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Die Treue zum Buchstaben

Paul Celans Kafka-Rezeption, analysiert von Florian Welling

 


  











Florian Welling: »Vom Anblick der Amseln«.
Paul Celans Kafka-Rezeption.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
596 Seiten, ISBN-13: 9783835334359




„Lesen Sie! Immerzu nur lesen, das Verständnis kommt von selbst“ - Paul Celan

 


Von Joachim Seng


Paul Antschel, der sich später als Dichter Paul Celan nennen sollte, stammte aus der Bukowina, dem Buchenland, das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum Vielvölkerstaat der k.u.k. Monarchie Österreich-Ungarn gehörte. In Czernowitz, der Hauptstadt des Buchenlandes, lebte eine multikulturelle Stadtbevölkerung. Die dominierende Sprache war das Deutsche, auch noch im Jahr 1920, als Celan geboren wurde und die Bukowina rumänisch geworden war. Die „Jugend jubelte Kraus zu, las die Expressionisten, las George, Rilke, Kafka, Brecht“, erinnert sich die Dichterin Rose Ausländer. Wer sich für die moderne deutsche Literatur interessierte, der kannte Franz Kafkas Prosa.


Dass die Begegnung mit dem Prager Autor für seine literarische Sozialisation eine wichtige Rolle spielte und Kafka den „geistigen Horizont seiner Jugend gebildet habe“, hat Celan selbst bekannt. Als sein Mentor Alfred Margul-Sperber sein Gedicht-Manuskript mit dem Titel Der Sand aus den Urnen nach Wien schickt, nennt er den Dichter im Herbst 1947 nicht zufällig „das einzige lyrische Pendent des Kafka’schen Werkes“. Bereits in Bukarest, wohin Celan nach Arbeitslager und der Ermordung der Eltern geflohen war, hatte er Erzählungen Kafkas ins Rumänische übersetzt und selbst Prosa geschrieben, die 1949 unter dem Titel Gegenlicht im Feuilleton der schweizerischen Zeitschrift Tat erschien. Max Rychner, dem verantwortlichen Redakteur, hatte er dazu geschrieben, dass seine Aphorismen „vielleicht da wo sie am eigenwilligsten sind, die Realität der Dichtung beweisen helfen“ könnten. Diese kurzen Prosatexte verraten nicht allein den Einfluss der Surrealisten, sondern erinnern auch an Kafkas Texte.


Die These, Kafkas Werk habe für Celan eine besondere Bedeutung, ergibt sich also schon aus der Biografie und wäre allein nicht besonders originell. Aber darum geht es Florian Welling in seiner knapp 600 Seiten starken Studie über Paul Celans Kafka-Rezeption auch nicht, die an der Universität Heidelberg 2017 als Dissertation vorgelegt wurde. Zumindest nicht in erster Linie, auch wenn seine Studie chronologisch angelegt ist, in Czernowitz beginnt und mit dem letzten Gedichtband Schneepart endet. In erster Linie geht es ihm um Textinterpretationen, die er geschickt aus dem Gesamtwerk Celans auswählt. Dabei analysiert Welling scharfsinnig und wertet die Forschungsliteratur zum Thema – die erstaunlich gering ist – gründlich aus. Auch alle verfügbaren Zeugnisse zu Kafka nennt er in seiner Studie und hat alle Briefe, Aufzeichnungen, Lektürespuren aus dem Nachlass des Dichters ebenso ausgewertet, wie die Bibliothek Celans, die sich ebenfalls im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befindet. Gerade in den Werken Kafkas finden sich zahlreiche Anstreichungen und Notate, die einen interessanten Blick auf Celans Rezeption werfen. Zu Recht betont der Autor, dass Celan ein großer Leser war, der bei seinen Lektüren auf wirkliche Begegnungen hoffte. Doch bergen solche Lektürespuren auch immer die Gefahr, Anstreichungen überzubewerten und nicht markierte Stellen zu vernachlässigen, die Celan doch gelesen habe könnte. Zumal der Dichter manche Texte in unterschiedlichen Lebensphasen las und dabei eventuell anders oder neu bewertete.


