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Die Unabhängigkeit der Schwalben


von Radka Denemarková


anlässlich der Ausstellung Hinter dem Körper des Wortes, Galerie Kulturdrogerie Wien,

mit den Texten der Autorin und einer Rauminstallation von Imre Nagy,Wien – Juli 2014



Die Schwalben tragen die Schicksale der Körper in den Augen, die von anderen Körpern angegriffen und von ihnen berührt wurden, in diesem Moment geschützt durch das Etikett kriegerischen Heldentums, Angehörigkeit zur Siegermacht, geschützt durch den Kriegszustand, die niemals vor Gericht vorgeladen wurden, die niemals verurteilt wurden, welche von den Historikern ein für alle Mal zwischen dem Plus- und dem Minuszeichen eingemauert werden. In einem der Kriege waren es die Namen der Angehörigen der Wehrmacht und der Angehörigen der Roten Armee und der Angehörigen der Japanischen Armee, es fehlen auch nicht die Namen der polnischen, der französischen, der tschechischen, der slowakischen, der ungarischen, der österreichischen, der italienischen, der englischen, der amerikanischen, der spanischen, der australischen und und und. Diese Frauen haben keine Gerechtigkeit erfahren. Nicht einmal Entschädigung. Nicht einmal eine Entschuldigung. Nicht einmal Verständnis. Wer würde auch Körper entschädigen, die von Männern aller Länder massenvergewaltigt wurden, vereinigt euch, keinen Schritt zurück. Diese Körper gezeichnet von den Fahrspuren der Panzer einer einzigen riesigen Armee, es war die Weltarmee der Männer, die aufgeheiterte Armee, wie aus einem Guss und sich bis zum Grab fest solidarisierend.


SCHWALBENVENDETTA


„Wir können das nicht aufgeben“, Ingrid schüttelt Diana, „weil solange sie so eine Gewalt belächeln und sie gar nicht erst als Gewalt auffassen werden, solange können wir das nicht aufgeben.“
„Niemand belächelt niemanden.“
Sie wollte Ingrid beruhigen. Sie wollte, dass Ingrid lediglich die Augen öffnet und die Dinge im Lichte des rechten Zustandes sieht. Dadurch, dass sie der unaufmerksam beendeten Tätigkeit aus dem Wege geht, welche das störende Karma in Bewegung setzt. Ingrids Ich ist zurückgetreten, hat sie gereinigt und ist aufgeblüht wie eine gelbe Tulpe. Die Erinnerungen wurden mit Bedeutung umsponnen, welche sich nicht mit Worten ausdrücken lässt. Was in der Vergangenheit passiert ist, also das konnte, aber musste nicht als wichtig erscheinen, aber die Erinnerung ist mit Gewichtigkeit aufgeladen, die Tränen fließen ohne Grund. Die Worte weichen voreinander zurück. Sie konnten nirgendwohin ausweichen. Daran wollte sie nicht mehr teilnehmen. Sie hat sich nicht vom Leben abgekoppelt. Das Leben hatte sich von ihr abgekoppelt. Sie wollte es nicht daran hindern.
Das Tempo war selbstmörderisch. Es war die erste Schwalbe, die es nicht mehr aushielt sich ständig im Flug zu befinden, es war die erste Schwalbe, die fiel, sie schafften es nicht mehr, ihr den Atem wieder einzuhauchen, weil sie keine Kraft mehr hatte, den Kopf anzuheben, die Flügel aufzuspannen. Sie entledigte sich des Körpers, der ihr nur die Vergangenheit aufzwang.
Ingrid, die Augen auf die Handfläche gerichtet; sie hackt mit einem ausgewachsenen Schnabel in die Handfläche. Auf dass sie die Gerechtigkeit in die eigene Hand nehmen, auf dass sie den Damm durchstoßen, die missbrauchte Macht, Geschichte schreiben nur die Sieger, aber wer ist das Opfer, das ist weder der Sieger noch der Besiegte. Diana beruhigt sie, dass sie erst einmal ihr Studium beendet, dass sie erst einmal aufhört, sich wie eine Irre zu verhalten und keinen Unsinn mehr spricht und vergisst. Sie streiten sich, Federn fliegen. Mit den Augen auf Ingrids aufgepickten Handflächen gibt Diana zögerlich nach, dass sie etwas unternehmen.
Was?
Grundlegend ist, dass sie schrittweise die Gesetze ändern.

