"Wir leben in einer Ära, in der der kranke Nationalismus wieder in den Vordergrund drängt"
Der mit mehreren Filmpreisen ausgezeichnete slowakische Regisseur Peter Bebjak drehte 2020 eine wahre Geschichte über die zwei aus Auschwitz geflohenen Juden, die 1944 den Alliierten einen Bericht über die Massenermordung der Juden in Auschwitz übergaben. Die Flucht aus Auschwitz gelang ihnen am 10. April 1944 nach akribischer Planung und mit Hilfe ihrer unbeugsamen Mithäftlinge in Auschwitz. Die Slowakische Film-und Fernsehakademie nominierte Bebjaks Film „Der Auschwitz-Report“ (Správa) für den Oscar 2021 als besten ausländischen und auch für den Europäischen Filmpreis, der Anfang Dezember im Berlin verliehen wird. Der Film wurde auch von der Mitteldeutschen Filmförderung gefördert und von der Weimarer ostlicht filmproduktion GmbH koproduziert.
Es geht um das größte Filmprojekt, an dem der slowakische Regisseur Peter Bebjak bisher gearbeitet hat. Bebjak hält es für wichtig, dass noch mehr Filme mit dieser Problematik gedreht werden. Laut seinen Worten leben wir nämlich wieder in einer Ära, in der der kranke, extreme Nationalismus wieder in den Vordergrund drängt. „Diese Filme sind ein Mahnruf, damit wir nicht wieder versagen“, sagt Bebjak zu seinem Film. Daniela Capcarová übersetzte sein Interview aus dem slowakischen Magazin TV OKO.
Alfred Wetzler und Rudolf Vrba waren die Juden, denen es gelang, aus dem Lager des Todes – Auschwitz zu fliehen. Den Bericht, den diese beiden Häftlinge den Alliierten übergaben, hält man für eines der wichtigsten Dokumente des 20. Jahrhunderts über die Grausamkeiten der Nazis. Warum wurde über eine solche grundsätzliche Tatsache bisher kein Film gedreht?
PB: Es gab mehrere Menschen, die aus Ausschwitz flohen – sie taten es meistens, um ihr Leben zu retten. Doch Wetzler und Vrba hatten eine Berufung. Diese Berufung beruhte auf der Aufgabe, die Informationen über die Existenz und den Betrieb der Fabrik des Todes zu übermitteln. Deren Dokument – der Bericht von Wetzler und Vrba – ist darin einzigartig, weil er direkt und exakt die Nummern der Transporte, die Anzahl der Menschen, die ganze Maschinerie des KZ-Betriebs und die Art und Weise der Ermordung der dortigen Insassen beschreibt. Gerade diese Exaktheit war an dem Bericht das Wichtigste. Ich wundere mich, warum der Film über das Heldentum von Wetzler und Vrba nicht im Westen gedreht wurde, denn jemand hat schon vor Langem die Rechte auf Vrbas Buch in Amerika gekauft. Sogar Steven Spielberg sprach gerade bei der Vorbereitung des Films Schindlers Liste mit Rudolf Vrba, und von ihm erwarb Spielberg einiges Hör-und Videomaterial.
Während des Kommunismus war es in der Tschechoslowakei klar, dass das damalige Regime eine seltsame Beziehung zur Jüdischen Gemeinde hatte.
PB: Unsere ganze damalige Kinematografie hatte nach der Samtenen Revolution und nach dem Entstehen der jetzigen Slowakischen Republik 1993 große Probleme in die Gänge zu kommen. Der Wandlungsprozess war sehr lang und es gab Jahre, in denen nichts, kein slowakischer Film gedreht wurde. Erst nach der Entstehung des Audiovisuellen Fonds startete man das ganze System der Finanzierung der Filmproduktionen. Der Film „Der Auschwitz-Report“ war ein so anstrengendes Projekt, dass wir als Gesellschaft zuerst eine finanzielle Basis brauchten. Wir suchten und fanden schließlich auch andere Finanzierungsquellen und Koproduzenten. Diese Geschichte verdient es einfach, verfilmt zu werden.