Insofern ist es sinnvoll, dass Welling sich für eine chronologische Betrachtung von Celans Kafka-Rezeption entschieden hat, weil er so zeigen kann, dass Celans literarische Auseinandersetzung mit Kafka unterschiedliche Phasen durchläuft. Parallel verläuft dabei die poetologische Aneignung, die vor allem in der Büchnerpreis-Rede von 1960 ihren Niederschlag findet und eine mehr persönliche, die Kafka zum „Verbündeten“ in der Plagiatsaffäre werden lässt, die Claire Goll im Vorfeld der Preisverleihung neu befeuert hatte. Diese heimtückischen und erfundenen Vorwürfe der Witwe Ivan Golls markieren eine schmerzhafte Zäsur in Celans Leben und Werk. Welling bezeichnet das Jahr 1959 als „Wendepunkt“ in Celans Verhältnis zu Kafka. Es war das Jahr, in dem sein Gedichtbuch Sprachgitter im S. Fischer Verlag erschien, also in jenem Verlag, in dem auch Kafkas Werk eine Heimat gefunden hatte. Celans Wiener Freund Klaus Demus war schon 1957 zu S. Fischer gewechselt. Ihm hatte er geschrieben: „Nun erscheinen Deine Gedichte in dem Hause, in dem auch Kafka und Hofmannsthal erschienen sind: schöner konnte es kaum sein.“ Beider Lektor, Rudolf Hirsch, gab auch die Neue Rundschau heraus, jene bedeutende Zeitschrift der Nachkriegszeit, in der Autoren wie Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Walter Benjamin, Martin Buber, Sigmund Freud und auch Franz Kafka publiziert wurden; daneben Weltliteratur in deutschen Übertragungen, wie die russischen Dichter Ossip Mandelstamm und Sergej Jessenin, die Celan den deutschen Lesern bekannt machte. In Kafkas Verlag war Celan, wie Hirsch ihm 1959 schrieb „der einzige lebende Dichter, um dessentwillen sich das tägliche Spiel lohnt, den zum ‚Autor‘ zu haben mich freut“.


In die Hoffnungen, die Celan mit dem Verlagswechsel verband, fielen die erneuten Plagiatsbeschuldigungen von Claire Goll, die alte Wunden wieder aufrissen sowie Rezensionen seines Gedichtbandes, die der Dichter als antisemitisch empfand. Es entstehen die Büchnerpreis-Rede Der Meridian und zuvor schon der Prosatext Gespräch im Gebirg, der in der Neuen Rundschau erscheint. Beide Texten, so analysiert Welling, enthalten Spuren von Celans Kafka-Lektüren. Allerdings, so stellt der Autor richtig fest, sind es nicht immer Primärtexte, die Celan interessieren, sondern zugleich Texte über Kafka, wie Walter Benjamins Kafka-Essay (s. hier Benjamin über Kafka) und Margarete Susmans Aufsatz Früheste Deutung Franz Kafkas. Was Welling zwar erwähnt, aber in seiner Bedeutung für Celan unterschätzt, ist der Einfluss Adornos auf die Kafka-Rezeption des Dichters. Ebenfalls in der Neuen Rundschau waren Adornos Aufzeichnungen zu Kafka erschienen, die Celan gründlich las und mit reichlich Lektürespuren versah. Eine davon lautet:


Der Künstler ist nicht gehalten, das eigene Werk zu verstehen, und man hat besonderen Grund zum Zweifel, ob Kafka es vermochte. […] Die Autorität Kafkas ist die von Texten. Nur die Treue zum Buchstaben, nicht das orientierte Verständnis wird einmal helfen. In einer Dichtung, die unablässig sich verdunkelt und zurücknimmt, wiegt jede bestimmte Aussage die Generalklausel der Unbestimmtheit auf.


