trocknet sie zuerst innen, dreht sie um, trocknet dann Boden und Stiel. Sie lässt sie auf dem Tisch stehen, die Tante hängt sie selbst an die Haken, der Ton, den sie erzeugen, wenn sie an der dicken Steinmauer anschlagen, beendet die schweigsame Stunde: Beim Essen spricht man nicht und beim Abwaschen passt man auf, dass man kein Geschirr zerschlägt, Reden lenkt ab, die Leute reden ohnehin zu viel, sagt die Tante. Maja hängt das Geschirrtuch zum Trocknen über die Stuhllehne, die Tante zieht die Ärmel ihrer Wolljacke über die Handgelenke, reibt die roten Hände aneinander.


Ist sie gekommen?, fragt Maja noch einmal und die Tante schaut sie kurz an, schüttelt den Kopf. Es ist Sonntag, sonntags kommt keine Post und es wird auch nichts mehr kommen, Ostern ist drei Wochen her. Die Tante scheucht Maja aus der Küche, macht eines der kleinen Fenster auf, zieht die Tür hinter sich zu.


(…)


Warum hat der Vater nicht geschrieben, zu Weihnachten nicht, zu Ostern nicht, sonst sind seine Karten immer pünktlich gekommen, manchmal sogar ein oder zwei Wochen zu früh.


Ihr Lieben, frohe Feiertage.


Die Tante hat den knappen Gruß jedes Mal laut vorgelesen und die Karte dann zu den anderen in eine Schachtel gelegt. Wenn Maja wissen wollte, ob da noch mehr stehe, hat die Tante immer den Kopf geschüttelt, und als sie einmal gefragt hat, warum der Vater nicht mehr da sei und warum er nie zu Besuch komme und wo er denn wohne, hat sie gesagt, dass man nach vorne sehen müsse und Maja auf eine Weise angeschaut dabei, dass sie sich auf die Lippen biss, bis sich die Tante umdrehte und den Raum verließ.


Von der Vergangenheit kann man sich keine Scheibe abschneiden, das sagte sie oft, mit Schneiden kennt sich die Tante aus, sie schneidet Brot, sie schneidet Zwiebeln, Speck, Karotten, Tomaten. Sie kocht in emaillierten Töpfen, wärmt auf, was übrig bleibt, bäckt sonntags Kuchen, einfache Kuchen aus Hefeteig mit Streuseln obendrauf oder mit Früchten, das letzte trockene Stück bekommt Maja am Donnerstag nach dem Abendessen. Die Tante achtet darauf, dass das Kind wächst, dass es sauber ist und satt. Satt wird man vom dauernden Fragen nicht, das muss sie Maja noch beibringen, dass Fragen dazu dienen, sich nach der Gesundheit von jemandem zu erkundigen oder nach dem Wetter, dem Appetit oder danach, ob der Tisch schon gedeckt ist und das Essen fertig.


Es ist kühl in der Stube, Maja legt sich die rote Wolldecke über die Schultern. Im Ofen liegen Holzscheite und Papier bereit für den Fall, dass es sich einzuheizen lohnt. Diesem Kachelofen hat ihr Vater sein Leben zu verdanken, das hat ihr die Tante einmal erzählt. Dass der Winter in seinem Geburtsjahr besonders streng und der Ofen regelmäßig warm gewesen sei. Dass sie den schwächlichen Säugling in Tücher gepackt und in einem Korb oben auf die Kacheln gestellt habe.

Aber zu den Karten sagte sie nichts und sie sprach auch nicht darüber, warum der Vater weggegangen war, gerade als Maja sich daran gewöhnt hatte, Papa zu ihm zu sagen.


Majas Erinnerung verdichtet sich an dem Moment, als sie das Haus zum ersten Mal betreten hatte. Ihr Vater war ihr voraus gegangen, um sich an den blanken Holztisch zu setzen, Maja blieb in der Tür stehen und verstand nicht, was die Tante von ihr wollte.