Ingrid erscheint das lächerlich, Ingrid glaubt nicht an utopische Projekte, Ingrid ist wütend. Wenn Simon Wiesenthal in Wien seine Organisation gründet und auf der ganzen Welt Naziverbrecher fängt, Ingrid setzt sich zu ihm in Bewegung. Herr Wiesenthal empfängt sie zwar höflich bei einer Wiener Melange und einer Sachertorte, sie vergleichen die Nummern auf ihren Unterarmen, er verhört Ingrid und sagt, ja, das ist schrecklich, sicherlich, aber es kam zu schlimmeren Verbrechen, und was wollen sie, bitte sehr, ausgerechnet von mir, so eine prächtige, auffallende, junge Dame sollte sich besser dem Studium und der Zukunft widmen, damit tun sie das Beste für unsere Sache.„Was ich von Ihnen will?“
„Ja, was wollen Sie von mir. Ich habe Ihnen bereits erklärt, dass ich Verbrecher suche.“
„Aber ich doch auch.“
„Das kann man nicht vergleichen. Es war doch Krieg. Und Krieg bringt auf allen Gebieten grenzwertiges Verhalten mit sich. Auch was das Triebverhalten betrifft. Und bitte, passen Sie auf.“
„Auf was?“
„Dass aus Ihnen keinen Suffragette wird. Die hat keiner gern.“
Der elegante Herr weiß nicht, dass Ingrid ein Raubvogel ist.
„Wie hängt das mit alldem zusammen?“
„Das sind verwirrte Frauen.“
„Sind sie nicht. Sie wollen nur, dass die anderen die Weiblichkeit respektieren.“
„Sie sind verwirrt.“
„Sind sie nicht. Und ich auch nicht. Nennen wir es beim rechten Namen. Ich will gleiches Recht für alle. Aber was werf' ich Ihnen vor, Sie sind hier ja auch nur alles Männer. Und die Nazis in den höchsten Positionen waren auch nur alles Männer, na, dass sie da dann auch nur Männer fangen, dass... Das Leben während der Naziherrschaft war das Leben einer maskulinen Gesellschaft, es hat niemanden interessiert, was wir gesagt haben. Während jedes Krieges ist es das Leben der maskulinen Gesellschaft, Männer interessiert es nicht, was Frauen in dieser Zeit sagen. Und jetzt passen Sie mal auf.“
„Auf was?“
„Auf mich.“
Ingrid vergibt ihm. Er befindet sich nicht im Frauenkörper, sagt Diana. Unter der Haut sind ihm Jahrhunderte von Lügen und Vorurteilen gegen Frauen eingeschrieben. Diese Verbrechen hält er für kein Verbrechen. Die Vagina ist eine verkäufliche Nichtigkeit, immer bereit. Gott mag keine stolzen Frauen. Er hat sie mit einem schwachen Körper ausgestattet. Und den Körper hat er zur Bewunderung ausgestellt. Diesen Körper hat man auszuplündern. Dieser Körper ist ein Gegenstand. Ein weggeworfenes Stück Fleisch.
Ingrid entscheidet sich.
Sie gründet widerspenstig ihre Organisation, von der niemand etwas wissen soll. Sie fängt ihre Verbrecher schon selbst. Und sie fängt mit dem Herrn mit der Peitsche an und hört bei Taras auf. Ingrid ist ein Raubvogel und die Mutter hat Fleisch, Diana hat die Kontakte von Max. An Ingrid wenden sich verlässliche Frauen und Männer aus dem Ghetto. Ingrid entscheidet sich hochmütig. Sie stampft mit dem Bein und schlägt mit den Flügeln. Sie wird die Verbrechen bestrafen, die durch alle Länder hindurch dieselben sind. Sie entscheidet sich, das vergewaltigte Jahrhundert wieder geradezubiegen.
Ingrid ist geschädigt.
Diana sieht einen Schwarm; er fliegt am Fenster vorbei.
Durch Europa strömt eine Menge geschädigter Frauen, die schweigen. Sie kleben an Ingrid, die Diana sucht. Max Adler macht Ingrid gerade auf das Simon-Wiesenthal-Zentrum aufmerksam; Wiesenthals Arbeit professionalisiert sich, ist an Nachrichtendienste angeschlossen. Und dieses Nest zapft Ingrid, in einigen passenden Momenten an. Sie zeigt sich an Orten und in der Nähe von Menschen, aus denen sie einige Naziführungskräfte herauspickt. Einen von ihnen hat sie aufgescheucht.
Aber zur Massenpanik kommt es damals, als sie feststellen, dass Ingrid ihre Leute hat, hübsche Frauen. Und die tauchen in der Umgebung sowjetischer Führer und amerikanischer Führungskräfte und englischer Führungskräfte und japanischer Führungskräfte und brasilianischer Führungskräfte auf.
Sie fühlen erst einmal eine diffuse Verschwörung. Ingrid erinnert an einen Querschläger.
Wiesenthal distanziert sich rasant von ihr.
Simon Wiesenthal schaut auf die Wiener Straße und schaut dieses mal auf die Frauen. Danach diktiert er eine Erklärung, mit der er sich ausdrücklich von den Aktivitäten verrückter und hysterischer Frauen distanziert, welche seine Bewegung diskreditieren, mit welcher er versucht Kriegsverbrecher aufzuspüren. Diese Gruppe von Frauen macht diese Bemühung lächerlich, weil sie das Leiden dadurch verkleinert, dass sie auf Randprobleme hinweist.
Paradoxerweise kommt Wiesenthal damals die größte Unterstützung von den allerhöchsten Stellen zu Gute, die beunruhigt sind, weil die Aktivitäten der Frauen die Ordnung und das Schubladendenken, in das die Sieger und Schuldigen geraten, stören und vernebeln. Die Solidarität steigt, so als würden sie sich davor fürchten, selbst verunsichert zu werden. Das Bordell wollen sie nicht wahrhaben. Und diese Realität und diese Benennung würden dem Krieg und den Verbrechen ein anderes Ausmaß geben. Es droht wieder Chaos. Nachrichtendienste einer Reihe von Länder, hauptsächlich von südamerikanischen, schalten sich plötzlich ein. Die Männer fangen an, sich zu schützen. Sie lenken die Aufmerksamkeit von sich ab.
„Kriegsverbrechen sind klar definiert“, sagt sie dem österreichischen Kanzler. „Diese Naziverbrechen müssen wir bestrafen. Das ist ein klares Signal. Verbrechen und Verbrecher sind definiert.
„Ja ja, das ist lächerlich, na dass... irgendeine Frau jemandem beisteht... das ist lächerlich.“
Die USA mischen sich in die Sache ein. Weil die Männer von CIA und FBI ihren geheimen Plan haben, gedankliche Blockaden, Staatsgrenzen, politische Phrasen. Frauen kennen keine Solidarität, sie helfen sich ja nicht mal gegenseitig; sie haben genug mit ihrem Körper zu tun. Männer jagen im Rudel. Im Jahr 1947 erklärt Senator McCarthy die sexuelle Befreiung zu einer Waffe des Kommunismus. Dem Chef des FBI, Edgar Hoover, stellt er in einer geheimem Sitzung seinen Gegenangriff vor. Wenn amerikanischen Agenten zu sowjetischen Frauen vordrängen und sie schrittweise befruchteten, würden sie so den Genpool des Kommunismus schwächen, das Gen der amerikanischen Demokratie würde überwiegen und das sowjetische Expansionsvermögen dahinschmelzen lassen. Ingrid bedroht das Projekt, ohne dass sie davon weiß. Und ihre Frauen unterscheiden keine Nationalitäten, unglaublich.
Sie bedrängen Dianas Mann. Max bedrängt Diana.
„Bemerkst du, was hier eigentlich passiert, um was es dem Mädchen geht. Ich hab die Schnauze voll von ihr.“
„Wo finde ich sie.“
„Sie wollen sie wegsperren. Und sie haben recht. Die spinnt doch.“
„Sie fängt Kriegsverbrecher.“
„Kriegsverbrecher? Das ist eine Verrückte.“
„Ich behandle und heile sie.“
Damals spricht sie das erste Mal offen mit Max über Ingrids Plan. Ingrid ist ein Raubvogel und die Mutter hat Fleisch, Diana hat die Kontakte von Max. Max hilft ihr bis an ihr Lebensende.
Ingrid begeht Selbstmord.
Diana hört nicht auf damit.
Und die Schwalbe nimmt angeekelt die Handschrift, die mit Kinderschrift beschrieben ist, in ihren Schnabel.


