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13. Internationales Literaturfestival Berlin (ilb 2013)

Schwerpunktthema: Das Alter





Ich erinnere mich...

von Dacia Maraini


Ich erinnere mich noch, wie ich als Kind ein junges Mädchen mit schlankem Hals und wohlgeformten Schultern anstarrte. Sie war neunzehn, ich zwölf. Für mich war das ihre das Erwachsenenalter, wenn nicht gar die Schwelle zum Alter. Ich schaute sie mit einer Mischung aus Bewunderung, Furcht und Minderwertigkeitsgefühl an. Sie hatte leuchtende Augen und einen prallen Busen, und ich fand sie wunderschön. Mager, wie ich als Heranwachsende war, kam ich mir selbst unfertig und ungelenk vor

Damals habe ich mir zum ersten Mal Fragen über die Zeit gestellt: Warum vergeht sie? Wie vergeht sie? Wohin geht sie? Was ist die Kindheit? Was ist das Erwachsenenalter? Was passiert mit unserem Körper, wenn er wächst? Und weiter: Was ist die Ewigkeit? Gibt’s so was, oder stellen wir uns das bloß vor? Hat die Eintagsfliege ein Gefühl davon, wie lange sie lebt? Und wir, leben wir vielleicht auch nur ein paar Minuten, wie die Eintagsfliege, haben aber gelernt, die Zeit so auszudehnen und zu stücken, wie es zu unserer Lebensdauer passt?

Verglichen mit den Zeiträumen des Weltalls, welche Bedeutung hat da die Dauer eines Menschenlebens? Wir trösten uns freilich über solche Fragen hinweg, denn wir haben eine so sinnig-hübsche, auch ein bisschen absonderliche Sache wie die Uhr erfunden, die uns die Zeit vorgibt: morgens, mittags, abends, nachts. Und dann? Was kommt dann? Dürfen wir denn hoffen, dass hinterher etwas kommt? Oder ist das eine kindische Anmaßung

"Hinterher ist nur Dunkel und Auflösung. Mit dem Körper hat’s ein Ende, den fressen die Würmer, und er wird zu Dünger“, sagte mein Vater, ein Rationalist mit einem Sinn für die großen Dimensionen des Weltalls. Und das soll’s gewesen sein? Wer lebt, für den ist es schwer, sich den eigenen Tod vorzustellen. Darum lasst uns froh und zuversichtlich leben. „Wer froh sein will, soll’s heute sein, was morgen ist, ist ungewiss“, wie Lorenzo de’ Medici dichtete ...


Ich erinnere mich, wie mein Blick, als ich schon lange erwachsen war, auf dem sonnengebräunten und tätowierten Arm eines jungen Theaterschriftstellers ruhte. Wir waren von einer Theatertruppe angesprochen worden, die ein paar neue Texte zum Thema Wahnsinn auf die Bühne bringen wollte. Er war zwanzig Jahre alt, ich fünfzig. Ich schaute ihn mit einer Mischung aus Bewunderung und einer Art zärtlichem Neid an und dachte dabei: Mit diesen herrlichen nackten Armen wird er das Schreiben umarmen, wie er das Leben umarmt, und es an sich drücken, männlich und meisterlich. Meine Arme waren viel schwächer, unsicher. Vor allem waren sie kein bisschen tätowiert. Auf seinem sah man ein stürmisches Meer mit gekräuselten Wellen und ein Boot, das sich den stürzenden Fluten wacker entgegenwarf. Ich fühlte mich alt, sehr alt. Als wir uns sechs Monate später wiedersahen, um unsere Beiträge abzugeben, erlebte ich eine große Überraschung. Er gestand nämlich, dass er nichts geschrieben hatte. Sein Ehrgeiz, sagte er, strebe nach „Höherem, Tieferem, auch Perverserem“.

So sprach er, und mir kam er, wie er sich da über alle Gepflogenheiten hinwegsetzte, fast wie ein Held vor. Ich dagegen hatte, brav wie ein verständiges Schulmädchen, meinen Text mitgebracht, hielt ihn verschämt in einer blauen Mappe verborgen und erwartete furchtsam das Urteil des Regisseurs und der Truppe.

