Mit einer Lesung der türkischen Autorin Ece Temelkuran ist das 14. internationale literaturfestival berlin (ilb) am 20.09.2014 zu Ende gegangen. - Temelkurans neuer Roman Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann? erzählt von einer neuen arabischen Frauengeneration, die um ihre Selbstbehauptung ringt. Nach den Worten von Festivaldirektor Ulrich Schreiber mache genau dieser konzeptionelle Ansatz den Reiz des Festival aus, das zu 330 Veranstaltungen an über dreißig Orten eingeladen hatte: „Es gibt eine Sehnsucht, mit AutorInnen über die großen Konflikte in der Welt zu sprechen – von der Ukraine bis nach Syrien, von der Westsahara bis in den Nahen Osten. Die Lesungen und Diskussionen mit Hala Mohammad, Samar Yazbek, Ishmael Beah, Tope Folarin, Andrej Kurkow oder Yvonne Adhiambo Owuor zeigen, dass das ilb eine Weltbühne literarischer Vielfalt und politischen Anspruchs ist“.
Ece Temelkuran – Wolken und Efeu
Aus dem Türkischen von Johannes Neuner
Ich beneide Menschen, die sich rückwärts in den Schnee fallen lassen können. Viel mehr noch als solche, die bei einer Preisverleihung sagen: „Damit hätte ich niemals gerechnet.“ Ich beneide sie um ihr Vertrauen in den Schnee, ins Leben und in dessen positive Möglichkeiten.
Ich beneide Menschen, die vor ihrer Haustür Katzen und Sperlinge füttern. Ich beneide sie für ihre Zuversicht, ein Vertrauensverhältnis zu diesen Tieren aufbauen zu können, ohne Angst, sie jemals zu enttäuschen.
Menschen, die sich auf sozialen Plattformen im Internet mit Aphorismen selbst charakterisieren, beneide ich für ihr Vertrauen, nicht als dumm oder als einfallslos wahrgenommen zu werden.
Ich beneide Paare, die seit Jahren zusammenleben und die, wenn sie Hilfe brauchen, nur den Namen ihres Partners von einem Zimmer ins andere zu rufen brauchen, in dem sicheren Wissen, dass sie auf jeden Fall eine Antwort erhalten werden. Ich beneide sie darum, vergessen zu haben, was es heißt, wenn keiner da ist, der antworten könnte.
Ich beneide Menschen, die mit minimalem Gepäck auf Reisen gehen, die nicht unzählige Kleider brauchen, um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein.
Ich beneide Menschen, die in Ländern mit so stabilen politischen Verhältnissen leben, dass sie jetzt schon ihren Sommerurlaub des nächsten Jahres planen können, Menschen, die darauf vertrauen, dass auch nächste Woche noch alles seinen gewohnten Gang gehen wird, und die nicht einmal bemerken, für wie selbstverständlich sie das halten.
Ich beneide Karibikreisende, die darauf vertrauen, dass die Mücke, die das Chikungunya-Virus überträgt, gerade sie nicht stechen wird. Ich beneide sie für ihre Überzeugung, nicht zu dem Prozentsatz zu gehören, dem weniger Glück beschieden ist.
Ich beneide Menschen, die darauf vertrauen, dass schon alles gut gehen wird, wenn sie eine Party veranstalten, und ihnen der Friseur nicht noch in letzter Minute die Frisur ruiniert.
Ich beneide Menschen, die darauf vertrauen, dass das heranrasende Auto noch rechtzeitig zum Stillstand kommt, sobald ein Kind auf die Straße rennt. Auch solche, die sich völlig sicher sind, dass der Fahrer des Taxis, in das sie gerade steigen, nicht unter dem Vietnam-Syndrom leidet, beneide ich.
Ich beneide Menschen, die darauf vertrauen, dass der Produzent ihrer T-Shirts keine Kinder für sich arbeiten lässt, dass für ihre Kosmetika keine Tiere gestorben sind, und dass ihr Computerhersteller Wert darauf legt, seine Beschäftigten sozial abzusichern.
Ich beneide Menschen, die darauf vertrauen, für das Daunenkissen, auf das sie sich betten, habe nicht eine einzige Gans Schmerzen erleiden müssen.