INGRID


Ingrid ist fünfzehn. Jemand hat sie mit schwarzer Kohle bemalt. Sie hat schwarze Haare. Schokoladenaugen. Sie wohnt in Warschau und wohnt nicht in Warschau. Sie lebt mit dem Vater in Stadtvierteln, die eine Stadt in der Stadt sind, bewacht. Ingrid macht das nichts aus. In ihre Einzimmerwohnung kommt ein Junge. Er hilft Noten abzuschreiben. Sein Vater und ihr Vater spielen Geige. Er darf noch spielen. Es darf nur nicht Felix Mendelssohn-Bartholdy sein und es darf nicht Frédéric Chopin sein. Der Vater sitzt mit dem Jungen am Tisch. Ingrid kriecht zum Tisch. Auf dem Boden. Sie haben nur einen Stuhl und einen kleinen Tisch. Sie setzt sich auf den Erdboden. Sie kreuzt die Beine zum Schneidersitz. Sie zupft ihren Rock im Schoß gerade. Sie hat die Knie zweier Körper mit abgewetzten Hosen vor sich auf Augenhöhe. Vier Augen glotzen sie an. Der Junge hat Schuhe ohne Socken und Schnürsenkel. Der Vater trägt gestopfte Socken. Aus einer Socke drängt sich der große Zeh heraus. Die Zehen klettern aus den Schuhen, die er nicht hat. Zwischen dem Saum der Hose und den Socken blitzt weiße Haut hervor. Der Vater und der Junge schreiben Noten ab, die Blätter werfen sie unter den Tisch. Ingrid stapelt die Blätter für sie. Manchmal schreibt sie mit ihnen Noten ab. Sie fädeln kleine Tropfen auf Fädchen.
„Wir fädeln Perlen auf.“
Niemand antwortet ihr. Ingrid hat nur den Vater. Als sie elf Jahre alt war und sie in Galizien lebten, entdeckte sie auf ihrem Höschen einen dunklen Fleck, schwarz wie die Pest. Sie dachte bei sich, dass das wohl die Pest sein müsse, über die sie etwas in der Schule gelernt hatte. Sie zog sich um. Die Höschen wusch sie aus. Der dunkle Fleck erschien erneut. Sie brach in Tränen aus. Dem Vater sagte sie, dass sie sterben müsse. Der Vater sagte nichts, wendete die Augen ab. Zur Schule schickte er sie an diesem Tage nicht. Er klopfte an der Tür der Nachbarin. Die Nachbarin wischte sich die Hände an der Schürze ab und lud Ingrid zu sich ein. Sie setzte sie an den Tisch. Sie ging vor dem Herd auf und ab, im Dampfkochtopf kochte sie Mittagessen.
„Das ist die Menstruation. Pillepalle. Die Mama hat es wohl nicht geschafft, dir das zu sagen.“
Ingrid betrachtet sich, der Körper abgeschaltet. Diesen Entfremdungseffekt kennt man noch nicht einmal vom Theater. Der Körper macht, was er will. Die Brüste wachsen heraus, das Gras sprießt auf der Scham und unter den Achseln. Der Schritt blutet. Der Körper lebt sein eigenes Leben. Und über diesen Körper dürfen sich nur Frauen erkundigen. Heimlich, still und leise.

