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Daniil Granin: Mein Leutnant. Roman.
Vorwort von Helmut Schmidt.
Aus dem Russischen von Jekatherina Lebedewa.

288 S., geb., Aufbau Verlag, Berlin 2015.
19,95 €, ISBN-13: 9783351035914

 


 

 

 

 

 

 

 


Wahnsinn des Krieges
Rezension von
Volker Strebel


  

Ein Schritt vorwärts, zwei zurück
Der 96-jährige Daniil Granin kann auf ein schaffensreiches Schriftstellerleben zurückblicken. In seiner Heimat hat der 1919 in Wolyn geborene Schriftsteller eine stattliche Anzahl von Romanen vorgelegt, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Nicht wenige seiner Bücher haben den Zweiten Weltkrieg zum Thema, an welchem Granin als junger Mann teilgenommen hatte. Auf umso lebhaftere Aufmerksamkeit war sein autobiographisch ausgerichteter Kriegsroman Mein Leutnant gestoßen, der bereits 2011 in Russland erschien.

 

Granin hatte sich seinerzeit freiwillig gemeldet, um sein Land gegen die fremden Eindringlinge verteidigen zu helfen: „Irgendwann ging mir plötzlich auf, dass die Deutschen keinen Erfolg haben würden, weil sie einen ungerechten Krieg angezettelt hatten.“ Daniil Granin erzählt von blutjungen Freiwilligen der sogenannten „Volkswehr“, die ohne militärische Ausbildung, ja nicht einmal mit ausreichender Bewaffnung an die Front geschickt worden waren. Ihre erste Begegnung fand jedoch nicht etwa mit dem erwarteten Feind, sondern mit Soldaten der Roten Armee statt, die sich Hals über Kopf auf dem Rückzug befunden hatten. Wie passte das mit der allerorts propagierten Losung „Keinen Schritt zurück!“ zusammen?

 

 

       

Belagerung Lenigrads: Wasser holen am Newskij prospekt, RIAN

 

Lieferung von Lebensmitteln über den Ladoga-See - RIAN

 

Tote auf dem Volkovi-Friedhof

 

 

Niederlage bedeutet Gestank.
Granin entfaltet die ganze Meisterschaft seines schriftstellerischen Talents und verdichtet den Wahnsinn des Krieges, der auch für die Soldaten Dreck, Kälte, Skorbut und Unterernährung bedeutet. Der Ich-Erzähler erlebt Momente voller Angst und Panik, schlägt sich mit Gefährten durch das Tohuwabohu einer von allgemeiner Auflösung gezeichneten Front. Absurde Situationen kennzeichnen den Alltag des Krieges, hinzu kommt die Allgegenwärtigkeit des Todes: „Der Rückzug wurde begleitet von Bränden, aufgedunsenen Pferde- und Soldatenleichen. Kurz gesagt – von üblem Geruch. Niederlage bedeutet Gestank. Kleidung, Haare – alles war durchdrungen von ätzendem Rauch und dem Gestank von verwesendem Menschen- und Pferdefleisch.“
Irgendwann spielt das Kriegsschicksal ausgerechnet diesem Ich-Erzähler die Rolle eines Kommandierenden zu und aus dem zitternden, unbedarften Jüngling wird „Leutnant D.“. Die Perspektive wechselt fortan zwischen dem Ich-Erzähler und „seinem Leutnant“. Unablässig wird das Leben von mehreren Seiten gleichzeitig bedroht und die frischvermählte Braut Rimma aus dem fernen Tscheljabinsk scheint in ihren Briefen an den Frontkämpfer aus einer fremden Welt zu berichten.
Nicht ausgespart werden im Roman die Vorgänge der politischen Säuberungen in der Sowjetunion wie auch die tragischen Fehler einer mörderischen Kriegsführung, die unzähligen Soldaten auf der eigenen Seite das Leben kostete. Den aus Karelien stammenden Funker Medwedjew plagen schon seit längerer Zeit Zweifel: „Unser Volk ist ein Lakai, es hat Angst, es zeigt sich selbst an, und wenn man es den Leuten befiehlt – legen sie sich freiwillig die Schlinge um den Hals“.

 

       

Sowjetische Frontsoldaten..

 

...auf Skieren vor der Ermitage

 

Orden für die Befreiung Leningrads

 

 

Kriegspathos
Die in Russland allgegenwärtig inszenierte Performance einer ruhmreichen Armee erhält mit diesem Roman einen empfindlichen Dämpfer. Die ewige Dichotomie zwischen den Horden bestialischer Hitlerfaschisten und den siegreichen, ewig vorwärtsstürmenden Helden ist brüchig geworden. Eine bis in die heutige Zeit betriebene propagandistische Überhöhung des historischen Sieges wird als hohles Pathos bloßgestellt, welche den Frontkämpfer und Veteran Leutnant D. abwechselnd in Scham und Wut versetzt. Die öffentlichen Lügen wie auch das Verschweigen der eigenen Opfer empfindet er als einen posthumen Schlag gegenüber seinen gefallenen Kameraden. Neben aller geschichtlichen Dramatik werden neben der menschlichen Weisheit dieses Romans die geschichtlichen Hintergründe nicht zufällig vom Autor des Vorworts, dem Altkanzler Helmut Schmidt, herausgehoben. Der frühere Bundeskanzler der Bundesrepublik, im gleichen Jahr wie Daniil Granin geboren, hatte einst als junger Wehrmachtssoldat vor den Toren Leningrads auf der anderen Seite der Frontlinie gestanden: „Die Deutschen marschierten nicht ein, obgleich ihnen die Stadt offen stand. Der Hungertod der Einwohner war geplant, die Bevölkerung Leningrads fiel einer Hungerstrategie Hitlers zum Opfer.“

 Tagebuch von Tanya Savicheva: "Alle sind tot. Nur Tanya lebt."


