LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
info@letnapark-prager-kleine-seiten.com

EMPFEHLUNGEN - KURZ & GUT

von Katja Schickel

 

 

 

© Quint Buchholz, Die Fahrt - mit freundlicher Genehmigung des Künstlers

 

 


 

 


Katja Petrowskaja:Vielleicht Esther
285 S., geb., Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
19,95 EUR , ISBN 9783518424049


 

Wer sich auf Spurensuche in die Vergangenheit begibt, befindet sich immer in einem Dilemma: eigene Erinnerungen und die anderer Menschen können täuschen, Überlieferung und Legendenbildung ergeben ein recht einseitiges, oft fehlerhaftes Wissen über Geschichte, gerade da, wo sie auch und vor allem Familiengeschichte ist und dazu noch von Tod und Verschwinden, von Verfolgung, Ermordung oder Flucht gezeichnet ist. Die Autorin weiß das, denn schon der Name der Großmutter (ihres Vaters), also  ihrer Urgroßmutter, ist ihr nicht geläufig; alle nannten sie stets bloß Babuschka, also Oma, eine Bezeichnung, unter der vermutlich oft noch viel mehr verschwindet als nur der Vorname. Der Autorin bleibt also nur Spekulation: „Vielleicht Esther“ könnte sie geheißen haben. Aber was lässt sich mit Gewissheit von Menschen erzählen, über die man nicht einmal das Nötigste weiß. Petrowskaja lässt Leerstellen zu, wo sie nicht weitergekommen ist in der Recherche, sie beschönigt  nicht, sondern assoziiert, lässt vorläufige Erkenntnisse quasi Revue passieren, besucht die Orte, in der ihre Familienmitglieder lebten (und leben), mit einem neuen, forschenden Blick: Kiew, Warschau, Moskau, Mauthausen, Berlin. Traumhafte Sequenzen wechseln mit beinahe nüchternen Ortsbeschreibungen; eigene Beobachtungen verbindet sie vorsichtig (versuchsweise) mit den entsetzlichen Vorkommnissen, von denen sie aus Erzählungen und Geschichtsbüchern weiß, über die sie sich jedoch tatsächlich keine eigene Vorstellung machen kann. Wie erzählt man aber ein Geschehen, das nicht kommunizierbar ist: was die Shoah war und was sie exemplarisch für ihre eigene Familie bedeutet (hat). - Das fröhlich-bunte Treiben auf den Straßen ist ansteckend, macht leicht, unter den Grasnarben des gepflegten Parks, unter dem Pflaster liegt … kein Strand, sondern ein blutiger Abgrund. Ein monströses Massengrab, wie es – in jeweils anderer Art – viele in Europa gibt. Die ihr unbekannte Großmutter blieb 1941 im besetzten Kiew allein in der Wohnung der geflohenen Familie zurück und wurde wie zehntausende anderer Menschen von deutschen Soldaten in Babij Jar ermordet. Die deutsche Wehrmacht richtete gemeinsam mit SS und ukrainischen Hilfsgruppen ein wahres Blutbad an. Welchen Tonfall könnte man wählen, welche bittere Klage erheben? Welcher Sprachgestus kann den eigenen Schmerz beschreiben oder den der Toten kurz bevor sie massakriert wurden? Und wie kann man die Soldaten als Menschen beschreiben, die im Minutentakt und Schichtdienst schossen? Die Autorin zeigt diese Zerrissenheit zwischen Leben und Tod, der Beschreibbarkeit des Unbeschreiblichen. Gewiss ist: die Lust am Leben teilten (und teilen) ihre Familienangehörigen mit ihr. Verlust ist eine andere wichtige Komponente dieser Geschichte, gerade auch der des Geschichtsbewusstseins. Der Drahtseilakt, der hier immer auch ein Seiltanz ist, seltsam leicht und luzide ausgeführt, gelingt Katja Petrowskaja, weil ihr, wie sich in vielen eindringlichen, manchmal fast schwebend-zarten Bildern bewahrheitet, ein „osteuropäisches Netz aus literarischen Sprachen und Bezügen“ (Helmut Böttiger in der ZEIT), zur Verfügung steht. s.auch: Katja Petrowskaja (Vorstellung der Ingeborg Bachmann-Preisträgerin 2013 mit ihrem preisgekrönten Text und Interview) 

