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Vor der Entscheidung

von Katja Schickel


Ob ein Referendum zur Beruhigung der angespannten Situation in der Ost-Ukraine führt oder zu weiterer Eskalation weiß niemand. Nach rechtsstaatlichen Maßgaben verläuft es jedenfalls nicht: Die müssten nämlich gewährleisten, dass es frei, geheim und ohne Wähler-Bedrohung durchgeführt werden kann. Es müsste eindeutige Wählerlisten, Stimmzettel und korrekte Wahllokale geben und Mechanismen bzw. Personen, die möglichen Wahlbetrug verhindern helfen. Bisher fehlen jedoch unabhängige Wahlbeobachter. Machen wir uns nichts vor: Es gibt unterschiedliche Interessengruppen, die auch nicht vor Gewalt zurückschrecken. Von Frieden und Sicherheit in der Region kann keine Rede sein. Wer kann zurzeit gewährleisten, dass die Abstimmungen vor Ort nicht manipuliert, erzwungen oder verhindert werden? Die Separatisten haben sich selbst zu Volksvertretern erklärt, durch Wahlen – oder irgendein anderes Votum – legitimiert sind sie nicht. Man verteilt sog. Wahlzettel und Flugblätter, die natürlich nicht fälschungssicher sind. Einige hundert Bewaffnete wollen über Millionen Bewohner der Region bestimmen, die uneins sind: Die meisten wollen wohl föderale Strukturen, (die einen mehr, die anderen weniger) Autonomie innerhalb eines Staates, und nicht – wie die bewaffneten Separatisten – die Unabhängigkeit einer selbst ausgerufenen „Republik“ (für die es sogar schon den Namen Noworossija / Neurussland gibt), oder wie andere, die sich sowieso längst oder immer schon als Teil Russlands bzw. der alten Sowjetunion sehen oder danach sehnen.

© Ostukrainische Aktivisten mit russischen Waffen, AP


Oft genug, vor allem auf dem jetzt viel geschmähten Majdan, ist das Fehlen rechtsstaatlicher Institutionen bemängelt worden. Die lokalen Oligarchen aus dem Janukowitsch-Klüngel, gegen die sich übrigens auch der Widerstand vieler Menschen in der Ost-Ukraine richtet, haben Polizei, Behörden und Justizorgane systematisch für die eigenen Interessen benutzt bzw. missbraucht, d.h. wenn nötig bestochen. Dieses Netzwerk verbindet – manchmal in Personal-Union – Wirtschaftsbosse, Politiker, hohe Beamte und die Mafia miteinander. Ganz neu ist das System nicht: In der Industrie haben es hochrangige sowjetische Parteikader eingeführt und bis nach Unten perfektioniert. Auch das Bildungs- und Gesundheitswesen sind so kontaminiert worden. Diese Korruption führte über die unkontrollierten Jahre hindurch zu einer Verwaltung, die nur den herrschenden Familien und ihren Günstlingen nutzte und in die bis heute lokale Beamte und die Polizei verstrickt sind. Alle Beteiligten haben Angst, ihr Gesicht, aber vor allem ihre Pfründe zu verlieren. Man sollte dies bedenken, wenn berichtet wird, dass wieder eine Milizeinheit „übergelaufen“ sei, ein Richter eben mal freispricht oder verurteilt. Jahrelang wurde der Rechtsstaat ausgehöhlt, in Kiew wurde bei den Protesten Ende 2013/Anfang 2014 erneut und lautstark eine Antikorruptionspolitik gefordert, die die Rechtsstaatlichkeit wieder- bzw. sogar erstmals herstellen hilft, ein Vorhaben, das sicher nicht im Sinne der korrupten Beamten, Geschäftsleute sowie der Clans sein kann. Das sind die eigentlichen, selbsternannten kleinen und großen Herrscher, die das Land ganz eigennützig an den Rand des Ruins gebracht haben und demokratische Strukturen für ihre Geschäfte des Hand-Aufhaltens nicht brauchen können.