Steh nicht in der Tür herum, muss sie gesagt haben, denn das sagt sie immer, wenn sich Maja an den Türstock lehnt, darauf wartet, dass ihr die Tante ein Geschirrtuch in die Hand drückt oder dass sie mit dem Kinn auf den Küchenkasten deutet, wenn Maja den Tisch decken soll.


Es war dämmrig gewesen im Raum, Maja hatte die kleinen Fenster gezählt, adzin, dva, try, bis zehn konnte sie schon zählen, aber es gab nur drei. Drei kleine Fenster in dicken Mauern aus Stein. Eine holzgetäfelte Decke. Eine leinenbespannte Lampe über dem Esstisch, die schwaches Licht gab. Die Tante drehte ihr den Rücken zu, hantierte mit Geschirr, etwas kochte auf dem Herd. Maja kannte den Geruch nicht, der von dem Topf ausging, sie konnte nicht einmal sagen, ob er angenehm war oder nicht. Wie angewurzelt stand sie unter dem Türstock, blickte abwechselnd von ihrem Vater zur Tante und wieder zurück. Vaters Gesicht im Halbschatten. Keiner blickte sie an, die Tante stellte dem Vater ein Glas Milch auf den Tisch, rührte im Topf, der Vater starrte auf die Tischplatte. So, sagte er. Und noch einmal, so. Nach einer Zeit, die Maja endlos vorkam, machte die Tante einige Schritte auf sie zu. Maja stand vor der geblümten Kittelschürze, die Tante wischte ihre nassen Hände daran ab, fasste Maja an der Schulter und schob sie zum Tisch. Maja setzte sich dem Vater gegenüber, sah zu, wie er seine Milch trank.


(…)


Die Uhr schlägt drei, in einer Stunde wird die Tante wieder da sein. Der Kachelofen ist kalt, die Schläge der Uhr verklingen, das bleiche Nachmittagslicht lässt den Raum noch dunkler wirken als sonst. Maja wickelt sich aus der Wolldecke, horcht, ob wirklich alles ruhig ist im Haus, setzt die Füße nebeneinander auf den Boden und wählt den leisen Weg, schleicht, obgleich sie allein ist, zur Vorratskammer. Irgendwo knackt Holz, ein Balken, die Wandvertäfelung im Flur, der Boden, Maja erschrickt, doch es bleibt ruhig, es war nur das Haus, sie legt die Hand auf die Türklinke, hofft, dass die Tante nicht abgeschlossen hat. Die Tür geht auf, es riecht nach Zwiebeln und Rauchwurst, Maja stellt sich auf die Zehenspitzen, um den Lichtschalter zu erreichen, er hängt lose an einem Kabel von der Decke. Das Licht flackert, dann beruhigt es sich, leuchtet die Regale aus, den verbotenen Raum, den nur die Tante betreten darf. Dabei gibt es nichts, was Kinder anlocken könnte, nur fest verschlossene Marmeladengläser, Packungen mit Zucker und Mehl, Schmalztöpfe, Gemüse, Brot, das erst drei Tage hier liegen muss, bevor es die Tante aufschneidet, damit nicht zu viel davon gegessen wird. Da hinein war die Tante verschwunden, nachdem sie Maja die letzte Karte des Vaters vorgelesen hatte:


Ihr Lieben, frohe Feiertage.


