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Emil Angehrn

Der Weg ins Offene


Die Philosophie beginnt in einem Spannungsverhältnis zwischen Verunsicherung und Erkenntniszuversicht, Misstrauen und Vertrauen. Das Vertrauen aber ist dem Misstrauen stets einen Schritt voraus.


Philosophie entsteht in Auseinandersetzung mit existenziellen Erfahrungen. Zu einem wesentlichen Teil sind dies Erfahrungen der Verunsicherung und der Angst. Leitbegriffe und Denkmuster der Philosophie lassen sich als Ausdruck des Bemühens lesen, Sicherheit und Halt zu finden. Allerdings ist eine solche Lesart, die Rückhalt in klassischen Dokumenten der Metaphysik oder der Geschichtsphilosophie finden kann, nicht die einzige Perspektive auf die entstehende Philosophie. Metaphysische Vorstellungen vom Ersten und Letzten sind nicht nur Instanzen der Abwehr des Chaos, sondern auch Ausdruck eines Glaubens an die Geordnetheit und Erkennbarkeit der Welt. Gerade der Anfang des Philosophierens steht, wie jedes Anfangen, in einem Spannungsverhältnis zwischen Misstrauen und Vertrauen.


Existenzbedingungen

Vertrauen und Misstrauen sind im menschlichen Leben gleichermaßen basal. Entwicklungspsychologisch bildet die Spannung zwischen Urvertrauen und Urmisstrauen eine Keimzelle im Werden der Person; strukturell gehört sie zu den Bedingungen des individuellen Selbst wie der sozialen Welt. Unsicherheit und Misstrauen können als fundamentale Bestimmungen sowohl auf Grundbedingungen der Existenz wie auf konkrete Negativerfahrungen zurückgeführt werden: auf die Endlichkeit des Menschen, seine Ohnmacht nach aussen und innere Haltlosigkeit, aber auch auf konkrete Erschütterungen und Krisen – den Zusammenbruch von Glaubenssystemen, säkulare Katastrophen, Erlebnisse von Unrecht und Gewalt.

Auf der Gegenseite bildet das Vertrauen ebenso eine Grundlage menschlichen Seins. Ohne Vertrauen, meint Niklas Luhmann, könnte der Mensch morgens sein Bett nicht verlassen; er würde nichts planen und unternehmen, keine Verträge schließen und nicht die Welt durchreisen. Die so basale wie umfassende Grundhaltung lässt sich nach den Beziehungen differenzieren, in denen der Mensch zu anderen Menschen, zu sich selbst und zur Welt steht. Der originäre, eigenste Bereich des Vertrauens scheint der Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Vertrauen, das ich zu anderen habe und das andere mir entgegenbringen, ist das Urphänomen, in welchem wir erfahren, was Verlässlichkeit und Geborgenheit bedeuten.

Das in Interaktionen des ersten Lebensjahrs erworbene Grundvertrauen gilt als Basis der Fähigkeit zu aller späteren Vertrauensbildung. Vertrauensgemeinschaften, von Freundschaften und Solidaritätsverbänden bis zu rationalen Zweckgebilden der Ökonomie, strukturieren das soziale Leben. In beinahe jeder Hinsicht erweist sich Vertrauen als ein unabdingbarer Faktor, welcher – entgegen dem gängigen Diktum „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ – die nicht nur normativ, sondern funktional grundlegendere und aufs Ganze gesehen mächtigere Komponente sozialer Beziehungen darstellt.


Die Vernünftigkeit der Welt

Neben der interpersonalen Verlässlichkeit gibt es die Sicherheit, die eine Person in sich selbst findet und die mit dem Vertrauen einhergeht, das sie in die eigenen Kräfte, aber auch die eigene Stabilität und Verlässlichkeit hat. Selbstvertrauen befähigt dazu, in der Auseinandersetzung mit anderen, mit Lebensrisiken und den Widrigkeiten der Welt zu bestehen. Und schließlich verlassen wir uns auf die Welt, in der wir leben: auf die natürliche oder soziale Umwelt, deren Regelhaftigkeit Orientierung ermöglicht. Solches Vertrauen kann durch lebensweltliches Bekanntsein, aber auch durch technisches Kalkül oder philosophische Überzeugungen begründet sein; in höchster Gestalt kommt es als Glauben an das Gutsein des Wirklichen, als Sinnvertrauen, zum Tragen.

Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen, verschränkten Vertrauensformen stellt sich die Frage nach dem spezifischen Bezug der Philosophie zum Vertrauen. Inwiefern setzt Philosophie Vertrauen – oder Misstrauen – voraus, in welcher Weise macht sie Vertrauen zum eigensten Gegenstand?

Philosophie stiftet Vertrauen, indem sie die Vernünftigkeit der Welt aufweist. Es ist ein Vertrauen, das sie nach Hegel je schon voraussetzt, doch gleichzeitig begründen muss: Die Vernunft in der Geschichte ist für sie Postulat und Beweisziel zugleich. Generell ist die Tradition der Metaphysik von der Überzeugung getragen, dass die Welt in sich rational verfasst und zugleich unserem Wissen zugänglich sei. Mit dem Anspruch, die Welt nicht nur zu vermessen, sondern sie in ihrem Sinn, ihrer Geordnetheit zu erkennen, verbindet Hegel die Aufgabe der Philosophie, den Menschen mit der Welt zu versöhnen. Allerdings ist solches Vertrauen alles andere als ein unkontroverser Glaubenssatz. Schon die antike Sophistik meldet den skeptischen Zweifel an; in der Neuzeit geraten der Glaube an eine kosmische Ordnung und die religiöse Heilsgewissheit gleichermaßen in die Krise. Zum Teil wird die Suche nach ersten Prinzipien und letzten Ordnungen selbst als Irrweg zurückgewiesen und stattdessen eine Haltung gefordert, die mit der metaphysischen Bodenlosigkeit zurechtkommt.

Nun befasst sich Philosophie nicht nur mit der Ratio der Welt, sondern ebenso mit der Fähigkeit des Subjekts, Wirklichkeit zu durchdringen und auszusprechen. Ebenso grundlegend wie die Intuition einer umfassenden Ordnung ist das – seinerseits strittige – Vertrauen in die Erkenntniskraft der Vernunft und in die Wahrheitsfähigkeit der Sprache. Eine prägnante Vergewisserung ist jene, die sich an Formbestimmungen der Sprache und der Kommunikation orientiert. Dazu gehören kommunikationstheoretische wie hermeneutische Ansätze. Nach Jürgen Habermas sind die normativen Leitideen der Kommunikation – Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit – in die Struktur unseres Sprechens und Handelns eingelassen. Ähnlich sieht Donald Davidson im principle of charity, in der methodischen Unterstellung, dass eine Äußerung rational zustande gekommen und vernünftig nachvollziehbar, im Prinzip also wahr sei, eine strukturelle Voraussetzung von Verständigung.

Die nicht abgesicherte wechselseitige Unterstellung nimmt eine Art Vertrauen in den Wahrheits- und Kommunikationswillen anderer in Anspruch und ist gleichzeitig eine Quelle des Vertrauens. Darin zeigt sich, dass Vertrauen im Miteinander-Reden nie vollständig fehlt oder fehlen kann – wie tief auch immer es vom Misstrauen durchsetzt sein mag. In anderem Kontext artikuliert der hermeneutische Zirkel eine verwandte Überzeugung. Wir können nicht umhin, je schon einen bestimmten Sinn mit Worten und Gesten zu verbinden, wenn wir einen Text verstehen, eine fremde Kultur erkunden und gegebenenfalls unser Verständnis überprüfen und korrigieren wollen.