Putin ist bisher der Gewinner. Ob er sich am 9. Mai gutgelaunt bei einer Militärparade auf der Krim zeigt und den direkten Nachfolger der Kämpfer gegen den Hitler-Faschismus (gemeint ist immer noch der National-Sozialismus!) gibt, weil die West-Ukraine eben voller „Faschisten“ sei, die man bekämpfen müsse, hat er vorher doch zu einer Verschiebung des Referendums geraten, wovon die „antifaschistischen“ Kämpfer aber nichts wissen wollen. So hochgeschaukelt und begriffsverwirrt dreht sich die Gewaltspirale einfach weiter. In einigen Kreisen (die ganz neuen Meinungs-Macher) im sog. Westen stört es heutzutage keinen mehr, dass Putin lange beim KGB war und dort Taktiken der Desorientierung, der Verunsicherung, der Einschüchterung wie der Aufmunterung gelernt hat (das Handwerk jeglichen Geheimdienstes eben). Sein Politik- und Kommunikationsstil verrät, dass er sie nicht vergessen hat und jederzeit zur Anwendung bringen kann. Er beherrscht das Freund-Feind-Schema und wie man Freunde wie Gegner in Schach hält, in dem man sie gegebenenfalls auch untereinander gegeneinander ausspielt. Simulation ist ein wichtiger Bestandteil von Machtpolitik. Seine Worte an die Separatisten wurden von einigen allzu gerne und voreilig als Aufforderung zur Mäßigung gedeutet. Er beherrscht Beschwörung wie Beschwichtigung, zuletzt auf der Krim. Man werde sich nicht einmischen, man wolle das Referendum dort abwarten, hieß es kurz zuvor, als habe man es nicht initiiert. In einer Talkshow verkündete er später dann stolz (weil er nicht nur mächtig, sondern auch mächtig eitel ist), natürlich seien russische Soldaten auf der Krim gewesen, um den „Prozess“ zu beschleunigen, voranzutreiben, zu kontrollieren und zu einem guten Ende zu bringen. Putin spaltet – in jeder Hinsicht. Gut und Böse sind keine brauchbaren Raster. Sicher ist nur, wer ihn unterschätzt, hat schon verloren. Er will die Kontrolle wiedergewinnen und behalten.

 

Er wahrt sein Gesicht in der Weltöffentlichkeit als Friedensstifter, als Antifa-Kämpfer und dreht inoffiziell längst an der Schraube gewaltsamer Einmischung, die man am Effektivsten durch die sukzessive Zermürbung der Bevölkerung erreicht (auch die wird, selbst wenn sie sich nicht einmal aktiv am Protest, geschweige denn an der Gewalt beteiligt, in dieses verhängnisvolle Bist-du-nicht-für-mich-bist-du-gegen-mich-Spiel hineingezogen und kann sich nicht adäquat dagegen schützen bzw. wehren). Naiv ist, wer glaubt, dass es sich bei den bewaffneten Separatisten nicht um durchaus extremistische Nationalisten handelt. Nationalisten aller Provenienz ist gemeinsam, dass sie immer nur im Wohl des Landes handeln und Vaterlandsverräter stets die Anderen sind. In der Regel vertreten sie aber nur Partialinteressen und wollen ihre Privilegien aufrechtherhalten.

 

       

Prorussische Kämpfer...

 

in Kramatorsk und Donezk..