An einer anderen angestrichenen Stelle liest man: „Kennt Kafkas Werk Hoffnung, dann eher in jenen Extremen als in den milderen Phasen: im Vermögen, noch dem Äußersten standzuhalten, indem es Sprache wird.“ So war es auch Adorno, der als Verbündeter in der angespannten Situation zwischen 1959 und 1960 Celans Kafka-Rezeption nachhaltig beeinflusste. Eine solche Autorität, wie Adorno sie für Kafkas Texte diagnostizierte, meinte auch Celan mit seinen Gedichten vorgelegt zu haben. Seine Rede von Kafkas Treue zum Buchstaben in einer Dichtung, die sich verdunkelt, liest sich, wie ein Interpretationsansatz der Celan’schen Poesie. Und jene Hoffnung, „noch dem Äußersten standzuhalten, indem es Sprache wird“, speist sich aus jener Zuversicht, der sich Celans Dichtung bei allen Anfeindungen verschrieben hatte. Adornos Kafka-Essay begegnet dem Leser Celan in einem entscheidenden Lebensmoment, und er zeigt ihm seine Geistesbruderschaft mit dem deutschsprachigen, jüdischen, für die Dunkelheit seiner Dichtung geliebten und angefeindeten Dichter Franz Kafka, einem Kind der k.u.k. Monarchie, wie er selbst. In einem Brief aus dem Jahr 1959 schreibt Celan über sein aktuelles Gedicht Zuversicht:


Zuversicht: Als Titel, als Anfang – dazu als ‚Endwort‘ Brüder. Das Wort – eine Leiche, aber: laß uns sie waschen, laß uns sie kämmen, laß uns ihr Aug himmelwärts wenden! Welche Zuversicht? Von Kafka her, mit ihm weiterdenken: ‚Die Tatsache, daß es nichts gibt als eine geistige Welt, nimmt uns die Hoffnung und gibt uns die Gewißheit!‘ Ich habe das immer so gelesen, als wäre es ein Grund dazusein, zu leben, zu atmen.


So wird ihm Kafka „unter dem Akut des Heutigen“ zum Verbündeten im aktuellen Kampf für die Dichtung.


Dass Welling in seiner wichtigen Arbeit Celans Kafka-Lektüren anders gewichtet, kann ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden. Es dokumentiert nur die Aussichtslosigkeit des Versuchs, Celans Lektüren oder seine Dichtung vollständig zu entschlüsseln – zumal unter einer eingeschränkten Fragestellung. Dennoch stellt die vorgelegte Studie die bisher umfangreichste Auseinandersetzung mit Celans Kafka-Rezeption dar und liefert eine Reihe von gründlichen Interpretationen. Celans Ratschlag für eine Gedichtanalyse, „Lesen Sie! Immerzu nur lesen, das Verständnis kommt von selbst“, hat Welling ernst genommen. Celans Gedichte sowie jeder seiner poetischen Texte verlangen nach einem aufmerksamen Leser, der jeden Text sorgfältig befragt. Wellings Arbeit trägt in jedem Fall dazu bei, Celans Kafka-Rezeption besser zu verstehen.


© Dr. Joachim Seng, mit freundlicher Genehmigung des Autors; Erstveröffentlichung: www.literaturkritik.de




Autor

*1966 Frankfurt/Main. Studium der Germanistik, Politologie und Volkswirtschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. 1997 Promotion mit der Arbeit: Auf den Kreis-Wegen der Dichtung: zyklische Komposition bei Paul Celan in den Gedichtbänden bis „Sprachgitter“ (Heidelberg 1998). Seit 1997 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Freien Deutschen Hochstift/Frankfurter Goethemuseum, seit 2007 Leiter der dortigen Spezialbibliothek zur Goethezeit und Romantik. Diverse Editionen und Publikationen zu Paul Celan; weiter Veröffentlichungen zu Ernst Beutler, Rudolf Borchardt, Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann und die Geschichte des Frankfurter Goethe-Museums. Zuletzt erschien: (gemeinsam mit Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz): Monsieur Göthé. Goethes unbekannter Großvater. Berlin. Die Andere Bibliothek 2017.


 

 

   

Franz Kafka

 

Paul Celan; R. v. Mangoldt



»Lesen ist ein fester Bestandteil meines Lebens«

Paul Celan an seine Frau Gisèle.  

 


20VII19



  



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