 

 

Alexander Kluge, 30. April 1945
Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann.
Mit einem Gastbeitrag von Reinhard Jirgl
316 S., brosch., Suhrkamp Verlag, 24,95 €, ISBN: 978-3-518-42420-9

 

 

 

Der 30. April 1945, ein Montag, letzter ausgeübter Werktag des Deutschen Reiches. Ihm folgen ein Feiertag und der Übergang von Resten einer Staatsgewalt in Hände, die das einwöchige Niemandsland bis zur Kapitulation nicht mehr steuern. Es ist ein Tag voller Widersprüche und verwirrender Lebensgeschichten. In Berlins Mitte toben heftige Gefechte, die Rote Armee nimmt die Stadt in Besitz, Hitler erschießt sich. Scheinbare Idylle dagegen in der Schweiz. In San Francisco formieren sich die Vereinten Nationen. Alexander Kluge beschreibt in seinem Buch lokale und globale Verhältnisse. Es geht um das Leben in einer kleinen, von amerikanischen Streitkräften schon besetzten Stadt, um den Takt der Haarschnitte, aber auch um Ereignisse rund um den Erdball, darunter die Geschichte zweier SS-Männer auf einer Kerguelen-Insel. Die Frage, die sich überall und unwiderruflich stellt: Wie soll man auf den Umsturz der Verhältnisse angemessen reagieren? Martin Heidegger etwa, in der Abgeschiedenheit von Burg Wildenstein, greift auf Hölderlin zurück… Die Erfahrungen aller Lebensgeschichten, die vom 30. April 1945 ausgehen, reichen bis heute; in ihnen spiegelt sich, fast siebzig Jahre danach, schon die Gegenwart.

s.a.: http://www.suhrkamp.de/mediathek/alexander_kluge_alles_fliesst_panta_rhei_783.html

 

Judith Schalansky (Hg.)
Die verlorenen Welten des Zdeněk Burian
Mit einem Essay von Clemens J. Setz
288 S., ca. 280 farbige Bilder, Folio-Format, geb.,

Matthes & Seitz Verlag Berlin, 2013
ISBN: 978-3-88221-081-1, € 68,00



 

Zdeněk Burian hat mit seinen visuellen Rekonstruktionen archäologischer Forschung unser Bild von prähistorischen Zeiten nachhaltig geprägt hat: Alle Arten von Sauriern, Neandertaler oder Mammut – in seinen Bildern verbindet sich wissenschaftliche Erkenntnis mit künstlerischer Gestaltung und schafft die lebendige, oft phantastisch anmutende Illusion einer versunkenen Welt (und in Filmen wie Godzilla und Jurassic Park umgesetzt). Der Band von Zdeněk Burian wird so ikonografischer Führer durch eine Welt, die Millionen Jahre zurückliegt, ausgestorbene Tiere noch einmal zum Leben erweckt und gleichzeitig auf die Zeit ihres Entstehens, die 1950er und 1960er Jahre, verweist. So wird nicht nur an die Anfänge irdischen Lebens erinnert, sondern auch seine Gegenwart, die Welt des Kalten Krieges in Erwartung der Apokalypse, thematisiert.  