Maja untersucht Regal für Regal, schiebt eine Trittleiter von der hinteren Ecke des Raumes in die Mitte, tastet die oberste Stellage ab. Sie spürt etwas Eckiges, Hartes, festen Karton. Ihre Fingerspitzen kratzen daran, sie ist zu klein, kann ihn nicht weiter nach vorne ziehen. Dann bekommt sie eine Kante des Deckels zu fassen, steckt ihre Fingerspitzen unter den Rand, zieht die Schachtel nach und nach zu sich heran, bis sie sie in beide Hände nehmen kann. Sie ist leicht, leichter als erwartet. Maja stellt den Karton auf die Trittleiter, nimmt den Deckel ab und holt Karte für Karte heraus. Sie kann Vaters Schrift nicht lesen, obwohl die Lehrerin sie dafür gelobt hat, dass sie sich die Buchstaben so schnell merken konnte, schneller als die anderen Kinder, aber Vaters Schrift zieht sich in großen Bögen über den knappen Platz auf der Postkarte wie eine Spur im Schnee, verschlungen, unlesbar, ins kalte Weiß gedrückt von herabgefallenen Zweigen oder Schneehäubchen, die in dicken Tropfen von den Ästen gefallen sind. Osterhasen, Weihnachtsbäume und Geburtstagstorten hält Maja ins Licht, die beschriebene Seite hält sie schräg, fährt tastend mit dem Zeigefinger darüber, haucht sie an, befeuchtet den Finger mit Spucke, tupft vorsichtig Feuchtigkeit auf, doch es will sich keine Geheimschrift zeigen, nichts war hingeschrieben und dann doch ausgelöscht worden.


Ihr Lieben, frohe Feiertage, Maja muss es der Tante glauben, ein ganzer Stapel pünktlicher Wünsche in einer alten Schachtel ohne doppelten Boden.


Maja stellt den Karton wieder zurück, berührt die Zwiebeln, die Würste, das Brot, riecht an ihren Fingern, löscht das Licht, schließt die Tür und geht über die Treppe in ihr Zimmer hinauf. Legt sich ins Bett, versteckt sich unter der dicken Daunendecke, achtet darauf, dass keine verräterische Haarsträhne mehr hervorschaut, dass ihre Beine ausgestreckt liegen ohne dass die Knie die Decke zu einem Berg auftürmen, dass der Atem ruhig geht. Sie atmet ein und aus, die Luft wird warm und dick, dick wie Sirup, den man nicht unverdünnt trinken darf, sie macht ein kleines Luftloch zur Wandseite hin, schließt die Augen. Sie sieht Zwiebeln und Brot, flackerndes Licht, sieht sich Regale abtasten, alles berühren, was sie sieht. Staub klebt an ihrem Finger, sie leckt ihn ab: Wie Zucker, warum hat ihr niemand gesagt, dass Staub nach Zucker schmeckt, oben liegt mehr davon, sie streckt sich, sie will das oberste Regal erreichen, da verlassen ihre Füße den Boden, wie einfach das geht, man muss es sich nur fest genug wünschen, sie schwankt ein wenig in der Luft, höher, noch ein bisschen höher, sie streckt die Arme aus, hält sich am Regal fest, doch statt des Staubes sieht sie Geburtstagstorten, eine neben der anderen. Sie will mit dem Finger in die Creme fahren, doch der bunt gefärbte Sahneüberzug fühlt sich steif an, ausgetrocknet, die Torten sind aus Karton, beklebt mit harten Zuckerherzen. Maja bricht eines ab, ein rosarotes, eingetrocknetes Zuckerherz, es kracht laut, als sie es abbricht, es kracht noch einmal und noch einmal, wie ein Echo, dabei hat sie sich doch nur ein kleines Stück genommen. Auf einmal strömt kalte Luft herein, das Krachen hört auf, die Holzpantoffeln der Tante stehen vor Majas Bett, ihre Hände haben die Decke mit einem energischen Ruck weggezogen.


Tagsüber schlafen, das gibt es nicht, nicht bei mir, sagt sie, die Kartontorten verschwinden, die Herzen, der Zucker, das Schweben. Nicht bei mir, sagt die Tante, nicht laut, leise beinahe, aber so bestimmt, dass Maja Tränen in die Augen treten und sie wortlos aufsteht, Kopfkissen und Decke aufschüttelt, hinter der Tante hergeht, die kein Wort mehr sagt, sondern mit dem Kinn auf die Küchentür deutet, auf den Küchenkasten, auf den Tisch, ein bisschen später auf das Brotmesser und auf den Topf für das Teewasser.