Es entstanden aber schon mehrere Filme über Konzentrationslager. Womit besticht gerade Ihr Film, was ist das Besondere an ihm? Was haben Sie gemacht, damit er gerade nicht einer von vielen ist?
PB: Ich sehe es in einer anderen Optik. Meiner Meinung nach müssen noch mehrere Filme entstehen, die uns daran erinnern, dass wir als die Menschheit und Gesellschaft absolut versagt haben. Wir haben zugelassen, dass Menschen an die Macht kamen, die die menschlichen Grundrechte ignorierten. Auch heute gibt es Länder, in denen ihre Bürger verfolgt werden, sei es wegen ihres Glaubens, ihrer sexueller Orientierung oder ihrer Meinungsäußerung. Wir leben in einer Ära, in der langsam, mehr oder weniger still und leise, der kranke und extreme Nationalismus in den Vordergrund rückt. Es ist deshalb sehr wichtig, sich an die Fehler zu erinnern, die die Menschheit machte, Hitler und die Nazis an die Macht kommen zu lassen. Deshalb meine ich, es ist sehr wichtig, dass noch mehrere solcher Filme entstehen. Sie sind ein Mahnruf, damit wir nicht noch einmal versagen.
Woran liegt es, dass wir den Extremismus und den Faschismus auch 75 Jahre nach dem Kriegsende nicht besiegt haben?
PB: Das kann ich mir absolut nicht erklären. Wir leben im 21. Jahrhundert, und es gibt immer noch Menschen unter uns, die Dummheiten glauben, so was Ähnliches wie die Erde ist eine Scheibe.
Ein weiterer Aspekt ist, dass es uns lange gut ging. Wir lebten sehr lange ohne Krieg, und die Menschen haben vergessen, was der Nazismus angerichtet hat. Bis heute verstehe ich nicht, wie es Menschen geben kann, die ihn bewundern. Am meisten erschreckt mich, dass diese extremen Gedanken aus dem Mund von Politikern kommen. Die bezeichnen sich nicht als nazistische Partei, sie übernehmen aber die Gedanken einer solchen Partei, und das ist das Gefährliche. Auf diese Art und Weise legalisieren wir dann Nazigedanken.
Heute sind wir überzeugt, dass etwas so Schreckliches wie das, was Menschen im 2. Weltkrieg erlebten, nicht wiederholbar sei. Ist das die falsche Überzeugung?
PB: Vielleicht kommt es zum Dritten Weltkrieg, aber die Beschränkung von Rechten und der Freiheit ist der erste Schritt dazu, wieder in einer Diktatur zu landen. Und das wäre dann der kleine Schritt zur Tragödie.
Die Slowakei hat Ihren Film „Der Ausschwitz-Report“ in das Rennen um die Nominierung für den besten ausländischen Oscar-Film geschickt. Er wird in den Vereinigten Staaten gezeigt. Etwas Ähnliches gab es in der slowakischen Kinematografie noch nicht.
PB: Es passiert sehr selten, dass ein slowakischer Film eine große amerikanische Distributionsgesellschaft gefesselt hat. Dass es passiert ist, ist ein großes Verdienst der Distributionsgesellschaft Beta Cinema, die uns im Ausland vertritt und den Film in die ganze Welt verkauft. Der Film wird auch in Großbritannien, Frankreich, in Australien, Japan, Neuseeland und in anderen Ländern gezeigt.
Was überzeugte das Ausland, einen slowakischen Film zu zeigen?
