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Egon Erwin Kisch
Frühe Reportagen aus Prag

von Tim Heptner


 

 

Egon Erwin Kisch: Das Lied von Jaburek.
Prager Reportagen
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015.
136 S., € 15,90; ISBN-13: 9783803113115

 











„Wenn einer nicht ausgehn kann oder nicht ausgehn will, dann lese er Egon Erwin Kisch!“ Wer Kurt Tucholskys Aufforderung folgt, dem liefert dieser schmale Band mit Kischs frühen Texten einen lebhaften Eindruck davon, wie es vor gut hundert Jahren auf den Straßen Prags zugegangen ist. 19 kurze Reportagen, die der junge Kisch zwischen 1906 und 1913 für die deutschsprachige ZeitungBohemia geschrieben hat, enthält das in rotes Leinen gebundene Büchlein „Das Lied von Jaburek. Prager Reportagen“ des Wagenbach Verlags. Manche davon hat der Autor für spätere Veröffentlichungen nochmals bearbeitet, doch im Grunde finden sich hier, wie der Verlag anmerkt, die „literarischen Anfänge des rasenden Reporters“. Der Rasende Reporter: Diesen Titel gab Kisch 1925 – inzwischen hatte er im Ersten Weltkrieg gekämpft, für die Kommunisten in Wien gearbeitet und in Berlin eine ehrgeizige Tätigkeit für diverse Zeitungen entfaltet – seiner bekanntesten Reportage-Sammlung. Er verlieh sich damit selbst jenes Markenzeichen, unter dem er berühmt wurde. Auf Kisch geht eigentlich die Idee vom modernen Reporter zurück, der rastlos unterwegs ist im hektischen Treiben der Großstadt, Stift und Notizblock stets zur Hand, immer dicht dran am Geschehen, um mit allen Sinnen zu erleben, und davon zu berichten.


1885 als Sohn eines jüdischen Tuchhändlers in Prag geboren, wandte sich Egon Erwin Kisch nach Schule, abgebrochenem Universitätsstudium und einjährigem Militärdienst (wegen Anarchieverdachts verbrachte er große Teile davon im Arrest) dem Journalismus zu. Als Berichterstatter der Bohemia nahm er die Leserschaft mit auf seine oft nächtlichen Streifzüge. Kisch, ein guter Tänzer und Frauenschwarm, war mit der Prager Halb- und Unterwelt eng vertraut; die Kneipen rund um den Hradschin, bevölkert von Künstlern, Schnapsverkäufern, Freudenmädchen, Zechern, Schnorrern und Vagabunden waren sein natürliches Revier. Daneben besuchte der junge Bohemien auch Einrichtungen der Volksfürsorge und interessierte sich für denkwürdige Figuren aus seiner Heimat wie etwa den Rabbi Löw und seinen Golem.


 

Kischs Milieuschilderungen sind sachlich, unsentimental, distanziert; häufig nimmt er die herrschenden Sitten und Gebräuche kritisch aufs Korn. Beispielsweise parodiert er die sogenannten „Gemeindetruhen“ – fahrbare Vehikel aus Korb, die zum Abtransport Betrunkener oder Verunglückter dienten. Jene auch als „Etui“ bekannten Gefährte waren einem Sarg ähnlicher als einer Ambulanz, und ihre „Chauffeure“ hatten keinen guten Ruf – sie waren langsam und ungeschickt beim Verladen ihrer menschlichen Fracht. Der Journalist, der angibt, selbst nie Fahrgast eines Etuis gewesen zu sein, macht sich über die Defizite dieser Einrichtung lustig, und fragt zuletzt ironisch: „Warum könnte man nicht die Droschken und Fiaker durch Gemeindetruhen erster und zweiter Güte ersetzen?“ Stammgast scheint der jungenhafte Reporter bei einer weiteren Prager Institution gewesen zu sein: dem „Café Kandelaber“, einer ambulanten Verkaufsstation für Tee und Rum, „die Hunderten von müden Pilgern die Wohltat eines aufpulvernden, wärmenden Trankes gewährt“. Kisch lobt die erschwinglichen Schnaps-Preise an diesen Cafés, und er kennt auch die Tricks der „Kandelaber-Cafétiers“, die so manch unbedarftem Trinker den einfachen Rum zum Preis des feineren verkaufen. Kisch erinnert an den Teewagen auf dem Altstädter Ring, dem seine Popularität zum Verhängnis wurde, da die Leute „hier ihre Affären der Liebe, des Alkohols und des Verbrechens“ noch weit nach der Sperrstunde fortsetzten, bis die Polizei den Ausschank schließlich verbot. Er schließt seine Reportage mit dem Hinweis, dass es spät geworden sei: „Schon graut der Tag und dem Leser. Ich muß meine sachlichen Erwägungen schließen, wenn ich noch rechtzeitig zum Five o’Clock tea ins Café Kandelaber kommen will.“

 


