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Die Kulturhauptstadt Europas 2013 (KHE):
Das erwachte, aufgeweckte, lebendige Košice


 


 

Rückschau und Bilanz von Daniela Capcarová

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Fotos von Katja Schickel



Der 31. Dezember ist der letzte Tag, an dem Košice Kulturhauptstadt Europas (KHE) ist. Es ist der Tag, an dem man auch eine Bilanz dieser Aktion ziehen sollte. „In diesem Jahr war es möglich, in Košice Spitzenpersönlichkeiten aus allen Kunstgattungen zu treffen. Man konnte hier auch Kuratoren, Kunstwissenschaftlern, bedeutenden Architekten oder Fachleuten aus dem Bereich der Kreativ-Wirtschaft begegnen“, sagt Ján Sudzina, Direktor der Nicht-Regierungs-Organisation Košice 2013, die für das gesamte Projekt zuständig war.
Als sozusagen „adoptierte“ Kaschauerin, die seit drei Jahren in Košice lebt und das Pulsieren der Kunst in der Stadt – in diesem einen Jahr als Kulturhauptstadt – erlebt und beobachtet hat, möchte ich,
natürlich aus ganz subjektiver Sicht, aber um ein möglichst objektives Bild bemüht, Positives und Negatives dieses Kulturhauptstadt-Seins resümieren.
Obwohl der Auftakt, die Eröffnungszeremonie Anfang Januar, etwas nüchtern ausfiel und zu wünschen übrig ließ, gelang es der ostslowakischen Stadt doch, gleich die Aufmerksamkeit der (westlichen) Medien auf sich zu ziehen. Über Košice wurde Anfang des Jahres z. B. in deutschen Medien zwar insgesamt negativer berichtet als über das Kulturhauptstadt-Pendant Marseille: aber Negativ-Werbung ist immerhin auch eine Werbung. Zumal man nicht erwarten konnte, dass Košice bei deutschen Journalisten genauso große Sympathien weckt wie die Stadt des lange befreundeten Freundes Deutschlands: Frankreich. Natürlich sind vielen die Probleme mit den Roma aufgefallen; die Probleme der nicht integrierten Ausländer aus arabischen Ländern und aus Afrika in Marseille schienen bei internationalen Medien allerdings auf geringeres Interesse zu stoßen als die Probleme mit den Kaschauer Roma.

 

       

Über den Dächern 

 

Stadtwinkel 

 

An den Rändern 

Positiv war, dass Košice überhaupt auf sich aufmerksam machen konnte und aufmerksam machte. Die einst, gleich nach Budapest, zweitwichtigste Stadt Ungarns ist heute die zweitgrößte Stadt der Slowakei, Sitz des slowakischen Gerichtshofes, des größten Eisenhüttenwerks der Slowakei, eine Stadt mit reicher Geschichte und einzigartiger Mischung verschiedener Minderheiten (unter anderen auch der deutschen), die alle die ursprünglichen Bewohner dieser ostslowakischen Region waren. Wie uninteressant Košice für westliche Ausländer zu sein scheint, davon zeugen etwa die meisten deutschen Reiseführer, die Bratislava gewöhnlich mehr als zwanzig Seiten widmen und für Košice oftmals nur zwei, drei Seiten übrig haben. Die facettenreiche Ostslowakei mit ihren vielen Sehenswürdigkeiten, die im UNESCO-Weltkultur- und Naturerbe eingetragen sind, scheint bisher leider nur wenigen bekannt zu sein. Als ich im April dieses Jahres eine Mitarbeiterin des Kaschauer Flughafens fragte, ob wegen der KHE mehr Touristen nach Košice kämen, überraschte mich ihre verneinende Antwort: Davon habe sie nichts bemerkt.
Aber zurück zu den Minderheiten, die zwar im Programm der KHE repräsentiert waren – meiner Meinung nach nicht genug. Außer den Roma-Straßenmusikern auf der Hlavná / Hauptstraße waren im Programm der KHE nur wenige Auftritte von wirklich herausragenden Roma-Musikern (Geige und andere Streichinstrumente) vorgesehen, mit einer Musik also, die gemeinsam mit dem Czardasz-Tanz wichtigster Bestandteil der typischen Kaschauer Musikkultur ist. Stattdessen kam das Tokyo Metropolitan Symphony Orchestra mit der hervorragenden japanischen Geigerin Sayaka Shoji nach Košice. Das Konzert war sehr gelungen und einer der Höhepunkte der KHE; vorstellbar wäre jedoch auch ein Kaschauer oder slowakischer Roma auf dem Podium, der zusammen mit dem japanischen Orchester und dessen Hauptgeigerin die Partituren von Antonín Dvořák spielt. Das würde außerdem zeigen, dass die Integration der Roma mindestens zum Teil gelungen ist.