Besonders beneide ich Menschen, die ein Vertrauensverhältnis zu Banken, zum Staat, zu Krankenhäusern, zur Polizei, zu ihrem Arbeitgeber, zur Ehe oder einer sonstigen festen Beziehung, zu ihren Nachbarn, zu ihrem Zuhause und zu Nahrungsmitteln mit dem Etikett „aus biologischem Anbau“ aufbauen können. Wie beruhigend es doch sein muss, darauf zählen zu können, dass das eigene Haus erdbebensicher ist, dass es den radikalen Islamisten, die demnächst aus Syrien einfallen werden, sicher nicht gelingt, die Stadt unter ihre Kontrolle zu bringen, dass man nicht in aller Frühe von Polizisten aus dem Schlaf gerissen und festgenommen wird, weil man vergangenes Jahr an einer Demonstration teilgenommen hat, dass man nicht aufgrund eines kürzlich getwitterten politischen Statements seinen Job verliert und dass auch nicht vielleicht schon morgen bei einem Grubenunglück dreihundertundein Bergarbeiter den Tod finden werden.
Was müssen solche Menschen für ein Leben führen! So viel Vertrauen muss sich
anfühlen wie der Fall in eine Wolke.
Wie gerne würde ich mit jenen Menschen tauschen, die es fertigbringen weg zuhören, wenn die ganze Welt – vor allem meine Heimat – ihnen laut entgegen schreit: „Misstraue!“ Ich wünschte, ich hätte wenigstens mein Haus an einem Ort errichtet, dem ich mein Vertrauen schenken kann.
Das Haus dazwischen: Angst und Vertrauen
Ich bewohne ein kleines einstöckiges Haus mit Garten und Blick auf den Bosporus, etwa auf halber Höhe eines Hügels. Auf dem oberen Teil dieses Hügels stehen Gecekondus, die in den sechziger Jahren erbaut und in den siebziger Jahren von der sozialdemokratischen CHP-Regierung legalisiert wurden. Im größten Teil dieser Häuser, die mit der Zeit immer weiter verschönert und aufgestockt worden sind, wohnen Angehörige der unteren Mittelschicht. Auf dem niedrigeren, dem Meer näher gelegenen Teil des Hügels leben einige der reichsten Istanbuler in riesigen Villen mit riesigen Gärten. Das einzige, was die beiden Hügelteile beziehungsweise die sozialen Klassen voneinander trennt, ist mein kleines Häuschen. Sämtliche Gebäude über mir blicken hinab auf meinen Garten, auf die Gärten der Reichen und über das Meer hinweg, und sie fordern diesen Blick auch ein. Denn die Menschen im Nahen Osten verfolgen das Leben ihrer Nachbarn mit besonderer Aufmerksamkeit. Wie Kinder starren wir ungeniert zu den anderen hinüber, ohne mit ihnen ein Wort zu wechseln, was längst nicht so verpönt ist wie im Westen. Daher kann es sich auch jeden Sommer mindestens einer meiner Nachbarn ganz selbstverständlich leisten, an meine Tür zu klopfen und mich aufzufordern, meinen Efeu und meine Bäume wieder mal zurückzuschneiden. Manchmal kommen auch gleich mehrere, um mit vereinter Kraft gegen mich vorzugehen. Denn sie „können nicht sehen“, aber sie „wollen sehen“!
„Was?“
„Die Aussicht!“
Was sie als Aussicht bezeichnen, ist der Garten meines Hauses, die Gärten darunter und vielleicht auch noch ein Fitzelchen Meer. Das von privaten Sicherheitskräften geschützte Paradies der Reichen und mein Häuschen – beide versuchen wir uns den Blicken derer, die über uns wohnen, zu entziehen. Mithilfe von Efeu! Denn wir haben Angst. Angst vor Penetration, Angst davor, die Leute über uns in unsere Privatsphäre eindringen zu lassen. Die Vorstellung, unser Leben mit „denen von da oben“ teilen zu müssen, erschreckt uns. Doch auch die Bewohner des höher gelegenen Hügelteils haben Angst, denn ein Leben mit Blick auf den Bosporus, das ist in Istanbul noch immer gleichbedeutend mit einem „guten Leben“. Daher haben sie Angst davor, dass der Efeu sie vom Meer ausschließt und ihnen ein Leben in Armut aufzwingt. Sie haben Angst, daran zu ersticken. Ja, sie möchten auch das Gefühl haben, in einer Reichengegend zu leben, und erklären daher dem Efeu, der ihnen im Klassenkampf eine Niederlage einzubringen droht, den Krieg. Wir wiederum eröffnen neue Horizonte, was passive Aggression im Stadtviertel angeht – so stark ist die Spannung, die die Efeufrage erzeugt. Der Efeu ist wie eine Trennwand zwischen Sicherheit und Angst, die umso mehr beunruhigt, je stärker sie wächst.