 

Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg

Gebunden, 1008 S., geb., Reclam Verlag, Stuttgart 2014

29,95 EUR, ISBN 9783150109694




Neuübersetzung, Kommentar und Nachwort von Antonín Brousek. Mit dem Essay Zum Švejk: Eine Pilgerreise böhmischer Art von Jaroslav Rudiš. - Ins Deutsche übersetzt wurde der Text bisher erst einmal: von Grete Reiner, die in den 1920er Jahren mit ihrem 'Böhmakeln' gleich eine eigene Sprachform für Švejk schuf. Doch Švejk spricht im Original sauberes Umgangs-Tschechisch, eine Sprache, die sich keineswegs durch grammatikalische Unkorrektheiten auszeichnet. Es war also durchaus an der Zeit, eine neue Übersetzung vorzulegen, die auf diese heute zu komödiantisch wirkenden, k.u.k.-tümelnden Elemente verzichtet und dem Roman so seine Modernität wiedergibt. Auf diese Weise entschlackt, erweist sich dieser große Roman hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges als erschreckend zeitgemäß in seiner Aufdeckung von Behördenwillkür, Selbstüberheblichkeit der Militärs, Obrigkeitshörigkeit und Dummheit.  

 

Ilija Trojanow (Text), Anja Bohnhof (Fotos) – Die Stadt der Bücher
128 S., 60 Farbfotos, geb., Verlag LangenMüller 2012.
14,99 Euro, ISBN: 978-3-7844-3293-9



 

Ein Labyrinth aus bedrucktem Papier; von den Bürgersteigen zu den Durchgängen, von Türen über Treppen bis hinauf zu vollgestopften Dachgeschossen stapeln sich Bücher zu Fassaden, Ecken und Erkern


Die Fotografin Anja Bohnhof: Unbeeindruckt von den Verkündigungen, die das Ende der Ära des gedruckten Buches im digitalen Zeitalter in schon naher Zukunft als Gewissheit betrachten, stapelt sich das Druckwerk im Universitätsviertel in Kolkata (Kalkutta) zu Millionen und wird täglich von vielen ortsansässigen großen und kleinen Verlagshäusern neu produziert und auf den Markt gebracht. Es heißt, im Viertel rund um die College Street bekäme man jedes gewünschte Buch: Über 10.000 Buchläden offerieren ein Angebot neuer und gebrauchter Ware, die von den Schriften Karl Marxs über islamische Prosa bis hin zu aktuellen Lehrbüchern reicht. […] Die Metropole ist der drittgrößte Softwareexporteur Indiens, daher also maßgeblich beteiligt an den Entwicklungen, die zu weltweiten Digitalisierungsprozessen in immer mehr Lebensbereichen beitragen und dauerhaft wohl auch die Existenz des Buches in seiner materiellen Form mindestens in Frage stellen werden.[…] Innerhalb einer über viele Jahrzehnte von materieller Armut geprägten westbengalischen Bevölkerung hat das Materielle einen grundsätzlich anderen Wert, als in Wohlstandsgesellschaften […] Dieser Respekt offenbart sich insbesondere, wenn man die oft improvisiert anmutenden Verkaufsstände an den Straßenrändern in den Blick nimmt, architektonische Gebilde aus Büchern, die jedem Buch der Welt einen Platz zu geben scheinen.[…] Kontrastiert werden diese detailgenauen und menschenleeren Ansichten durch Aufnahmen von belebten Straßenszenerien aus dem Alltag der College Street und ihren Seitenstraßen: Einem Ort in Kolkata, dessen Erhabenheit sich auf Wissen und Respekt gegenüber dem Kulturgut Buch in jedem noch so schlicht wirkenden Bücherstand auszudrücken vermag. 