Der Vater und der Junge sitzen am Tisch und schreiben Noten ab. Die Füllfederhalter kratzen auf dem Papier. Vaters Hände zittern. Ingrid kommt nicht pünktlich zurück.
„Lauf los und komm mit ihr zurück.“
Der Junge läuft fröhlich hinaus. Er sieht Menschenmassen, so wie immer. Er ist genauso alt wie Ingrid. Er sieht tote Körper, die an die Wand gelehnt sind, mit Papier bedeckt. Zeitungen in verlassenen Ecken. Eine Stadt in der Stadt. Noch kann man überall passieren, von der Stadt in der Stadt hinaus in die Stadt, noch gibt es fünfzehn Ausgänge. Herausgehen und zurückkehren kann man nur mit Passierschein. Chancen haben die, die Geld besitzen. Einen Teil aus dem eigenen Geldbeutel geben sie den Deutschen. Einen Teil den Polen. Die Hände der Polen und die Hände der Deutschen sind beide gleich ausgestreckt, mit geöffneten Handflächen. Die Deutschen und die Polen sind sich in der Judenfrage einig. Genauso der Papst, in seinen roten Schühchen, der ist sich auch einig mit ihnen. Der Junge läuft an Bekannten vorbei. Er stürmt in die Wohnung, die aus einem Wohnraum mit so etwas wie einer Küchenecke besteht. Der Vater hebt die Augen von seinem Notenblatt. Ausgestreckte lange Finger, wie ein gefrorener Springbrunnen am Hals der Geige. Der Junge ist außer Atem.
„Ist sie zurückgekommen?“
„Nein.“
„Wahrscheinlich sind wir aneinander vorbeigelaufen:“
Der Vater atmet flach. Die Angst fängt an, auf der Geige zu spielen. Der Junge tritt zurück. Er läuft hinaus, die Augen auf den Boden geheftet, die Augen suchen für gewöhnlich Formen, an denen sie Geschmack finden. Die Augen suchen alles, was sich essen lässt. Sie nähern sich der Kantine, in der einst sogar Kammerkonzerte erlaubt waren. Ein Schrei reißt sie nicht nieder. Vor den Türen der Kantine stehen zwei Polen und zwei Ukrainer Wache. Sie sind unnahbar, besonders Taras. Im Kopf hat er das Bild der unsichtbaren Hungermauer, durch die niemand in seiner Nähe hindurch schlüpfen kann. Die Straße wimmelt von Deutschen. Den Jungen bemerken sie nicht.
Sie rennen in das Haus hinein, ziehen die Mädchen an den Haaren hinterher. Nur die allerschönsten. Da soll noch mal einer sagen, dass schöne Mädchen ein leichtes Leben haben.
Die Mädchen werden in die Kantine getrieben, einige sind bereits dort. Angst nehmen sie nicht wahr, denn von Angst durchdrungen sind sie schon die ganze Zeit. Das ist nichts Neues. Wie immer befehlen sie ihnen aufzuräumen. Sie müssen sich die Höschen ausziehen. Sie müssen den Boden mit den Höschen reinigen. Einige Frauen zögern. Eine fasst ihren Mut zusammen und flüstert in perfektem Deutsch, dass sie ihre Tage hat. Der Deutsche nickt, die Frau darf gehen. Da melden sich schon weitere, den Deutschen empört das, diesmal schüttelt er den Kopf. Angst löst allmählich die Scham ab. Die Frauen ziehen die Höschen herunter und einigen rinnt das Blut an den Oberschenkeln zu den Waden herab. Sie müssen es wegwischen. Sie wischen das Weggewischte weg, bis zur Unendlichkeit.
In das Nebenzimmer, in dem man die Tagesrationen für den Dienst in der Stadt inmitten der Stadt ausgibt und die Kammerkonzerte stattfinden, werden nur die allerschönsten geführt. Hier stehen zwei Filmkameras und Kräne und Reflektoren und einige Männer. Einer massiert sich mit einer Reitgerte die Schenkel. Sie befehlen den Frauen sich auszuziehen. Auch hier durchdringt die Scham den Körper der Frau, die schlimmer ist als die Angst, weil die Erniedrigung sich durch nichts verdecken lässt. Sie befehlen den Frauen, dass sie sich streicheln sollen. Dass sie sich die Brustwarzen reiben. Dass sie die Brustwarzen der anderen probieren. Der Mann mit der Peitsche nimmt die nackten Körper auf. Er befiehlt einigen, dass sie sich auf den Stuhl legen sollen, anderen, dass sie hübsch die Beine hinter den Kopf nehmen. Einige sollen sich auf den Bauch oder auf die Knie legen. Andere sollen sich auf die erschreckten Gesichter setzen.