Das Land, in dem ich lebe, ist ein Ort, an dem aufgrund von extremer politischer Polarisierung, eines klippenartigen Sozialgefälles, eines seit dreißig Jahren sporadisch aufflammenden Bürgerkriegs und aus vielerlei Gründen mehr niemand den anderen wirklich mag. Da die türkische Gesellschaft als ganze über keinen gemeinsamen Code verfügt, streben wir alle danach, nur mit solchen Menschen zusammenzuleben, die uns selbst möglichst ähnlich sind. Daher gibt es auch fast täglich ein neues Siedlungsbauprojekt. In der Werbung dafür erzählt man uns auf eine Weise, die nur wir verstehen können, wer dort alles leben wird. Religiöse oder Säkulare, konservative Reiche oder kopftuchlose Frauen … Wir müssen solche Dinge wissen, denn es ist uns sehr wichtig, auf welcher Seite des Efeus wir leben werden. Die Menschen wollen schließlich, wo schon ihr Alltag von so viel Unsicherheit geprägt ist, nicht auch noch zuhause mit der ständigen Anspannung sozialer und weltanschaulicher Unterschiedlichkeiten konfrontiert sein und bevorzugen daher ein Leben unter ihresgleichen. Mein Heimatland mag verrückt sein, aber mir scheint, als würde die ganze Welt mehr oder weniger auf den gleichen Zustand hinsteuern. Jeder tut alles in seiner Macht Stehende dafür, sich vor anderen Menschen noch besser zu schützen.
Und während die Welt uns einerseits sagt: „Vertraue niemandem!“, verkauft sie uns auf der anderen Seite Sicherheit: die Sicherheit des Geldes, des Wissens, der zwischenmenschlichen Beziehungen, der Gesundheit, der Kinder und so fort. Unser Bedürfnis nach Sicherheit versucht die Welt nun dadurch zu befriedigen, dass sie alles in gleicher Weise organisiert und zur besseren Vorhersehbarkeit auf gesammelte Informationen zurückgreift. Unsere Facebook-Profile enthalten heute in zunehmendem Maße Informationen über uns, die wir auch einer Versicherungsgesellschaft zukommen lassen würden, und unsere Banken interessieren sich mittlerweile für nahezu dieselben Dinge wie potenzielle Heiratskandidaten. Um der Sicherheit Genüge zu tun, haben wir uns alle in Informationsbroschüren über uns selbst verwandelt.
Gleichzeitig geht aber ein Gespenst in der Welt um – das Gespenst des Vertrauens.
Auf dem Tahrir-Platz, in Tunis, im Istanbuler Gezi-Park … überall war immer wieder der gleiche Satz zu hören: „Geht nicht in diese Straße! Da werdet ihr von der Polizei angegriffen! Haltet euch von dort fern!“
Während draußen also kriegsähnliche Zustände herrschen und Sie um Ihr Leben kämpfen, gibt ihnen plötzlich irgendein Nickname auf der Timeline von Twitter, von dem Sie nicht einmal mehr wissen, wann und warum Sie ihm zu folgen begonnen haben, eine Information, und Sie beschließen, dieser Person zu vertrauen. Denn Sie glauben daran, dass zwischen Ihnen beiden eine Einheit der Gefühle besteht, und gehen wie selbstverständlich davon aus, dass Ihr Gegenüber Ihnen ähnlich ist. Wenn ich es auch als einigermaßen übertrieben empfinde, den Arabischen Frühling als „Revolution“ zu bezeichnen, so glaube ich doch, dass in Sachen Vertrauen auf dieser Welt – vom Tahrir-Platz bis hin zum Gezi-Park – tatsächlich eine Revolution stattgefunden hat.