 

Majdan! – Ukraine Europa
edition.fotoTAPETA__Flugschrift
160 S., brosch., € 9,90
ISBN 978-3-940524-28-7 

 

 

 

Allein in einer Nacht im Februar am Majdan sind es mindestens fünfundzwanzig Menschen, die bei den Zusammenstößen ums Leben kommen, seit Beginn der Proteste in der Ukraine sterben mehr als achtzig Menschen, über Tausend werden verletzt. Erst die vielen Opfer – so die brutale Logik dieses Aufstands – brachten das Machtsystem des Wiktor Janukowytsch zum Einsturz. Mit den Schüssen vom Majdan besiegelte das Regime sein eigenes Ende. - In diesem Buch kommen vor allem Stimmen aus der Ukraine selbst zu Wort, Schriftstellerinnen, Dichter, Intellektuelle. Aber auch Autoren aus anderen Ländern beschreiben den historischen Prozess. Das Buch wird zur Momentaufnahme eines Aufstands. Die Zeit, um die es geht ist: jetzt. Mit dem Buch betreiben wir Geschichtsschreibung des Augenblicks. - Texte von Anastasija Afanasjewa, Juri Andruchowytsch, Yevgenia Belorusets, Elmar Brok, Roman Dubasevych, Kai Ehlers, Orlando Figes, Jörg Forbrig, Timothy Garton Ash, Rebecca Harms, Yaroslaw Hrytsak, Tamara Hundorowa, Olexandr Irwanez, Halyna Kruk, Wolodymyr Kulyk, Andrij Ljubka, Maria Matios, Adam Michnik, Switlana Oleschko, Martin Pollack, Andrij Portnov, Taras Prochasko, Roman Rak, Mykola Rjabtschuk, Konrad Schuller, Ostap Slyvynsky, Natalka Sniadanko, Timothy Snyder, Olexandr Stukalo, Natalia Yeryomenko, Serhij Zhadan.

                                          


Saša Stanišic: Vor dem Fest

320 S., geb., Luchterhand Literaturverlag, 2014

19,90 Euro, ISBN: 978-3-630-87243-8

 

 

10. Preis der Leipziger Buchmesse - Belletristik
Saša Stanišic hat ein Dorf erfunden, das es ganz gewiss gibt. Nur vielleicht nicht so menschenfreundlich, so unverdrossen. Er macht die Räume eng und die Zeit, erzählt von einer einzigen Nacht, der Nacht vor dem Annenfest, in der sich unwahrscheinlich viel ereignet und manches entscheidet. Zugleich jedoch stößt er die Tür zur Vergangenheit auf, heißt es in der Jury-Begründung, und weiter: Vor dem Fest unternimmt eine Probebohrung in die Tiefe deutscher Geschichte als Mythologie; ein Unternehmen allerdings, das den gegenwärtigen Kult weihevollen Gedenkens subtil verspottet: Die alten Schriften, Chronikberichte, Legenden und haarsträubenden Anekdoten à la Kleist, die im „Haus der Heimat“ von einer gemütskranken Kustodin verwahrt werden, sind von höchst zweifelhafter Herkunft... – Saša Stanišic, *1978 im Osten Bosniens, kam als Vierzehnjähriger nach Deutschland. Er studierte in Heidelberg und am deutschen Literaturinstitut Leipzig. Der Autor, Blogger und Kolumnist erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, unter anderem den Kelag-Publikumspreis des Bachmann-Wettbewerbs. Sein Debütroman Wie der Soldat das Grammofon repariert stand 2006 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. (s. hier auch: Spots 2014)

  

Jonathan Lethem: Der Garten der Dissidenten. Roman
Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach (Original: Dissident Gardens)
476 S., geb., Tropen bei Klett-Cotta, Stuttgart 2014
24,95 €, ISBN: 978-3-608-50116-2

 