„Die Zungen, ich seh' die Zungen nicht“, sagt der Mann mit der Peitsche ruhig. Und er lässt sie auf das entblößte Gesäß hinabsausen. Die Kamera summt und die Männer atmen schwer. Das ist ein Bild, das keinen Anfang und kein Ende hat, die Körper knüpfen aneinander an, ein Bild, das sich verbindet, das ist die Hölle, die Körper knüpfen aneinander an und verhaken sich ineinander, weil sie nicht wissen, ob das wirklich das Schlimmste ist, obwohl sie fühlen, dass es so ist, dass das das Schlimmste ist, weil sie lieber nicht sein und sterben würden. Dieser Film entsteht. Niemals wird man über ihn sprechen. Nicht mal darüber, wer ihn in Berlin vorführt und wer dabei masturbiert, wer sich befriedigt beim Anblick der Körper, die nur einige Monate später zur letzten Entblößung marschieren mussten. Das war nicht die ursprüngliche Idee dieser Filmemacher. Ähnliche Szenen erlebten schon Theaterpremieren, zu ähnlichen Szenen hatten die Österreicher in Wien Regie geführt, in den Kellern ihrer Bürgerhäuser, in denen sie den Anschluss feierten. Das waren keine deutschen Nazis. Das waren Männer und Frauen aus guten Bürgerhäusern. Die hätten sich schon damals gern die hübschesten Jüdinnen ausgewählt und zu Hause in ihre Keller gesperrt.
Ingrid ist unter ihnen. Ingrid ist mitten unter diesen Frauen und sieht mit Schrecken, dass einige Körper glänzen und den Orgasmus erreichen, ohne dass die Besitzerinnen dieser Körper das wollen, die Körper verraten diese Frauen, die Körper verraten sie, es verrät sie das letzte, was ihnen noch geblieben ist, der nackte Körper, einige schreien, aber es ist keine Wonne, es ist der Schrecken, es ist der Widerwille, weil mit dem Schweiß die Würde wegfließt. Das ist die Endstation. Die Frauen schauen sich gegenseitig nicht an. Sie weichen den Augen der anderen aus. Als sie es ihnen gestatten, sich zu lösen und die Kette zu entfädeln, kleiden sie sich eilig an. Sie stehlen sich davon. Einige behalten die Filmemacher für sich. Sie werden noch von einigen jungen Männerkörpern bedrängt.
Ingrid verkriecht sich im ersten Durchgang. Der Körper ohrfeigt sich selbst. Er ohrfeigt das Gesicht. Er ohrfeigt den Bauch. Er ohrfeigt die Oberschenkel. Er kratzt sich. Er will die Haut vom Körper kratzen. Weiter geht es nicht. Es geht keinen Schritt weiter. Einige gehen einen Schritt weiter, der Schritt hat die Gestalt einer Wäscheleine, eines großen Fensters und des Pflasters unter ihm, eines leeren Bauches. Einige lehnen es ab, einen solch befleckten Körper zu füttern, sie sind schon genauso matt, und so dauert es nicht mehr lange, bis der Körper ein letztes mal ausatmet, morgens schleppen sie ihn auf den Gehsteig, lehnen ihn an die Wand und bedecken sein Gesicht mit Zeitungspapier. Einige vertrauen sich ihren Nächsten an, aber die reagieren nicht darauf, höchstens mit Schweigen. Einige vertrauen sich an und man antwortet ihnen mit hochgezogenen Augenbrauen oder Grimassen. Einige vertrauen sich an, so als ob sie damit ihre Körper für die anderen befreien würden. Der Körper fängt an herumzuhuren.
Der Vater übt das Geigenspiel. Er fragt nicht, wo Ingrid gewesen ist. Ingrid sucht keine Hilfe. Ingrid ohrfeigt nur heimlich den Körper, der sie gefangen hält und nicht wieder freigibt. Die einzige Hoffnung für den Körper verkörpern die Schwalben, welche sie in Freiheit überfliegen. Ingrid heftet ihre Augen auf sie. Und steht auf. Sie entscheidet sich, dass man das nicht machen kann. Sie schiebt die anderen noch vor ihrem Körper. Sie ist wachsam wie ein Geier.


HALBNEST


Sie fliegen über das Land und stöbern nach dem tausendjährigen Vorurteil oder nach der gespannten Zeit, der ausgerenkten Situation, dem Bürgerkrieg, der Unruhe und dem Unfrieden. Alles wiederholt sich, Liebster, man versteckt sich in der Routine und im Ritual, den Schwalben ist die Eigenschaft zu fliegen angeboren und den Menschen die Eigenschaft die Sprache zu benutzen, letztendlich eignen sie sich die Sprache an, die in dem kulturellen Milieu benutzt wird, in welchem sie aufgewachsen sind. Deswegen ist es nötig, die Lücke der Erkenntnis- und Emotionsstrukturen zu überspringen, mit den Augen der Schwalben zu sehen und nur das zu sehen, was alle Menschen gemeinsam haben, und sich mit den wirklichen Normen zu beschäftigen, welche sich die Menschheit geschaffen hat, und bisher nicht entfädelt hat.

Schwalben. Es gibt eine Art, die nur im Flug lebt. Sie leben nur im Flug, schlafen sogar im Flug, die Wissenschaftler wussten lange nicht, wie so etwas möglich ist. Letztendlich kamen sie darauf, dass wenn eine schläft, die andere zu allen Seiten hin wachsam ist, sie sind mit unsichtbaren Energiefasern aneinander gebunden, vielleicht durch Intuition. Wenn eine Schwalbe fällt, wenn sie aus dem Flug heraus herunterfällt und sich mühsam wieder von der Erde erhebt, schafft sie es alleine nicht, jemand muss ihr helfen. Wenigstens auf einen Baum, von dem sie erneut zu starten versucht. Niemals schützen sie Müdigkeit vor, niemals, niemals, niemals, niemals, sie paaren sich sogar im Flug. Und sie kann nicht anders.