Anstelle von Zeitungen und Fernsehsendern, die Millionen von Dollar investieren, um sich unsere Gunst zu erkaufen, vertrauen wir plötzlich Menschen mit komischen Profilfotos, die unter Pseudonym auf Twitter schreiben. Aufgrund einer Reihe intuitiv gefällter Entscheidungen und unbewusster Erfahrungen haben wir entschieden, diesen Menschen anstelle von Institutionen zu vertrauen. Die blauen Displays der Mobiltelefone, die in Ägypten und in der Türkei bei Nacht die Gesichter der Menschen beleuchteten, waren wie Glühwürmchen, und es gab außer diesen Glühwürmchen kein anderes Zeichen, das uns den Weg gewiesen hätte. Kein Fernsehsender und keine Zeitung versorgte uns mit so vertrauenswürdigen Informationen, wie diese Unbekannten es taten. Man mag darüber streiten, was jene Tage in politischer Hinsicht hinterlassen haben, aber was zwischenmenschliches Vertrauen angeht, kam es in diesen Ländern, wo die Aufstände stattfanden, zu wirklich tiefgreifenden Veränderungen. In der Türkei etwa begegnen die Teilnehmer der Gezi-Proteste denjenigen, die nicht dabei waren, mittlerweile voller Misstrauen. Um sich abzugrenzen, setzen die Menschen sogar auf Datingseiten schon Fotos, die während der Aufstände geschossen wurden. Und eine Freundin gestand mir vor kurzem, dass sie sich von ihrem Mann habe scheiden lassen, „weil er im Gezi-Park nicht mit dabei war.“ „Ich kann ihm einfach nicht mehr vertrauen!“, fügte sie hinzu.
Eines der wichtigsten Anliegen der Menschen, die sich am Widerstand beteiligten, war folgendes: So verschieden wir auch voneinander sein mögen, wünschen wir uns doch alle Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, und wir wollen einander vertrauen. Und so vertrauten wir in das Gewissen, den Gerechtigkeitssinn und die Menschlichkeit der anderen, selbst wenn sie völlig unterschiedlichen Ethnien oder Glaubensrichtungen angehörten. Während der Protestaktionen wurden Fotos, die zeigten, wie die verschiedensten Leute für eine gemeinsame Sache eintreten können, zu den am meisten „gehypten“ Bildern – Fotos aus Ägypten oder Tunesien, auf denen junge Menschen, die ihre Wurzeln in der Muslimbruderschaft haben, anderen jungen Menschen mit liberaler Gesinnung die Hand reichen, oder junge Linke im Gezi-Park, die Schirme über ihre muslimischen Mitdemonstranten halten, während diese im strömenden Regen ihr Gebet verrichten … „Das ist unser Spirit“, sagten sie. Sie rissen den Efeu aus, der unsere Häuser umgab, und teilten uns mit, dass man auch ohne Mauern leben könne, dass sie jedenfalls so leben wollten, dass sie einander vertrauen wollten. In unseren Ländern, die uns erst in Angst und Schrecken versetzen, um uns gleich darauf angebliche Sicherheit verkaufen zu können, ging ein Gespenst um, das für Brüderlichkeit und gegenseitiges Vertrauen eintrat. Mag sein, dass von alledem nur unsere „coolen“ Facebook-Fotos übriggeblieben sind, auf denen wir uns mit Gasmasken haben ablichten lassen, und vielleicht auch ein wenig Feenstaub – aber das Gespenst hat jeder von uns gesehen. Niemand hielt mehr einen anderen für verrückt, nur weil er seinen Mitmenschen vertraute. Denn um am Leben zu bleiben, um nicht der Polizei in die Hände zu geraten, mussten alle daran glauben können, dass ihnen diese völlig unbekannten Menschen trotz aller Unterschiedlichkeit doch irgendwie ähnlich, ja, dass sie „gut“ seien. Die Menschen überwanden nicht nur ihre Angst vor Autoritäten, sondern auch die vor ihrer Verschiedenheit. Wir rissen den Efeu herunter und atmeten tief durch.