PB: Hauptsächlich das Thema. In der westlichen Welt war das Schicksal der Ausschwitzhäftlinge eher als Vrbas Geschichte bekannt, vor allem durch sein Buch. Wir haben die Rechte für das Buch von Alfred Wetzler (Escape from Hell: The True Story of the Auschwitz Protocol, Anmerkung der Redaktion) bekommen. Nach diesem Buch und auch nach den weiteren zugänglichen Quellen haben wir das Drehbuch kreiert. Vielleicht ist es auch für das Ausland interessant, eine Geschichte, die sie kennen, auf der Leinwand zu sehen. Zumal diese Geschichte noch nie verfilmt wurde.
Sie sagten einmal, dass es in Ihrer Arbeit vor allem um Suchen und Ausprobieren geht. Das ist das, was Ihnen Spaß macht. Was ist das Neue, das Sie in diesem Kriegsfilm über Auschwitz ausprobiert haben?
PB: Es geht um sehr viele Dinge, sei es die Herangehensweise oder die Recherche vor dem Dreh. Im Drehbuch steht, dass es Morgen ist und das Lager erwacht. Als Regisseur muss man aber darstellen, wie dieser Morgen abläuft. Fängt er mit einem Gong an? Mit einer Sirene? Oder mit einem Schlag auf die Gleise? Wer gibt das Essen aus? Auf welche Weise passiert das? In welchem Gefäß bekommt man das Essen? In den Schalen, die die Menschen immer an sich gebunden tragen? Und wenn sie die verlieren, bekommen sie dann ihre Essensration nicht? Wie war der Tagesablauf? Fing er mit dem Marschieren zum Rapport an und dann dem Gang zur Arbeit? Wo waren die Anderen? Was für eine Arbeit hatte ein Schreiber? Alle diese Details mussten wir mühsam recherchieren.
Wie sah die Filmproduktion aus?
PB: Das war das größte Projekt bezüglich des Vorbereitungs- und Arbeitsvolumens, der Anzahl der Komparsen und auch der Logistik, das ich je gemacht habe. Wir mussten Nachbauten der Auschwitzbaracken erstellen, und dann in der Postproduktion die gesamte Größe des Lagers simulieren. Es beinhaltete auch die Arbeit mit einem internationalen Team von Schauspieler:innen. Wir mussten lernen, wie man mit ihnen kommuniziert.
Wie gingen Sie da dran? Mit der Methode von Versuch und Irrtum?
PB: Zum Glück musste ich diesmal nicht so viele Fehler machen, weil ich schon ein paar Filme gedreht hatte, und ich konnte vieles schon im Voraus erspüren. Aber alles kann einen überraschen. Vor allem weiß man nicht, wie anderen Menschen denken. Man stellt erst langsam fest, wie sie reagieren, was sie brauchen, damit sie zuhören und was für sie wichtig ist. Ich hatte Bedenken, weil der schottische Schauspieler John Hannah einen langen, zehnseitigen Monolog hatte, den wir nur in einem Take drehen wollten. Ich wusste nicht, ob er imstande sein würde, das zu akzeptieren. Ich wusste auch nicht, ob John eine spezifische Art zu arbeiten hat. Ich habe ihm meine Vorstellungen erklärt, so war er professionell vorbereitet, und es ging dann leicht.
Wie haben Sie als Regisseur den Hauptdarstellern Noël Czuczor und Peter Ondrejička geholfen, vor den Kameras die maximale psychische und physische Tortur, die Wetzler und Vrba erlebten, darzustellen?
PB: An die Grausamkeiten, die die wirklichen Personen erlebt hatten, können wir uns nicht einmal annähern. Noël und Peter sind intelligente Schauspieler, die Herausforderungen mögen. Für einen Film können sie auch mal ihren Komfort opfern. Beide haben sehr viele Kilos abgenommen, viel gelesen und sich viele Dokumentarfilme angesehen. Sie trafen auch eine Frau, die die Hölle Auschwitz noch als kleines Kind erlebt hatte. Wir besuchten Auschwitz zusammen. Es gibt vieles, das Schauspielern hilft, damit ihr Gehirn diese Informationen verarbeiten und daraus Inspiration ziehen kann. Ich fand es wichtig, im Rahmen unserer Zusammenarbeit mit den Schauspielern zu reden, ihnen meine Vorstellungen zu erklären und gegenseitiges Vertrauen aufzubauen.