Das Buch beschreiben sie mit Schwalbenschnäbeln, die die Welt so oft umflogen haben, Generation für Generation. Eine Erinnerung haben wir nicht. Wir sind die Erinnerung! Negative Erfahrungen aus der frühen Kindheit verschwinden nicht. Sie verhärten sich. Sie bleiben wie Abdrücke im Beton, manchmal ein Leben lang. Die Zeit heilt die Wunden der ersten Tage, Monate und Jahre nicht. Die Zeit konserviert die Wunden; sie verschwinden und verdampfen nicht; sie sind Teil des Körpers. Die implizite Erinnerung daran weiß sehr viel mehr als unser Bewusstsein. Sie weiß alles, was sich mit bloßen Worten nicht beschreiben lässt. Aus der Erfahrung der Schwalben, welche über den menschlichen Körpern fliegen, wissen wir, dass zum Beispiel ein zweijähriges Kind, das vor einem Jahr misshandelt wurde, auf einer Fotografie seinen Peiniger nicht erkennt, aber körperlich augenblicklich reagiert. Es reagiert mit einem starken inneren Stress. Besonders tief brennen und bohren sich schlechte Erfahrungen in das emotionale Gedächtnis ein.
Aber warum eigentlich. Um uns vor zukünftigem Schaden zu warnen. Kleine Kinder drücken ihre Gefühle mit Händen und Füßen aus, mit jeder Pore ihres Körpers. Aber in einer bestimmten Phase tritt plötzlich ein neues Medium in ihr Leben: Die Sprache.

Die Schwalben behaupten, dass Sprache erneut kränkt. Der Körper würde sich nach einer gewissen Zeit mit der schlechten Erfahrung abfinden, er würde sich selbst reinigen. Sofern er eins ist mit seinen Gefühlen. Nur in dem Moment, in dem sich das Bewusstsein auf die Sprache konzentriert, distanzieren wir uns vom Körper. Die Sprache verrät den Körper. An Stelle von „wir sind dieses Gefühl“, sagen wir auf einmal „wir haben dieses Gefühl“. Traumatische Erlebnisse sitzen in den Knochen; sie kriechen bis ins Mark der Knochen. Sie beherrschen und regieren das Bewusstsein. Die Leute werden umso abhängiger davon, was irgendjemand irgendwann über sie sagt. Die Heilung solcherlei eingeschriebener Traumata mit Hilfe der Sprache, wie wir sie seit Sigmund Freuds Zeiten kennen und bevorzugen, als die Leute auf sagenhaften Sofas und Liegen lagen und in Sessels saßen, mit geschlossenen Augen, hilft einfach nicht. Es hilft einzig die Arbeit mit dem Körper; die ganzheitliche Befreiung; die mächtige und unmittelbare Freude am eigenen Körper. Die Körper traumatisierter Menschen wiederholen jede Erfahrung, an die sie sich unbewusst erinnern. Oft sind sie das ganze Leben in diesen Wiederholungen gefangen. Und so verlieren sie eigentlich das Geschenk, das das Leben zweifellos ist. Sie provozieren die Gewalt, die sie erlebt haben; sie konstruieren sich selbst die Rolle des Opfers. Und geben die Traumata an die nachfolgenden Generationen weiter.
Wenn die Berührungen und die Reaktionen zwischen dem Kind und der Mutter nicht funktionieren, kann sich der Säugling nicht schützen. Er kann nicht fliehen. Er kennt niemand anderen auf der Welt. Der Mangel an Berührungen hinterlässt eine Lücke in der Erinnerung seines Körpers. Berührungen geben dem Körper Sicherheit, sie stärken die Wachstumshormone, reduzieren die Stresshormone, stabilisieren den Herzschlag, die Atmung und den Blutdruck. Berührungen, die dem Kinderkörper gut tun, erwachen im Erwachsenenalter zum Leben, sobald jemand den Erwachsenenkörper berührt. Und die Körper die in der Kindheit niemand mit Liebe und Respekt berührt hat oder sie schlecht berührt hat, weil die Mütter selbst die Berührung nicht ertrugen oder im einen Moment die Kinder flehentlich an sich drückten, um sie im nächsten ohne Beachtung liegen zu lassen, wechselhafte Gefühle wiederholen sich in den Armen des Partners. Der Ekel kann sich steigern. Beispielsweise zu Störungen der Nahrungsaufnahme.
Die Schwalben machten sich die Epidemie bewusst: Die Menschen leiden heute an einer weitverbreiteten Störung, welche wir Alexithymie nennen. Diese Menschen wissen überhaupt nicht, was ihnen der eigene Körper ausrichten lässt. Sie entziffern die Nachrichten des eigenen Körpers nicht. Und sie zögern. Bin ich aufgeregt oder habe ich Bauchschmerzen. Ist das ein Gefühl oder bin ich wirklich krank. Der Bereich des Gehirns, der Veränderungen im Körper als Gefühle interpretiert, ist beschädigt. Oftmals auf Dauer. Die Körper reagieren nicht auf emotionale Situationen. Sie fühlen keine Trauer, sie fühlen keine Freude, sie fühlen keine Wut. Solche Menschen sind innerlich tot. Das klingt wie eine schreckliche Krankheit und es ist eine schreckliche Krankheit, die in frühen Jahren auswucherte. Als Schutz vor der unerträglichen Angst, vor der Wut oder der enttäuschten Sehnsucht.