Nehmen wir aber alleine die Persönlichkeiten, die im Rahmen der KHE 2013 vorgestellt wurden, so sind diese die wahren Repräsentanten der besonderen Mischung der Kaschauer Nationalitäten bzw. Minderheiten. So ist der auf Ungarisch und Deutsch schreibende Kaschauer Sándor Márai (s. hier Sándor Márai, Fotos und Texte; Spots) mit deutsch-ungarischem Familienbackground und seiner jüdischer Ehefrau Lola, ebenfalls Kaschauerin, das beste Beispiel dafür. Der verstorbene Architekt Ľudovít Oelschläger mit teils deutschen und teils ungarischen Wurzeln, der in Košice mehrmals von Tschechen und Juden engagiert war, erhielt Aufträge sowohl aus ungarischen Städten als auch auch von ukrainischen Juden in Mukačevo, das damals noch Teil der Tschechoslowakei war. Der ruthenische Regisseur Jakubisko (s. hier: Juraj Jakubisko) wiederum dreht Filme auf Tschechisch und ist mit seinen Filmkoproduktionen wie Frau Höhle oder Frankensteins Tante auch in Deutschland bekannt geworden. Und der Ruthene Andy Warhol, der mit seinem Statement „Ich komme von nirgendwo“ berühmt geworden ist, ist ein weiterer, im Rahmen der KHE präsentierter, bedeutender Künstler. Nur wusste in Amerika lange niemand (und viele wissen es bis heute nicht), dass das Nirgendwo-Heimatland seiner Eltern gerade das Gebiet um Košice ist. Ein Teil des KHE-Abschlusszeremonie am 19. Dezember war eine Art modernes Opern-Jazz-Konzert, in dem die ruthenischen Volkslieder, die die Mutter von Andy Warhol Julia Warhola dem Pop-Art-Künstler als Kind auf Ruthenisch vorgesungen hatte, in Form eines Operngesangs präsentiert wurden - ein handfester Beweis des ruthenischen Ursprungs Warhols, weil die Aufnahmen anhand der Originalaufnahmen entstanden sind, die Julia Warhola ihren Verwandten in der Ostslowakei schickte. Die Organisatoren haben auf den international bekannt gewordenen und noch lebenden Bildhauer Gyula Kosice gewartet, der die Kunsthalle mit der Ausstellung seiner kinetischen Skulpturen eröffnen sollte – aus gesundheitlichen Gründen konnte der in Kaschau geborener Künstler jüdischer Herkunft jedoch nicht aus seiner zweiten Heimat Argentinien anreisen und zur Eröffnung kommen. 

Alle diese Menschen haben eines gemeinsam: Sie saugten die Sprachen, die Kulturen, die Mystik, die Musik, die Folklore und den Charme der Stadt oder der Ostslowakei auf, um sie anderswo in Kunst zu verwandeln – sei es in Romanen und Erzählungen, in Pop-Art-Bildern mit Lenin und Kuh-Motiven, in Gebäuden, Skulpturen oder in Märchenfilmen.

Auswandern, um irgendwo anders in der Welt erfolgreich zu sein, ist in Košice und der Ostslowakei Alltag geblieben – der Kaschauer und der Preschauer Kreis gehören zu den Gebieten der Slowakei, aus denen die meisten, vor allem junge, Menschen auswandern. Daran werden leider die weiterlaufenden Projekte der Kunsthalle und des Kasárne Kulturparks nichts ändern. Die Region braucht Arbeitsplätze, die vermutlich aber kaum entstehen werden, wenn die Autobahn Bratislava – Košice in den nächsten zwei Jahren nicht endlich fertig gestellt wird.

 

 

 

Tor zur Hlavná


 

 

           

 