Ich erinnere mich, wie ich, sechzigjährig, den weiß gekleideten Körper eines Seemanns ansah, der mir zu Hilfe eilte, als ich, nach Hause radelnd, von einem Auto angefahren worden war. Von den Passanten blieb keiner auch nur stehen; der Einzige, der sich zu mir niederbeugte, um zu fragen, ob er mir helfen könne, und der dann einen Krankenwagen holte, war er, dieser junge weiß gekleidete Matrose. Er war so nett, mir Gesellschaft zu leisten, und erzählte mir von einer Reise in ein fernes Land, zu der er gerade aufbrach. Als ich in dem Krankenwagen lag, und wir uns entfernten, schaute ich ihm aus dem Fenster nach und dachte: Es sind wirklich viele Jahre vergangen, und ich habe es nicht bemerkt.


So etwas Gewaltsames wie ein Unfall, der dir den Schenkel bricht, wirft dich ganz unvermittelt auf die Seite der Alten und Hinfälligen; derer, die behutsam ihre Schritte setzen und dabei angstvoll auf den Boden schauen; derer, die am Stock gehen und an der Mauer entlang, um sich notfalls abstützen zu können. Und ich dachte: Jetzt hat dich das Alter eingeholt, grausam und unerwartet. Ich war eben sechzig geworden und sah Monaten im Krankenhaus, Monaten der Rehabilitation, der Massagen und des Schwimmbads entgegen. Durch einen Zufall habe ich später erfahren, dass dieser blutjunge Matrose mit seinem Bürstenschnitt nach Afghanistan geschickt worden war und dort mit einer Tretmine hochgegangen ist. Während ich zwar noch ein bisschen humpelte, aber doch so weit hergestellt war, dass ich wieder schreiben und reisen konnte.

Das Geheimnis der Zeit ließ mir keine Ruhe. Warum ist sie gegen die einen so grausam und verschont die anderen? Das Leben ist so kurz. Warum führen die Menschen so erbittert Kriege gegeneinander? „Verspäteten Kindermord“ hat irgendjemand das genannt. Ich würde von verspäteten Morden sprechen, vielleicht auch von vorzeitigen. Was für eine Sinnlosigkeit!

Ich erinnere mich, wie ich, siebzigjährig, eine junge Frau ansah, die als Kind vergewaltigt worden war und jetzt ihren Körper hasste und ihn mit Heroin und Alkohol misshandelte. Ich wollte mit ihr sprechen und verstehen. Aber sie war so versunken in ihr Selbstbestrafungsprojekt, dass sie keine Lust hatte, mich anzuhören. Ich habe sie in einer meiner Erzählungen untergebracht, in der Hoffnung, auch das verstanden zu haben, was sie mir nicht erzählt hatte.

In der Zwischenzeit bin ich gebeten worden, als Patin für eine Vereinigung aufzutreten, die Fragole Celesti (Himmlische Erdbeeren) heißt und dabei ist, im Piemont ein Heim für drogenabhängige Mädchen zu eröffnen. In dem Schreiben dieser Vereinigung heißt es, dass erfahrungsgemäß die große Mehrheit der Mädchen, die sie aufnimmt und von der Drogensucht heilt, sexuelle Gewalt in der Familie erlitten hat.

Ich erinnere mich, dass ich sehr erstaunt in ein Paar herrlich blauer Augen blickte, die eines mir befreundeten Journalisten, der sagte: „Immer dieses Schlechtmachen des Sexuellen! In unserem moralistischen Eifer halten wir sogar die manchmal überaus zärtliche und schöne Beziehung für strafwürdig, die zwei Menschen verschiedener Altersgruppen miteinander verbinden kann. Ich gestehe es, ich habe eine Minderjährige geliebt, und sie hat mich geliebt. Was ist daran so schlimm?“