Die Schwalben fliegen und sie wissen, dass sich solche Freuden jeden Tag auf der Welt zutragen. Eine dreiundzwanzigjährige Studentin wurde brutal massenvergewaltigt. Die Verletzungen des Gehirns und die Infektion des Bauches, die sie sich zuzog, überlebte sie nicht.
Abends ging sie mit ihrem Freund ins Kino in den britischen Film Begegnung. Keine Rikscha stand zur Verfügung, um sie nach Hause zu bringen. Sie nahmen das Angebot eines privaten Busses an. Er hatte verdunkelte Scheiben. Im Bus fingen sie an, sie zu belästigen. Den Freund trafen sie mit der Eisenstange. Die Freundin versuchte die Polizei anzurufen. Sie haben ihr das Mobiltelefon weggenommen. Die Körper haben sie aus dem Bus geworfen und sind weggefahren. Niemand von denen, die vorbeifuhren, hat angehalten. Sie haben verlangsamt, die nackten Körper betrachtet und sind davongefahren. Die Polizei kam nach langen, wunderbar langen Minuten. Über den warmen Körpern stritten sie sich, unter wessen rechtliche Kompetenz der Fall wohl fällt.
Die Polizisten fuhren in das nächstgelegene Hotel, wo sie sich abgezogene Betttücher ausliehen, um die nackten Körper zu bedecken. Die Studentin blutete stark.
Flieg, Schwalbe, flieg.
Die Worte zersplittern an der gläsernen Wand, hinter der wir leben. Der Körper ist real.
Der Körper juckt, die Wahrheit ist die Krätze.
Der Speichel der Schwalben verklebt uns. Er zieht sich nach oben hin auseinander wie Zuckergebäck. Die Schwalben mit dem Zuckergebäck im Schnabel umkleben die Welt.

Die Schwalben stecken die Erkenntnis unter die Nase, das Gemeinschaften existieren, in denen Frauen keine Zuflucht finden, und es ist egal, wo diese Gemeinschaften leben, und es existieren Gemeinschaften, in denen die eigenen Väter und Söhne Soldaten der Armee sind, und selbst wenn sie in allen anderen Angelegenheiten versagen, haben sie einen Bereich, in dem die Macht traumhaft und unbegrenzt regiert, in ihrer Oberherrschaft täuschen sie sich nicht, und deswegen werden sie niemals einen Wandel wollen, niemals, weil diese Oberherrschaft, das einzige Gebiet ist und auch sein wird, wo sie von der Einzigartigkeit ihres Stammes schmarotzen können und von ihrer Religion, ihrem Selbstbewusstseins, ihrer Stärke, ihrer Eitelkeit, und diese Regierung tragen sie mit sich selbst in die ganze Welt hinaus, es ist egal, wohin die Familien umziehen und wo sie Asyl finden, weil ihre Töchter nirgends auf der Welt ein Asyl finden werden. Hier herrschen Könige und Regenten, sie entscheiden über Leben und Tod. Ihre Herrschaft sind die Töchter, Ehefrauen und Schwestern. Sie verstehen nicht, warum ihnen jemand diese Oberherrschaft vorenthält, wenn sie doch in ihr und zu ihr erzogen wurden.

In einem Fall erschießt der Bruder seine Schwester mit zwei Schüssen an einer Bushaltestelle. In einem anderen erschießt der Bruder seine achtzehnjährige Schwester, weil sie mit jemand minderwertigem, nicht auserwähltem ausgeht. Die endgültige Lösung. Der Richter verurteilt fünf von acht Geschwistern dafür, dass sie die Tat vorbereitet haben. Der Vater widmet seinem ältesten Sohn nach der Tat eine goldene Armbanduhr. Ohne Verdienste gibt es keine fette Belohnung.
Der Vater sitzt im halbleeren Gerichtssaal. Das Gericht weist ihm nichts nach, weil er das Familienoberhaupt war, in einer vernichteten Familie betrügen die Diener den Herrn. Niemand hat ihm etwas nachgewiesen, obwohl er die Hinrichtung hätte verhindern können. Niemand hat ihn vor Gericht gebracht für die Beteiligung an dem Mord, obwohl der Vater an der entscheidenden Stelle die Fäden zog. Die Schwalben auf den Telegraphenmasten formieren sich nicht neu, solch langweilige Szenen aus dem Leben der menschlichen Körper sehen sie schon jahrhundertelang überall auf der Welt, es überrascht sie nicht.

Nichts ändert sich, nur das Zeitgefieder. Konzentrationslager anderer Art, durchdacht, seit dem Jahr 1932 entführte Japan Mädchen in den besetzten Gebieten Asiens und hielt sie gefangen, die Körper standen der Armee zur Verfügung, es waren hundert- bis zweihunderttausend Frauen, „Trostfrauen“, niemand hat sie jemals gezählt, nur die Schwalben. Da waren hauptsächlich Koreanerinnen, zehnmal, dreißig mal täglich vergewaltigte Körper, wenn man versuchte zu fliehen, wurde man gefoltert, das einzige Entkommen war der Selbstmord, sie änderten ihre Namen in japanische, Yi Ok Seon war fünfzehn, als sie sie auf der Straße entführten und wegsperrten, die längsten Schlangen waren an den Wochenenden, sie musste schnell das Kondom auswaschen, niemals mehr im Leben hat sie danach noch einmal Milch getrunken, die Assoziation mit dem ausgewaschenen Wasser ist stark, sie sagten Vogelmilch dazu, Yi Ok Seon ist 84 Jahre alt, als sie in Seoul vor der japanischen Botschaft sitzt, sie sitzt dort lange, ein lebendes Exponat, ausdauernd, gekennzeichnet, der Körper wartet auf die Rückgabe des verlorenen Lebens, er will eine Entschädigung, eine Entschuldigung, er will, dass sie die Japaner finden und bestrafen, die das Haus hinter dem Stacheldraht betrieben, niemand wurde weggesperrt und wird weggesperrt, die japanischen Politiker behaupten, dass das Prostituierte waren, dass sie freiwillig dort waren, die Armee hat damit überhaupt nichts zu tun, das Wort Prostituierte ist ein klebriger Wangenkuss, aus Eiweiß und Zucker geschlagen, es klebt am Zahnschmelz und zerfrisst ihn.