Kisch zieht es an Orte, die für sein bürgerliches Lesepublikum eher ungewöhnlich und darum besonders unterhaltend sind. Einmal schließt er sich der Prager Polizei an, und dabei entsteht ein farbiger Bericht über eine Razzia. Die Verhaftungen gestaltet er in knappen Szenen, mit zugespitzten Charakteren und amüsanten Dialogen. Der Reporter bilanziert: „Die Razzia ist beendet, der Boden der Großstadt wieder einmal gekehrt worden. Vierundfünfzig Verhaftete.“ Doch mit Blick auf die Folgebürokratie – Personalien aufnehmen, Zellen zuweisen, Erhebungen durchführen, Heimatzuständigkeiten ermitteln, Akten schreiben et cetera – kommt er zu einem weiteren Fazit: „Was Wunder, daß die betroffenen Beamten mehr als die Prager Verbrecher und Vagabunden über die Prager Streifzüge der Polizei schimpfen!“ Spannend auch seine Reportage über das Asyl für Obdachlose, denn Kisch macht den Leser zum Komplizen: Verkleidet und mit falscher Identität ist er für eine Nacht ins Asyl gelangt. Nachdem die Asylwächter seine Papiere und ihn auf Ungeziefer untersucht haben, erhält er Einlass. Im Asyl dann teilt er Suppe und Zigaretten mit den Tagelöhnern, die ihn für einen von ihnen halten, und lernt ihre unverstellten Umgangsformen kennen („Schon die Art des Bekanntwerdens war eine viel bessere als sie in der Gesellschaft üblich ist.“). Eine verwegene Anekdote erlebt Kisch im Heim für gefallene Mädchen. Die hochstehenden Damen im Ausschuss der Anstalt unterrichten den Reporter zunächst über ihre Moral: „Alle Versprechungen des Lasters sind bloß Maske, und die Mädchen, die sich dem Laster und der berechtigten Verachtung preisgeben, statt sich als Dienstmädchen und Fabrikarbeiterinnen geachtete Stellungen zu erwerben, werden im Alter viele Enttäuschungen erleben.“ Noch verachtenswerter als diese Mädchen aber seien jene Männer, welche die „Rohheit aufbringen, sich um des Vergnügens willen mit jungen Mädchen einzulassen, ohne die Absicht zu haben, diese zu ehelichen“. Nachdem Kisch den Ausführungen pflichtschuldigst zugestimmt hat, geleitet man ihn in die Anstaltsräume, in der die Mädchen durch Arbeit und Gebet zur Besserung angehalten werden. Gleich im ersten Saal dann großes Hallo: Lauthals begrüßen einige Mädchen ihren Egon, fragen nach Zigaretten, geben ihm Grüße mit an einen Geliebten und an das Stammcafé, in das sie bald wieder kommen wollen. „Ich war von diesen Begrüßungen peinlich berührt, aber die Ausschußdamen hätten direkt in einer Anstalt für aus den Wolken gefallene Mädchen Aufnahme finden können.“ Der Besuch des Reporters wurde unverzüglich abgebrochen.



In vielen Reportagen kommt die Jugend des Verfassers zum Ausdruck, sein Misstrauen gegenüber Autoritäten und den tonangebenden bürgerlichen Kreisen. Man erfährt, wie Kisch und seine Coleurbrüder von der Burschenschaft den Mauteintreibern auf den Moldaubrücken Streiche spielen, um das geforderte Wegegeld nicht zahlen zu müssen. Das Thema ist vordergründig humorvoll, hat aber einen ernsten Kern, der die ganze Stadt betrifft: Den zwangsweise erhobenen Brückenkreuzer charakterisiert Kisch als „eine Unbequemlichkeit für die Reichen, eine empfindliche Ausgabe für die Armen“. Genau registrierte Kisch Veränderungen seiner Heimatstadt, die Sanierung und Modernisierung ganzer Stadtviertel etwa, oder das Aufkeimen nationalistischer Ressentiments und ihr teilweises Umschlagen in gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Tschechen und Deutschen.


Kisch verhalf der Reportage als literarischer Form zu allgemeiner Anerkennung; als Schriftsteller betonte er den besonderen Reiz des Alltäglichen, indem er die sachlichen Berichte phantasievoll ausschmückte. In seinen frühen Texten zeichnet sich bereits der sozial und politisch engagierte Journalist ab, der die Reportage als engagierte Kunstform versteht, wider Ausbeutung, Armut und Chauvinismus. Zum Schluss sei noch einmal Kurt Tucholsky zitiert: „Reportage ist eine sehr ernste, sehr schwierige, ungemein anstrengende Arbeit, die einen ganzen Kerl erfordert. Kisch ist so einer. Er hat Talent, was gleichgültig ist, und er hat Witterung, Energie, Menschenkenntnis und Findigkeit, die unerlässlich sind.“



Tim Heptner

geb. 1973, Studium der Neueren Deutschen Literatur und Medienwissenschaft, sowie Rechts- und Politikwissenschaft in Marburg, arbeitet als Ausstellungskurator und -manager für das Deutsche Filmmuseum Frankfurt am Main.


© mit freundlicher Genehmigung des Autors; Erstveröffentlichung: literaturkritik.de; Foto: Katja Schickel 


 

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