Platons Dialog Phaidon

In beeindruckender Vielfalt begegnen wir in der philosophischen Selbstverständigung Bekundungen des Vertrauens in die Wahrheitsfähigkeit der Vernunft, eines Vertrauens, an dem der Logos bei aller kritischen Aufgeklärtheit festhält. Doch steht solches Vertrauen seit je in Spannung zu einem ebenso vielfältig bekundeten Zweifel, einer ebenso grundlegenden Erfahrung des Dissenses. Exemplarisch tritt uns dieses Spannungsverhältnis in der Zeit der Entstehung der Philosophie entgegen. Ein klassisches Zeugnis findet sich in Platons Dialog Phaidon. Der Dialog berichtet vom Gespräch, das Sokrates im Gefängnis mit seinen Schülern führt, bevor er den Giftbecher trinkt und damit das Todesurteil, das die Athener über ihn verhängt haben, selbst vollstreckt. Eine herausgehobene Stelle berichtet von einer Unterbrechung im Gespräch, welches der Frage der Unsterblichkeit der Seele gilt und die „große und schöne Hoffnung“ bestärken soll, dass der Mensch nach der Trennung der Seele vom Körper weiterlebt und zu den Göttern gelangen kann. Eindrucksvoll schildert Platon die tiefe Erschütterung und Mutlosigkeit, die sich unter den Gesprächspartnern ausbreitet, nachdem mehrere Argumente zum Erweis der Unsterblichkeit gescheitert sind.

Bemerkenswert ist nun, dass Sokrates in dieser Situation nicht einfach ein neues Argument entwickelt, sondern sich zuvor mit den Voraussetzungen der Wahrheitssuche auseinandersetzt. Deren größte Gefährdung, meint er, liegt in der Skepsis gegenüber der Kraft und Wahrheitsfähigkeit des Redens. Nachdrücklich ermahnt er seine Schüler zum Weiterführen des Dialogs, ungeachtet aller Enttäuschungen und Irrtümer, denen sie in der Wahrheitssuche ausgesetzt sind. Das Vertrauen in den logos, das Wort, und in das dialegesthai, das Sich-mit-anderen-Unterreden, ist die nicht hintergehbare Voraussetzung des Philosophierens, ja des menschlichen Lebens überhaupt. Nicht vom Gespräch abzulassen, Sorge für das Weiterleben des Logos zu tragen, ist die innerste Verbindlichkeit des Strebens nach Wahrheit. Es ist eine genuin hermeneutische Zielvorstellung, wie sie auch Richard Rorty der Philosophie zuweist, wenn er deren letzte Aufgabe darin sieht, das Gespräch der Menschheit nicht abbrechen zu lassen.


Sprache und Mensch

Solches Vertrauen hat einen zweifachen Kern: das Vertrauen in die Macht der Sprache und das Vertrauen in den Menschen. Das Vertrauen in die Sprache bildet einen innersten Kern des Sinnvertrauens, dessen der Mensch zur Orientierung in der Welt und zur Führung seines Lebens bedarf. In der Sprache erfahren wir das unstillbare Bedürfnis, mit uns, mit anderen und mit der Welt eins zu werden – das Versprechen einer Identität, das nie ganz eingelöst wird. Eindringlich beschreibt Derrida die innere Nichtübereinstimmung der Sprache mit sich, aber auch die „immanente Versprechens- und Begehrensstruktur“, die jedem Sprechen innewohnt. Sie liegt dem Vertrauen zugrunde, welches das Sprechen trägt. Vertrauen ermöglicht die Eröffnung eines Gesprächs wie das anfangende Reden und sich einlassende Verstehen, die mit dem Paradox konfrontiert sind, je schon ein Verständnis vorausschicken, ein Verstanden-werden voraussetzen zu müssen. Jedes Anfangen baut auf den Sinn dessen, was es hervorbringt, aber auch der Welt, die sich ihm öffnet und die es betritt.