Das geht so nicht, sagt sie dann, als sie am Tisch sitzen, ich ziehe hier keinen Tagedieb auf, und Maja weiß, dass sie keinen Grund hat zu weinen, die Tante schreit nicht und sie schlägt nicht, und Maja stellt sich vor, wie das Wasser, das in ihren Augen steht, versickert, bevor es nach draußen rinnen kann, sie stellt es sich ganz fest vor, damit die Tante sieht, dass sie ein vernünftiges, großes Mädchen ist, und es gelingt ihr, sie schluckt die Tränen, verspricht, sich nützlich zu machen, auch am Sonntag.



aus: Carolina Schutti, einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein
© Otto Müller Verlag, Salzburg 2012

Mit freundlicher Genehmigung von Autorin und Verlag

 

 


 

Schutti, Carolina
Einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein
144 S., geb., € 18,00 / Ebook: € 14,99
ISBN: 978-3-7013-1193-4


 

 

 

Maja kommt als kleines Kind nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter zu ihrer Tante in ein abgelegenes Dorf. Dort verlernt und vergisst sie ihre Muttersprache und beginnt erst, nach ihrer verschwiegenen Vergangenheit zu forschen, als es eigentlich schon zu spät dafür ist...
Ein schattiges Dorf und eine Tante, die nicht über die Vergangenheit spricht: In diese Welt wird Maja von einem Tag auf den anderen geworfen. Mit dem frühen Tod ihrer weißrussischen Mutter geht ihre Sprache verloren, sie versteht die Tante nicht, die von nun an für sie sorgt. In dem abgelegenen Haus gibt es nicht viel Abwechslung für das in sich gekehrte Mädchen. Einzig Marek, ein ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter, vermag Maja ein Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln. Der Klang seiner Muttersprache erweckt in ihr eine Erinnerung an die eigenen vergessenen Wurzeln, an die verlorene Sprache ihrer frühesten Kindheit. Als Heranwachsende versucht sie, an der Seite ihrer Freundin, ihrer inneren Heimatlosigkeit zu entkommen und verlässt schließlich mit deren Bruder das Dorf, um in der Stadt ein neues Leben zu beginnen.
Doch Sprachlosigkeit und unausgesprochene Geheimnisse lassen sie auch dort nicht los. Sie beschließt, das Schweigen hinter sich zu lassen und begibt sich auf die Suche nach ihrer verlorenen Herkunft. (Verlagsinfo)



 

 

Carolina Schutti,*1976 in Innsbruck, wo sie auch mit ihrer Familie lebt. Sie studierte Germanistik, Anglistik und Amerikanistik, Konzertgitarre und absolvierte eine Gesangsausbildung. 2004 promovierte sie über Elias Canetti (Die Bibel in Elias Canettis ,Blendung‘) . Nach einigen Jahren Unterrichtstätigkeit war sie Lektorin an der Università degli Studi di Firenze, anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin im Literaturhaus am Inn, seit 2009 ist sie Vorstandsmitglied des Brenner-Forum. Sie veröffentlichte Literaturabhandlungen, Kritiken und Kurzprosa in verschiedenen Literaturzeitschriften und Hörspiele. Am 14. April 2015 wurde das Buch mit dem European Union Prize for Literature ausgezeichnet.
Weitere Werke:
Eulen fliegen lautlos, Novelle 2015
Wer getragen wird, braucht keine Schuhe, Roman, 2010

 

Infos: http://www.carolinaschutti.org



Die übrigen Preisträgerinnen und Preisträger 2015
Carolina Schutti • Luka Bekavac • Gaëlle Josse • Edina Szvoren • Donal Ryan • Lorenzo Amurri • Undinė Radzevičiūtė • Ida Hegazi Høyer Magdalena Parys • David Machado • Svetlana Žuchová • Sara Stridsberg
http://www.euprizeliterature.eu/sites/www.euprizeliterature.eu/files/Twelve_Winning_Authors_2015.pdf



 


Das Gefühl einer Sprache ist die einzige Wurzel,
die mir geblieben ist



s. dazu hier auch: Skype Mama!; Kurz und gut 



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