2 x Hauptdarsteller Noel Czuczor - Peter Ondrejic
Was alles wirkt darauf, damit sich ein Schauspieler in eine solche anspruchsvolle Rolle hineinversetzen kann?
PB: Viele Dinge. Es reicht schon, wenn der Schauspieler in die Montur eines KZ-Häftlings schlüpft. Wenn er schmutzig gemacht wird, und er in diesem Winter nach draußen kommt und wartet, bis seine Hände völlig durchfrieren und er vor Kälte zittert. Ein solches Erleben bringt die Erfahrung auf der physischen Ebene minimal näher. Das sind die Sachen, die wir die Schauspieler probieren ließen. Sie sollten fühlen, wie groß das Leiden der Menschen war, als diese bei Aufmärschen warteten oder beim täglichen Zählappell. Wenn einer fehlte, ließen die Nazis im Winter die anderen Häftlinge mehrere Stunden, sogar mehrere Tage strafstehen. Sie waren ausgehungert, hatten keine warme Kleidung an, und viele Menschen starben auf diesen Appellplätzen.
Der Mensch taucht in ähnliche Geschichten ein, und dann hört er aus dem Mund der Anhänger der rechtsradikalen slowakischen Partei von Marián Kotleba, wie sie den Holocaust leugnen. Wie haben Sie die De-jure Anerkennung der Schuld von Marián Kotlebe wahrgenommen? Ist das eine Genugtuung für Sie?
PB: Jedes solche Urteil ist eine wichtige Herausforderung für die Gesellschaft. Sie soll einsehen, was sie sich erlauben kann und was nicht. Am glücklichsten wäre ich, wenn es auf eine gewisse Art und Weise gelingen würde, die Verbreiter von Hoaxes, Fake News oder Hassattacken in den sozialen Netzwerken zu bestrafen. Es ist notwendig, sich bewusst zu machen, dass die Freiheit der Meinung nicht darin besteht, jemanden zu beleidigen oder sogar den Tod zu wünschen.
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Gekürztes Interview von Monika Moravčíková, Magazin TV OKO, Slowakei. Der Artikel veröffentlichen wir mit dem Einverständnis der slowakischen Tageszeitung SME und ihres Magazins TV-OKO. Übersetzt von Daniela Capcarová
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Zur Person von Peter Bebjak
Peter Bebjak (geboren 1970 in Partizánske, Slowakei) ist slowakischer Regisseur, Drehbuchautor, Schauspieler, Pädagoge und Filmproduzent. Zuerst schloss er das Schauspielstudium an der Akademie der Künste (Vysoká škola múzických umení) in Bratislava ab. 1999 absolvierte er an derselben Hochschule auch das Regiestudium im Fach Film-und Fernsehregie und übernahm die Co-Regie für mehrere Fernsehserien.
Der Film „Marhuľový ostrov – Die Marilleninsel“ war 2001 sein Regiedebut. Peter Bebjak erhielt für diesen Film den Grand Prix beim Filmfestival im französischen Rouene. Weitere Filme: „Zlo – Das Böse“ (2012), „Čistič - Der Saubermacher“(2015), „Trhlina - Die Rißspur“ (2019). Für seinen Film „Čiara – Die Linie“ (2016) gewann er 2017 den Preis für die Beste Regie beim renommierten Filmfestival im tschechischen Karlsbad.
Neben der Regiearbeit schreibt Bebjak auch Drehbücher, und seit 2001 ist er Produzent der slowakischen DNA Production.
Peter Bebjak wurde als Mitglied der Internationalen Jury des berühmtesten slowakischen Filmfestivals Art Film Fest eingeladen, das dieses Jahr von 23. bis 27. Juni im ostslowakischen Košice stattfindet.