Das Kind kann nur anfangen zu gehen und zu greifen, zu sprechen und zu hören in einer Haltung des Vertrauens. Auch der Anfang der Philosophie lebt von solchem Ausgriff, er geht ins Offene, verlangt den Mut des ungedeckten Worts und der Begegnung mit dem Unbekannten. Erst recht ist das Gespräch ein Wagnis, das sich auf einen offenen Prozess einlässt, dessen Verlauf keiner in der Hand hat. Sich darauf einzulassen, setzt die Zuversicht voraus, dass uns darin etwas anspricht, etwas entgegenkommt. Die Macht des Worts, die Welt zu beschreiben und Sinn zu stiften, entfaltet sich in der Gemeinsamkeit der Rede, letztlich des Lebens.


Menschenfeinde und „Redefeinde“

Dieser Gedanke findet im Phaidon einen sprechenden Ausdruck. Sokrates' Aufruf, die Mutlosigkeit in der Suche nach Wahrheit durch den Glauben an das Wort zu überwinden, wird durch einen eigentümlichen Vergleich eingeführt. Das Schlimmste, vor dem wir uns zu bewahren haben, meint Sokrates, wäre, aus Enttäuschung über die Ohnmacht unserer Worte zu Redefeinden zu werden – so wie andere in der Desillusionierung im Umgang mit ihren Nächsten zu Menschenfeinden werden. Was als Vergleich formuliert ist, ist mehr als ein Vergleich. Es ist die Einsicht in eine Wesensverwandtschaft und eine Rückführung zu dem, was das Innerste des Vernunftvertrauens ausmacht. Jenseits des Vertrauens in die Vernünftigkeit des Seins und in die Kraft der Erkenntnis geht es um das Vertrauen in den anderen Menschen.

Im Spiel sind dabei weder bloße strukturelle Prämissen der Kommunikation noch Formen des rationalen Sich-auf-andere-Verlassens, wie sie im Vertrag oder ökonomischen Tausch gefordert sind. Es geht um ein nicht funktionsbezogenes Sichöffnen, das den anderen in seiner Menschlichkeit ernst nimmt und für die Humanität im gemeinsamen Leben einsteht.

Bei alledem bleibt das anfangende Denken, indem es auf Vertrauen angewiesen ist, ungesichert. Karl Jaspers hat den Willen zur grenzenlosen Kommunikation, verbunden mit dem Glauben an die Möglichkeit von Verständigung, als Fundament vernünftiger Erkenntnis beschrieben, zugleich als innersten Kern dessen, was er den „philosophischen Glauben“ nennt. – Die tiefe Einsicht des Sokrates lautet, dass nicht der Glaube an die Götter oder die Ordnung des Kosmos, sondern der Wille zum Gespräch und das Vertrauen in die Menschen die Suche nach der Wahrheit letztlich ermöglichen und tragen. Philosophisches Denken bleibt, wie wissenschaftliches Forschen und wie menschliches Leben, ein ungesicherter Weg ins Offene. Nicht eine abschließende Beschreibung zu geben, sondern das Gespräch zu öffnen und weiterzuführen, ist der Anfang der Philosophie.


Emil Angehrn ist emeritierter Professor für Philosophie der Universität Basel, an der er von 1991 bis 2012 lehrte. Vor drei Jahren ist sein Buch Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen (bei Mohr Siebeck, Tübingen 2010) erschienen. – Der Text ist die gekürzte Fassung der Abschiedsvorlesung, die Emil Angehrn am 03.12.2012 im Basler Kollegienhaus gehalten hat.


© Mit Zustimmung des Autors und freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung. Der Text erschien am 22.02.2013 in der NZZ, http://www.nzz.ch



Emil Angehrn, * 1946 in Luzern, ab 1966 Philosophie-Studium in Löwen, von 1969 bis 1975 Studium der Philosophie, Soziologie und Volkswirtschaftslehre in Heidelberg. Promotion 1976 zum Thema Freiheit und System bei Hegel. Habilitation an der FU Berlin über Geschichte und Identität.

Ab 1989 Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, seit 1991 ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Basel. Von 2000 bis 2004 gehörte er dem Forschungsrat des Schweizerischen Nationalfonds an. Von 2004 bis 2007 war er Dekan bzw. Prodekan der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel. (Foto: 555-unibas.ch)


 


 

 



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