Denn trotz des von der Polizei versprühten Tränengases fühlte sich jeder, als komme er endlich wieder an die frische Luft. Nichts riecht schlechter als die Angst. Außerdem lernten wir, wie Sicherheit und Vertrauen negativ miteinander korreliert sind. Denn in dem Maße, in dem die Angriffe der Polizei unser Sicherheitsgefühl zerstörten, wuchs unser Vertrauen – das in unsere Mitmenschen ebenso wie das in uns selbst. Wir trugen sozusagen das Sicherheitsgefühl, das uns verkauft worden war, zurück zum Verkäufer und bekamen im Austausch dafür unser Vertrauen wieder. Und alle waren wir großzügig genug, um zu sagen: „Stimmt so, behalten Sie den Rest!“
Es gibt einige Selbsterfahrungskurse, die Angestellte von multinationalen Konzernen in ihren Bürotürmen „über sich ergehen lassen“. Einer davon beinhaltet die Übung vom „freien Fall“, die dazu dienen soll, das gegenseitige Vertrauen im Team zu stärken. Man lässt sich dabei rückwärts zu Boden fallen, während die anderen Teammitglieder hinter einem stehen und einen gerade noch rechtzeitig auffangen. Der blödsinnige Glaube, dass es auf diese Weise möglich sei, ein Vertrauensverhältnis untereinander aufzubauen, wird erst an die Firmen verkauft, in denen wir angestellt sind, bevor diese ihn dann ihren Mitarbeitern einzuimpfen versuchen. Was das System also von uns erwartet, ist einerseits die Naivität und Unbeschwertheit kleiner Kinder, andererseits aber hält es uns dazu an, im Konkurrenzkampf unbarmherzig und rücksichtslos gegeneinander vorzugehen. Wir sollen vertrauen und misstrauen zur gleichen Zeit. Ob es wohl irgendjemanden gibt, der diesen Schwindel nicht durchschaut? Ich glaube es nicht, und ich will es auch nicht glauben. Inzwischen wissen wir, dass das System es meisterlich versteht, ein Bedürfnis erst in uns zu wecken, um uns anschließend die Mittel zu seiner Befriedigung zu verkaufen. Als hätte es uns nicht selbst zu Konkurrenten und somit zu Feinden gemacht, gelingt es ihm, das komplette Gegenteil zu tun und die Unsicherheit, die es in uns hervorgerufen hat, durch ein falsches Vertrauensgefühl wieder zu tilgen. Wir aber – die Welt – sind dieses schizophrenen Zustands überdrüssig. Wir möchten wieder wirklich vertrauen und die trügerische Sicherheit an die zurückschicken, die sie uns einst verkauften.
Während ich heute diesen Text schrieb, kam wieder einmal eine meiner Nachbarinnen vom oberen Teil des Hügels vorbei und verlangte von mir, ich solle den Efeu ausdünnen. Ihre Rechtfertigung, wie immer: „Wir möchten endlich wieder freie Sicht!“ Die Wut war ihr regelrecht anzusehen. Offenbar hatte sie, obwohl ich sie noch nie zuvor gesehen hatte, in Gedanken bereits alle möglichen Konflikte mit mir durchgespielt, bevor sie vor meine Tür getreten war. Als ich nur lächelnd schwieg, begann sie zu stottern, regte sich noch mehr auf und sagte:
„Damit werden Sie sich in Zukunft abfinden müssen!“
Ich kann nur spekulieren, auf welchen der Konflikte in ihrem Kopf sie sich bezog, als sie diesen Satz formulierte. Aber es war ihr anzusehen, wie verängstigt sie dabei war. Ich glaube, die Tatsache, dass ich gerade diesen Text hier schrieb, veranlasste mich zu der Erwiderung:
„Vertrauen Sie mir.“
Worauf sie mich ansah wie eine Soldatin, die erfährt, dass der Krieg, auf den sie sich so lange vorbereitet hat, in letzter Minute abgeblasen worden ist. Als hätte sie gerade eben Hand ans Efeu gelegt, als sie plötzlich stürzte und in eine Wolke fiel …
© Ece Temelkuran für das ilb 2014; www.literaturfestival.com/programm/kulturen-des-vertrauens/
Ece Temelkuran, *1973 in Izmir, ist Juristin, Schriftstellerin und Journalistin. Aufgrund ihrer oppositionellen Haltung und ihrer Kritik an der Regierungspartei verlor sie ihre Stelle bei einer der großen türkischen Tageszeitungen. Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann ist ihr zweiter Roman, der weltweit in über zwanzig Ländern erscheint.
Werke (Auswahl)
Bütün Kadınların Kafası Karışıktır, İletişim Istanbul, 1996
İç Kitabı, Everest Istanbul, 2002
Agri’nin Derinligi, Everest Istanbul, 2008
Muz Sesleri, Everest Istanbul, 2010
auf Deutsch:
Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann?,
Übersetzung: Johannes Neuner
400 S., geb., Hoffmann & Campe Verlag – Atlantik, 2014,
22,00 €, ISBN: 978-3-455-60004-9
Leseprobe
Alles Wissenswerte auf der mehrsprachigen Homepage der Autorin: www.ecetemelkuran.com
und unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Ece_Temelkuran
https://twitter.com/Etemelkuran
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