Lethems neuester Roman ist der zweite autobiografisch gefärbte nach der Festung der Einsamkeit. Angelehnt an die Geschichte seiner kommunistischen Großeltern mit europäisch-jüdischem Hintergrund wird vom Ende der Utopien und dem dennoch anhaltenden Willen, die Welt zu verändern, erzählt. Anhand einer Familie von Dissidenten in Queens fächert sich die Geschichte der Immigration von europäischen Idealen und Ideen nach Amerika auf, ihre Verwandlungen und Verschiebungen und beschreibt, welchen Preis jede/r persönlich zahlen muss, vor allem wenn die eigenen politische Ambitionen gescheitert sind. Im Mittelpunkt aber steht die New Yorker Kommunistin Rose, die aus der Partei ausgeschlossen wird, ausgerechnet weil sie eine Affäre mit einem schwarzen Polizisten hat. Perlentaucher.de listet die wichtigsten deutschsprachigen Kritiken auf: Zeit-Rezensent Andreas Schäfer sieht in der sog. Ofen-Szene alle Fragen zu Kommunismus und Familie auf den Punkt gebracht, wenn nämlich Rose erst den eigenen Kopf in den Ofen steckt, dann den ihrer Tochter. Doris Akrap zeigt sich in der taz ganz hingerissen von den „brutal lebendigen“ Figuren des Romans. In der FR/Berliner Zeitung sieht Balzer den Beweis erbracht, dass eine Gesellschaft erst dann frei ist, wenn sie ihre Menschen auch glücklich macht. Klug, schön und subtil findet auch Jörg Häntzschel (SZ) das Ganze erzählt: „Identität, das ist hier kein postmodernes Spielchen, sondern ein Lebensproblem.“ In der Welt gibt es ein großes Interview mit Lethem. (Leseprobe beim Verlag)

  

Marie Jalowicz Simon – Untergetaucht
Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940 – 1945
Bearbeitet von Irene Stratenwerth und Hermann Simon.
414 S. Hardcover, S. Fischer Verlag 2014, 22,99 €, ISBN: 978-3-10-036721-1
19,99 €, E-Book, ISBN: 978-3-10-402897-2

 

 

 

 


Berlin 1942: Aus Angst vor der bevorstehenden Verhaftung durch die Gestapo entscheidet sich die junge Marie Jalowicz unterzutauchen. Auf über siebenundsiebzig Tonbändern erzählt sie
vor ihrem Tod erstmals vollständige die Geschichte, wie sie im nationalsozialistischen Berlin überlebte: Sie braucht Hilfe von anderen Menschen, die sie meist nicht kennt, falsche Papiere und sichere Verstecke. Durch eine Scheinheirat mit einem Chinesen etwa versucht sie zu entkommen oder über Bulgarien nach Palästina zu fliehen, findet Unterschlupf im Artistenmilieu und lebt mit einem holländischen Fremdarbeiter zusammen. Es sind ihr ungewöhnlicher Mut und ihre Schlagfertigkeit, die sie immer wieder retten. Eins ihrer Résumés lautet: „Das feine Hochdeutsch hatte sich nicht bewährt, es war vor allem das deutsche Bildungsbürgertum, das versagt hat.“ Mit einem Nachwort ihres Sohnes, Hermann Simon, dem Historiker und Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum.

 

Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent – Europa 1900-1914
528 S., geb., mit 86 s/w-Abbildungen, 8 Seiten farbigem Bildteil
Hanser Verlag, ISBN 978-3-446-23292-1, 25,90 €

 



Zeit des Aufbruchs: „Alles, was im 20. Jahrhundert wichtig werden sollte, das entfaltete zwischen 1900 und 1914 erstmals seine Massenwirkung oder wurde sogar dann erfunden“, schreibt der Historiker Philipp Blom. „In den ersten fünfzehn Jahren des 20. Jahrhunderts wurde vorgebildet, was das 20. Jahrhundert insgesamt ausmachte.“ Die Physik entdeckte das Geheimnis der Atome, nicht einmal die Materie war fest und statisch. Freud schrieb Die Traumdeutung und erforschte die menschliche Seele, Frauen forderten Wahlrecht, Zugang zu den Universitäten und gleiche Bezahlung. Die europäische Aristokratie hatte abgewirtschaftet. Die wesentlichen Charakteristika der Moderne: eine nie gekannte Beschleunigung in allen Bereichen, die Verunsicherung der Menschen mit sich brachte, zwischen traditionellem Leben auf dem Land und dem Drang in die Städte entstehende Gefühle von Unbehaustheit, transzendentaler Obdachlosigkeit und Entfremdung (viele blieben auch real auf der Strecke), organisierter (oft blutig niedergeschlagener) Widerstand. In dieser Zeit begann auch der Siegeszug der Technik, der Maschine – und die Defensivstrategien, mit denen viele Menschen, vor allem Intellektuelle und Künstler, auf die sich so rasant verändernde Welt reagierten. Neue Ideologien entstanden, Niedergangs-Diskurse, Antisemitismus, Sexismus, spirituelle Erneuerungen, Radikalisierung und Formzertrümmerung in den Künsten: All das waren Reaktionen auf die Modernisierung aller Lebens- und Arbeitsbereiche, den beginnenden Siegeszug des entwickelten Industrie-, Finanz- und Spekulations-Kapitalismus. 