Weiße Nächte
Einen breiten Raum nimmt im Roman das illusionslose Leben nach dem Sieg ein. In ergreifender Weise werden die Schwierigkeiten aufgezeigt, im Alltag wieder heimisch zu werden. Das Naturschauspiel der sogenannten Weißen Nächte stößt den Erzähler eines Tages geradezu vor den Kopf: es gibt hier keine Schatten! Er begreift, dass seine Erinnerungen an die schrecklichen Geschehnisse, wie auch deren schamlose Instrumentalisierung durch die Herrschenden beginnt, seine Ehe mit Rimma zu zerstören. Angesichts seiner zunehmenden emotionalen Verwahrlosung gesteht sich der Ich-Erzähler irgendwann ein, dass es höchste Zeit wird, sich von seinem Leutnant zu verabschieden.

 

Mit freundlicher Genehmigung des Autors, Erstveröffentlichung: http://goo.gl/Bebvyy

 

 

Volker Strebel, *1962 in Waldsassen/Oberpfalz. Studium der evangelischen Religionspädagogik, sowie Germanistik, slawische Philologie und Deutsch als Fremdsprache. Zahlreiche Veröffentlichungen vor allem über russische und tschechische Literatur. Zuletzt: Im Vertrautsein zuhause - Reiner Kunze und die tschechische Literatur, in: Matthias Buth / Günter Kunert (Hg.) Dichter dulden keine Diktatoren neben sich, Weilerswirst 2013 sowie Verzeichnis von Übersetzern aus dem Tschechischen ins Deutsche zwischen 1900 und 1945, in: Jozo Dzambo (Hg.) Praha - Prag 1900 - 1945. Literaturstadt zweier Sprachen, vieler Mittler, Passau 2010.

s. hier auch: Toman Brod; Bürgergesellschaft; Arbeitslager Workuta; Emil Hakl; Ahoj und gute Reise


 

 

Daniil Granin,
*1919 Wolyn, Kindheit in Petrograd, heute wieder St. Petersburg, Studium der Elektrotechnik, wird Ingenieur, arbeitet ab 1940 in einem Elektrolabor, später bei den Kirow-Werken. Ab 1941 zunächst als Freiwilliger, dann all Panzeroffizier im Zweiten Weltkrieg. 1942: Eintritt in die KPdSU, von 1954 bis 1969 Sekretär der Leningrader Abteilung des Schriftstellerverbandes der UdSSR.
1989 wird er Präsident des neugegründeten russischen PEN-Klubs.
1949 erscheint seine erste Erzählung, der erste Roman 1954. Er beschäftigt sich immer wieder mit der Arbeit von Wissenschaftlern und deren ethischer Verantwortung, schreibt über den Sowjet-Alltag, die Bürokratie, den 2.Weltkrieg mit seinen Folgen und Reiseliteratur. Er arbeitet auch für Zeitschriften, z.B. ab 1967 für Newa und ab 1987 für Nowyj mir. Sein biographischer Roman Зубр / Der Genetiker, der das Leben des russischen Genetikers Nikolai Timofejew-Ressowski in Berlin schildert, konnte erst zuzeiten der Perestroika publiziert werden.

 


Werk-Auswahl - in  deutscher Übersetzung

Блокадная книга – mit Ales Adamowitsch: Chronik der Belagerung Leningrads, 1977-1982; dt. Das Blockadebuch, 1985-1987

Картина – Roman 1980; dt. Das Gemälde, 1981

Ещё заметен след (Novelle 1984; dt. Die Spur ist sichtbar noch, 1986)

Зубр – Roman 1987; dt. Sie nannten ihn Ur - Roman eines Lebens, auch Der Genetiker; über Nikolai Timofejew-Ressowski

Наш дорогой Роман Авдеевич – Novelle 1990; dt. Unser werter Roman Awdejewitsch, 1991

Бегство в Россию – Roman 1994; dt. Flucht nach Rußland, 1995

Страх – Essays/Erinnerungen 1997; dt. Das Jahrhundert der Angst, 1999

Вечера с Петром Великим - Roman 2000; dt. Peter der Große, 2001


 

s. hier: Leningrad-BlockadeDer Tod kam leise, mucksmäuschenstill – Rede von Daniil Granin, ehemaliger sowjetischer Soldat und Überlebender der Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht, vor dem Deutschen Bundestag anlässlich der Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, 27.01.2014


Interview mit Daniil Granin über das Buch: http://www.mdr.de/artour/video269872.html vom 07.05.2015, artour, MDR


 

19V15

 



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