Ja, es ist wahr, manchmal beginnt der Missbrauch mit einer Verführung. Das junge Mädchen fühlt sich durch die Aufmerksamkeit eines Erwachsenen geschmeichelt und willigt in die Gewalt ein. „Aber die Gewalt hört dadurch nicht auf, Gewalt zu sein“, versuchte ich meinem Freund, mit seinen himmelblauen Augen zu erklären. Der dem noch unreifen und zerbrechlichen Menschen von einem Erwachsenen aufgezwungene Verkehr hinterlässt vor allem Abscheu gegen sich selbst, bis zum Hass auf den eigenen Körper – dem Mittäter bei einer Zudringlichkeit, die nicht hätte sein dürfen, bei einer Nötigung, die man noch nicht verstehen konnte. Daher die Bestrafung durch Drogen, Alkohol und Promiskuität, die erlebt werden wie ein Fluch, dem man nicht entrinnen kann.


Ich erinnere mich, dass ich letzte Nacht im Traum das Gesicht meines Vaters gesehen habe. Er lächelte mich an, strahlend vor Jugendlichkeit. Er war achtundzwanzig Jahre alt, und ich trug ein zerrissenes Baumwollkleidchen. Wir waren in einem japanischen Konzentrationslager, saßen unter einem Kirschbaum, und er erzählte mir die Geschichte von Pinocchio. Ich brachte es nicht über mich, ihm zu sagen, dass sein Körper, zu Asche verbrannt und in einer kleinen Urne verschlossen, auf einem winzigen Friedhof in den Bergen der Garfagnana bestattet sei. Er war so jung und munter, dass er mir gar nicht mehr wie ein Vater erschien, sondern wie ein Sohn. So schließt sich der Kreis. Und das Geheimnis vom Vergehen der Zeit wird immer dunkler und verwirrender. Die Zeit, die die Uhr misst, verstreicht und hinterlässt Narben. Doch die Zeit, die die Erinnerung festhält, erneuert sich fortwährend. Das ist für den, der alt wird, eine Quelle großer Kraft.


© Text: Dacia Maraini, 13. Internationales Literaturfestival Berlin (ilb 2013); aus dem Italienischen von Axel Landfried


Dacia Maraini, *1936 bei Florenz, stammt mütterlicherseits aus einer verarmten sizilianischen Adelsfamilie stammte, väterlicherseits aus einer Familie von Künstlern und Wissenschaftlern. Ethnologische Studien des Vaters bringen die Familie 1938 nach Japan. Wegen ihrer liberalen antifaschistischen Haltung sowie der Weigerung, die japanischen Militärgesetze zu akzeptieren, werden die Marainis drei Jahre lang in verschiedenen Konzentrationslagern interniert und können erst 1946 nach Italien zurückkehren. Sie leben zunächst auf Sizilien, nach der Trennung der Eltern bleibt sie zunächst bei der Mutter in Palermo, zieht später jedoch zu ihrem Vater nach Rom. Seit ihrer Pubertät schreibt sie Kurzgeschichten, die auch in Zeitungen veröffentlicht werden. 1956 gründet sie die Zeitschrift „Tempo della letteratura“ mit, 1959 heiratet sie, erleidet eine Totgeburt, lässt sich scheiden und tritt der Grupo `63 bei. In der zwanzigjährigen Partnerschaft mit dem Schriftsteller Alberto Moravia wird sie von der Kritik häufig nur als dessen Freundin abgetan, kann sich aber in den folgenden Jahren mit ihren Kurzgeschichten, Essays, Komödien und ihrer Lyrik durchsetzen. International bekannt wird sie in den 1970er Jahre durch ihr Engagement für die Frauenbewegung (Rivolta femminile und Movimento femminile romano), das sich auch in ihren weiteren literarischen Werken niederschlägt. Sie behandelt Themen wie Vergewaltigung, Inzest, Prostitution oder lesbische Liebe und setzt sich nach wie vor politisch für Frauenrechte und Gleichberechtigung ein. Seit 2006 ist sie Herausgeberin der Literaturzeitschrift Nuovi Argomenti.

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