Das neue Buch von: Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki. Aus d. Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont, Köln 2014., 350 S., 22,99 Euro, in dem dieses Stück eine wichtige Rolle spielt.   

 

Georg Büchner: Werke und Briefe.
Hrsg.: Arnd Beise, Tilman Fischer, Gerald Funk; Illustr. von Benjamin Kniebe.
240 S., geb., Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2013.
39,90 EUR, ISBN-13: 9783650255426

 



Als Georg Büchner am 19. Februar 1837 dreiundzwanzig-jährig in Zürich starb, hinterließ er ein Werk, das sowohl in der Dramatik wie in der Prosa weltliterarische Maßstäbe setzte, die bis heute gültig sind. Dieses facettenreiche, seit dem Beginn des Naturalismus jede junge Generation von neuem aufwühlende und inspirierende Œuvre ist von ungebrochener Aktualität und entstand in nur drei Jahren eines kurzen Lebens. Drei Jahre, die zudem erfüllt waren von konspirativer revolutionärer Tätigkeit für die Umwandlung Deutschlands in eine Republik und für die Einführung ökonomischer Gerechtigkeit, von der Flucht nach Straßburg und Zürich sowie von den Existenznöten eines polizeilich nur „geduldeten“ Emigranten.

Die vorliegende Werkausgabe enthält sämtliche auch heute noch relevanten Texte Büchners (Der Hessische Landbote, Danton’s Tod, Leonce und Lena, Woyzeck, Lenz sowie die nicht minder bedeutsamen Briefe des Autors in den Fassungen der Erstdrucke bzw. der Historisch-kritischen Marburger Ausgabe. Die Texte wurden für diese Ausgabe teilweise neu konstituiert und im Falle von Woyzeck um einige Neulesungen erweitert. Ergänzt werden sie durch eine Einleitung, die das Werk in seine literaturhistorischen Zusammenhänge stellt, sowie durch editorische Notizen zu Entstehung, Überlieferung und Quellenbezügen. Erarbeitet wurde die Ausgabe von anerkannten Büchner-Forschern und -Editoren aus Marburg und Fribourg.


Karl Schlögel – Grenzland Europa
Unterwegs auf einem neuen Kontinent
352 S., geb., Hanser Verlag München, 2013
21,90 € (D) / UVP 29,90 sFR (CH) / 22,60 € (A), ISBN 978-3-446-24404-7