 

Lynchjustiz; Fotos: AP

 

Aus dem scheinbaren Nichts tauchen sie plötzlich auf: wohlorganisierte, bewaffnete Einheiten, auf dem Majdan (wo längst nicht nur der sog. Rechte Sektor für die gewaltsame Eskalation verantwortlich war), auf der Krim, in Slawjansk, Odessa, Mariupol. Zu dieser Art Macht-Demonstration, die Putin natürlich nicht erfunden hat, gehört es auch, dass man sich offiziell distanziert, Entspannung signalisiert, aber weiter an der Eskalation arbeitet: Offensichtlich setzt man auf die Propaganda-Maschinerie der russischen Sender (wenn man sich das einmal zu Gemüte geführt hat, möchte man auf immer TV-Abstinenzler werden) und nicht-öffentlich auf den Auf- und Ausbau der Vermittlungswege zwischen diesen Agents provocateurs, russischen Regierungsorganen und den lokalen Aktivisten. Wie von einigen kritischen Stimmen vorausgesagt, kam es um den 9. Mai herum, dem Tag des Sieges über Nazideutschland*, zu den bisher schwersten Ausschreitungen mit vielen Toten. Alle Provokationen bis hin zu den letzten gewalttätigen Übergriffen haben die Region nur weiter destabilisiert.

Das Kalkül geht auf. Nach dem historischen Teile-und-Herrsche-Prinzip wartet man, wenn man sich offiziell die Hände nicht selbst schmutzig machen will, bis die heimlichen Interventionen ihre Wirkung zeigen und nach Hilfe gerufen wird (von wem auch immer!), die dann durchaus auch von außen kommen darf. Wie praktisch, dass Russland sich einerseits gar nicht als Außen bezeichnet (überall wo Russen leben, ist schließlich Russland, wie wir erst neulich erstaunt gelernt haben**), andererseits sich, ganz mächtiger Nachbar, der er historisch nun einmal ist, gerne als alte und neue Ordnungsmacht auf dem europäischen Kontinent und in der Welt als Antipode der USA zur Verfügung stellen will.



Der ukrainischen Bevölkerung wird nur eine genaue Beobachtung der jetzigen Menschenrechtssituation helfen, eine Überprüfung des jetzt anstehenden Referendums und seinen möglichen Auswirkungen für die Ost-Ukraine, aber auch für das gesamte Land. Dringlich ist auch ein Monitoring des anberaumten Wahltermins am 25. Mai, den die meisten Menschen in der West-Ukraine immer noch befürworten, Russland aber ablehnt. Tatsächlich ist zu fragen, ob in einer dermaßen aufgeheizten Stimmung Wahlen das angebrachte Instrumentarium einer Befriedung sind oder zunächst doch andere Instrumentarien gefunden werden sollten. Kritische BeobachterInnen sind vonnöten, die hinterfragen, ob es eine Änderung in der Haltung der russischen Regierung und der bewaffneten Gruppen gibt und wie eigentlich die Politik der Übergangsregierung aussieht.

Die EU hält sich offiziell mit Verlautbarungen zurück (die deutsche Industrie konnte man lesen, mache – wegen der schwachen Währung - klammheimlich gerade die besten Geschäfte), obwohl sie nicht unmaßgeblich an dem Gezerre um die Ukraine beteiligt war. Bevor das Land vollständig auseinandergerissen wird, muss sie zunächst ihre eigenen Fehler eingestehen und nicht weitermachen wollen wie bisher - business as usual. Einige bewährte Institutionen könnten Unterstützung für die notwendigen Reformen anbieten. Sie sollten helfen, dass sich alle Interessengruppen (ohne Einschränkung, aber auch ohne Gewalt) zu Verhandlungen treffen können.



* Es sind vermutlich dieselben neuen deutschen Meinungs-Macher, die russische Militäraufmärsche am Tag des Sieges über Nazi-Deutschland ganz prima finden, den 8. Mai jedoch als Tag der Befreiung Deutschlands mit keinem einzigen Wort erwähnen, ihn vermutlich nicht einmal mehr so nennen wollen würden. Schwierige Syntax und Semantik. Geschichtsklitterung ist Klitterung ist Klitterung ist Klitterung...


** Es sind vermutlich dieselben Foristen, die sich zu Hunderten über eine Rede Erdoğans vor Türken in Deutschland ereifert haben, die die Aussage Putins aber vollkommen in Ordnung finden. Das eine war eine Rede, das andere die Drohung einer Einmischung.


10V14

 



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