Schwalben. Niemand füttert sie. Jemand ist unter ihnen, ein Insekt, hier ergibt die Kette Sinn. Das weibliche Opfer und das männliche Opfer reagieren verschieden, und Opfer werden bedeutet nicht menschlicher werden. Das weibliche Opfer ist eingequetscht, die Erniedrigung trägt sie im Leben wie ein Schandmal, sie zieht weitere Gewalttäter an. Das männliche Opfer, wie die Schwalben herausfanden, wird sogar zum Mörder. Weil der Körper die Erniedrigung und den Schmerz vergessen will; der männliche Körper will die Vergangenheit anderweitig vergessen. Als Erniedrigung erachtet er es auch, wenn etwas mit fremder Hilfe berührt wird; die Schwalbe fällt auf die Erde, im Männerkörper würde sie die Tatsache nicht aushalten, dass sie nur durch fremde Hilfe emporfliegen kann. Das würde sie den übrigen Schwalben niemals vergeben. Sie würde den Schwarm vernichten. Das Opfer flieht und entflieht, nur dann, wenn es jemand Schwächeren tötet oder erniedrigt und wenn es davon übermannt wird. Und immer überkommt es das Kind und auf die vernichtende Mehrheit bezogen überkommt es die Frau.

Die Schwalben forderten nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges erbittert, dass Vergewaltigung als Kriegsverbrechen der höchsten Stufe erachtet würde, sie haben sie kräftig ausgelacht. Die Schwalben sagen es nicht laut, wie erbittert sie gekämpft haben, damit dieselbe Diagnose auch für Mädchen und Frauen aller kriegerischen Konflikte gilt. Denn solange sie ihre Körper keiner Therapie unterwerfen, droht, dass sie ihre Kinder unbewusst ablehnen. Das sie im fortgeschrittenen Alter an Depressionen leiden, an Übergewicht, an Abhängigkeiten, an Herzerkrankungen, an Krebs, an Diabetes. Das Trauma der Vergewaltigung des Körpers verkürzt das Leben bis um zwanzig Jahre im Vergleich zu Körpern, die eine glückliche Kindheit hatten und nicht durch Vergewaltigung traumatisiert waren. Die Schwalben zwitschern laut.

Die Sprache macht es unmöglich, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie nicht lügt. Die Worte reichen an eine bestimmte Grenze, die Worte dienen dem Intellekt. Wie übersetzt man eine verlebte Sekunde. Für Gefühle, Schattierungen des Unterbewusstseins, die Intuition, die Körpersprache sind die Worte zu kurz und knirschen mit der Ohnmacht der Zähne. Sie sind kurz während des Aufblitzens in den Augen, in welchen sie die Erfahrung der vorhergehenden Jahrhunderte mit dieser Sekunde verbinden; das beherrschen nur die Schwalben.

War es das Leben so vieler Schwalben wert, konnten sie nicht nach Hause zurückkehren; sie beschrieben das Geschehen mit anderen Augen, das rechte Auge sieht etwas anderes als das linke Auge, fliegen kann man nur geradewegs nach vorn. Ich verstehe die Schwalben. Die Arbeit soll nicht vergeblich sein und das Leben soll Sinn haben.

Diese intensive Abwesenheit, mit welcher sie schauen.
Schwalben. Himmlisches Balett und Wunder der Geschichte. Sie umfliegen die Welt und nur beim Menschen finden sie Massenmord. Der Mensch ist das einzige Wesen, das nicht an seine eigene Gemeinschaft angepasst ist.
Nachrichten in den Himmel geschnitzt.

Als würde es meinem Körper passieren. Fass dich selbst an und bitte um Vergebung. Wenn es diese Welt ist, mit der es notwendig ist, sich zu versöhnen, dann will ich nichts mit ihr zu tun haben.
Der Körper als Schlachtfeld. Ein Schlachtfeld, das keine Friedenszeit kennt. Es existiert eine stille Übereinkunft und das Gebiet, das niemals befreit ist und befreit werden wird, welches von allen erobert werden darf, wo allen alles erlaubt ist. Ein durchpflügtes Feld. Ein schwarzer Acker, fruchtbare Böden. Es heißt der Körper des Schwächeren. Eine Strafanzeige gegen den Sieger zu erstatten ist lächerlich.

Am Himmel fliegen die Schwalben und erzählen sich Märchen von Ländern, die von einem bösen Zauberer verflucht wurden. Nur dass diese „Märchen“ wirklich passiert sind. Und das Gute hat nicht gesiegt. Denn das Böse hat alles Gute angesteckt.
Es verinnen die Tage, die Monate, die Jahre, die Leben. Jeder Tag ist nichtig, unendlich. Gleichzeitig schicksalhaft. Jeder Ort auf der Welt ist eine Falle, weil der Teufel die größte Macht über die Menschen hat, welche auf der Stelle stehen bleiben. Wenn jemand die „Flucht“ gelingt, dann ist es eine Flucht vor sich selbst. Bezahlt man schon heute, mit der Leugnung der Menschlichkeit, für den Sieg? Warum missbrauchen diejenigen die Macht, die sie repräsentieren?

„Und Gott schuf die Vögel, jeden nach seiner Art. Und er sah, dass es gut war...“ Genesis




© Radka Denemarková, Deutsch von Yannick Baumann


 

24.06. - 26.07.2014, Ausstellung: Hinter dem Körper des Wortes

 

von Radka Denemarková (Prag) und Imre Nagy (Wien).

Drogerini-Park die Kunst! http://www.kulturdrogerie.org/













Ausschnitt aus: Maria Sewcz, inter_esse, Steidl Verlag 2014


11VIII2014



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