Karl Schlögel ist als Chronist der osteuropäischen Länder und ihrer Rückkehr nach Europa berühmt geworden. Nach Jahrzehnten der Teilung hat sich der Kontinent neu formiert: Alte Zentren in Osteuropa sind wieder zum Leben erwacht. In Bussen oder Billigfliegern bewegen sich die Europäer über viel befahrene Routen frei über alle Landesgrenzen hinweg, tauschen Waren aus und Wissen. Gleichzeitig müssen sie traumatische Ereignisse wie die Finanz- und Schuldenkrise nun gemeinsam durchleben. Schlögel befasst sich in seinen Reden und Essays aus den letzten fünfzehn Jahren mit dem Zusammenbruch des sog. Ostens plus seiner anschließenden Abwicklung, sieht eine kurzfristige Stärkung des Westens, auf den allerdings noch ungeahnte Belastungen zukommen werden, während der Osten, wie Schlögel nicht müde wird zu betonen, längst eine „erstaunliche Chaos- und Krisenbewältigungs-Kompetenz“ bewiesen hat, von der zu lernen wäre. Neue, andere Grenzen sind entstanden, vor allem die zwischen Arm und Reich, nicht nur von Land zu Land, was zu immer neuen Fluktuationen und Wanderungsbewegungen führt, sondern auch innerhalb der Länder selbst. Die soziale Frage stellt sich deutlicher in Ländern, die im Laufe ihrer Entwicklung weniger strukturierte Gesellschaften herausbilden konnten, etwa in Russland, das keine stabile Mittelschicht hat und die Gegensätze umso krasser zutage treten lässt. Schlägels Studien sind zeitgenössische Bestandsaufnahmen, aber als Historiker weiß er sich auch in der Geschichte zu bewegen und erläutert viele der heutigen Probleme aus und mit ihr, aus Versäumnissen, aber auch aus nationalen und kulturellen Besonderheiten, denen man (endlich) Beachtung schenken muss. Darüber hinaus ist er ein exzellenter Beobachter und erzählt pointiert von all den unbekannten Menschen, „ohne die dieses neue Europa nicht zustande gekommen wäre."

Leseprobe: http://files.hanser.de/hanser/docs/20130904_21394115252-68_978-3-446-24404-7.pdf (s. hier auch: Karl SchlögelReise nach Brünn

s. 03III14: Rezension von Martin Munke: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=18838 

 

Krähen – Ein Porträt
Cord Riechelmann, Judith Schalansky (Hg.)
155 S., geb., mit Abb., Matthes & Seitz Verlag Berlin 2013
18,00 €; ISBN: 978-3-88221-048-4

 

 


Die Bezeichnung Krähe ahmt lautmalerisch (zumindest in fast allen indogermanischen Sprachen) ihre typischen Lautäußerungen nach. Die Familie der Raben und Krähenvögel (u.a. Elstern, Dohlen, Häher, Kolkraben), wissenschaftlich Corvidae, umfasst insgesamt hundertdreiundzwanzig Arten, engste Verwandte sind die Paradiesvögel. In der Reihe Naturkunden, herausgegeben von Judith Schalansky, erschienen beispielsweise Bücher über die Unermesslichkeit der Welt, die Berge Kaliforniens, Esel und Äpfel und Birnen; der Biologe Cord Riechelmann gibt in Krähen einen interessanten Überblick über Herkunft, Entwicklung und Verbreitung der klugen Vögel, erläutert ihre namentliche Vielfalt und stellt exemplarisch zwanzig von ihnen vor. Der Band ist sinnfällig dunkelgrau eingebunden und mit tiefschwarzem Kopfschnitt und gelbem Kapitalbändchen versehen. Der schwarz aufgeprägte Vogel und die Abbildungen und Zeichnungen im Buch machen neugierig, obwohl man die Vögel doch eigentlich zu kennen glaubt. Wie wenige Tiere scheinen sie menschliche Nähe geradewegs zu suchen und auszuhalten; der Autor sieht es so: „Die Kulturgeschichte des Menschen vollzieht sich unter der Beobachtung der Krähen.“ Das war dem jedoch offensichtlich so unangenehm und unheimlich, dass alle Mythen rund um den schwarzen (oder grauen) Vogel von Übel und Tod handeln. Wegen ihrer offensichtlichen Intelligenz galten sie schon in der Antike als Boten von Wissen und Weisheit (über das Leben und den Tod), aber erst mit der Christianisierung tritt das Dunkle, Bedrohliche und Böse in den Vordergrund. Riechelmann kennt sich aus und erzählt abwechslungsreich über die Bedeutung der Farbe Schwarz, über Galgenvögel und diebische Elstern etwa. Es gibt Kapitel über Konrad Lorenz und die rassistische Nazi-Terminologie, über Hitchcock, Edgar Allan Poe und Marcel Beyers Kaltenburg, über Malerei (Caspar David Friedrichs Rabenbaum und Vincent van Goghs Weizenfeld mit Raben). Der in Berlin lebende Autor geht ganz real auf Spurensuche, wird zunächst bei den Nebelkrähen vom Kreuzberg (im Victoria-Park) fündig, die gegen einen Fuchs kämpfen müssen, und folgt dann den Saatkrähen, die zu Tausenden in der Stadt überwintern und den russischen Sommer zwischen Petersburg und Moskau verbringen. Jetzt sind sie wieder scharenweise zurück und wir nach der kurzweiligen Lektüre um einiges schlauer. 