Alžbetina; Theater und Dom; Renovierungsprojekt Orlá; Street Art


Positiv war auch, dass einige Werke Sándor Márais mit der Unterstützung durch KHE-Gelder zum ersten Mal ins Slowakische übersetzt werden konnten. Auch sein Gedenkzimmer im Haus seiner Eltern auf der Mäsiarska-Strasse konnte mit EU-Geldern rekonstruiert werden. Es gab wertvolle Kunstausstellungen wie die Ausstellung Košická moderna / Kaschauer Moderne, in der Werke einiger Künstler zum ersten Mal das Licht einer Ausstellung erblickten. Zu den Künstlern der Kaschauer Moderne gehört auch Eugen Kron, der aus Solidarität mit Kaschauer Juden zunächst freiwillig in einen Transportzug nach Auschwitz stieg und später trotz seines jüdischen Ursprungs das Vernichtungslager als Zeichner bei Mengele überlebte. Seine Grafische Schule in Kaschau hatte in ihrer Zeit Weltniveau und bildete talentierte Grafiker aus.
Der Komponist und Pianist Peter Breiner, ebenfalls jüdischer Herkunft, der zu den Nachwende-Auswanderern gehört, gab in Košice mehrere Konzerte, eins davon im Rahmen des jüdischen Festivals Mazal Tov!. Breiner kommt ursprünglich aus dem ostslowakischen Humenné, heute wohnt und komponiert er in New York. Sehr schön waren im Rahmen des Festivals auch Auftritte von einer slowakischen und einer ungarischen Klezmer Band.
Es gab jede Menge Veranstaltungen, die eines Besuchs und einer Erwähnung wert waren – die literarische Lesungen der slowakischen und ausländischen Autoren oder der Monat der Autorenlesung im Juli, zu dem Autoren wie Pavel Kohout, Irena Brežná oder Robert Menasse eingeladen wurden. Robert Menasse im mehr als fünfhundert Kilometer von Wien entfernten Košice lesen zu hören, war wirklich ein Erlebnis.

Trotz der breiten Auswahl der KHE-Veranstaltungen war das Interesse der Öffentlichkeit nicht an jeder Veranstaltung gleich groß. Es schien, als wäre die Kaschauer Öffentlichkeit nicht über jede Veranstaltung ausreichend informiert gewesen. Manchen Veranstaltungen hätte mehr Interesse vonseiten der Presse nicht geschadet. Allerdings konnten Journalisten beispielsweise beim fabelhaften Konzert der internationalen Tenöre The Tenors nur schwer eine Akkreditierung bekommen, weil es von der Konzertorganisation keine dafür zuständige Person gab.
Ein weiterer Nachteil der KHE war, dass im Rahmen der Projekte und Kulturveranstaltungen nicht immer die besten Künstler gefördert wurden. Moderne Kunst wurde, vor allem im Bereich der Bildenden Kunst und Bildhauerei, der klassischen Kunst vorgezogen. Den künstlerisch arbeitenden Persönlichkeiten aus Košice und dessen Umgebung – vor allem den einheimischen Autoren, die noch leben – wurde nicht ausreichend Platz eingeräumt. Interessant wäre doch, sie beispielsweise bei einer Diskussion zur Zukunft der Kunst in Košice zu erleben oder bei einer Ausstellung ihrer Werke, die sie selbst moderieren und dabei ihren künstlerischen Werdegang beschreiben, auch wie sie die Systemwende erlebt haben, wie sie Košice heute – nach mehr als zwanzig Jahren des Systemwechsels – sehen.
Mit der Vergabe der Projekte, Projektgelder und Aufträge hat sich vor kurzem auch das Staatliche Kontrollamt befasst. Es wurde festgestellt, dass nicht alle Projekt-Kuratoren in einem öffentlichen Auswahlverfahren ausgewählt wurden, bei manchen Auftragsabwicklungen fehlten die Rechnungen, die KHE-Organisatoren nicht vorlegen konnten. Man spricht sogar über mögliche Verflechtungen von Projektmanagern und Politikern der Stadt.

 

           

Kunsthalle 

 

Kunsthalle "Open Air" 

 

Sicht von  der Kunsthalle 

 

Kasárne Kulturpark 

 

Positiv ist sicherlich, dass Košice dank der KHE-Gelder eine neue Kunsthalle bekam, die davor ein städtisches Schwimmbad war, und dass im Kasárne Kulturpark mindestens weitere fünf Jahre lang ein breit gefächertes künstlerisches Programm angeboten werden wird. Die kommunalen Projekte Spots beleben die Kultur in den Plattenbausiedlungen und werden zum Teil auch Sozialarbeit leisten. Das Košicer Theater hat die rekonstruierte Neue Szene bekommen. Ostslowakische Galerie, die Töpfergasse sowie Kaschauer Stadtplätze wurden ebenfalls rekonstruiert. Es gab viele gute Veranstaltungen, Ereignisse und Anstöße, die hier nicht erwähnt werden können. Der Stadt hat meiner Meinung nach sehr geholfen, dass auf sie aufmerksam gemacht und überhaupt von ihr berichtet wurde, vor allem im Westen. Ich denke, dass sich jeder wirklich interessierte, von Osteuropa-Klischees freie Besucher in gewisser Weise in diese Stadt verlieben kann, wie auch ich es getan habe.


© Text und Porträtfoto: Daniela Capcarová; alle anderen Fotos: Katja Schickel


Hier noch ein Film über Košice auf Deutsch für diejenigen, die Košice / Kaschau auch nach der Zeit als Kulturhauptstadt Europas besuchen möchten: http://www.sandormarai.eu/Film


31.Dezember 2013

 

 

 

 

 

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