Das richtige Buch zur Jahreszeit – Wirtschaftskrise, einsame Insel, raues Klima, desolate Zustände, kein Entkommen: „Es war eine Sache", konstatiert Edith bei der Lektüre von Emily Brontës Sturmhöhe bitter, „in einer Wohnung in San Francisco auf dem Sofa zu sitzen und sich die Szenerie eines Buches vorzustellen, aber eine ganz andere, sie bei jedem Blick durchs Fenster vor sich zu sehen...“

T.C. Boyle, San Miguel, Übersetzung aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren; 448 S., geb., Hanser Verlag; 22,90 €, ISBN 978-3-446-24323-1

 

Konrad Heiden, Eine Nacht im November 1938
Ein zeitgenössischer Bericht
Herausgegeben von Markus Roth, Sascha Feuchert und Christiane Weber
192 S., 4 Abb., geb., Wallstein Verlag, 2013, € 19,90 

ISBN: 978-3-8353-1349-1


Der Bericht, der 1939 in England unter dem Titel The New Inquisition erschien und nun erstmals auf Deutsch publiziert wird, ist einer der frühesten Versuche einer Darstellung des "Zivilisationsbruchs" Reichspogromnacht. Seine Aufzeichnungen begann der Journalist und Publizist Konrad Heiden bereits wenige Wochen nach dem 9. November 1938. Mit Hilfe zahlreicher Berichte von jüdischen Augenzeugen und gestützt auf Zeitungsartikel der NS-Propaganda und der freien Welt schildert er ausführlich und packend, scharfsinnig und bissig, die Vorgeschichte und die mörderischen Ereignisse jener Nacht im November 1938. Schon für die Zeitgenossen stellte sie einen entscheidenden Wendepunkt in der Verfolgung der Juden dar. Heute, im Rückblick, gilt sie als eine wichtige Etappe der Radikalisierung, an deren Ende der systematische Massenmord an den europäischen Juden stand.
Wissenswertes zum Autor. Der Journalist und Publizist Konrad Heiden (1901-1966) gehört in den 1930er, 1940er Jahren zu den erfolgreichsten publizistischen Gegnern des NS: Seine Bücher über die Geschichte des Nationalsozialismus, die Anfänge der NS-Diktatur, über Adolf Hitler und über die Reichskristallnacht werden mehrfach aufgelegt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Den Aufstieg der NSDAP in München beobachtet er fast von Beginn an. Bereits während des Studiums engagiert er sich für die junge Demokratie und bekämpft die
republikfeindlichen Kräfte. Als Journalist für die Frankfurter Zeitung und für die Vossische Zeitung setzt er den Kampf gewissermaßen mit der Feder fort. Auch während seines Exils, das mit dem Machtantritt Hitlers beginnt, schreibt er gegen das Regime an, zunächst im Saargebiet, später im Pariser Exil, wo er für die Pariser Tageszeitung und Das Neue Tage-Buch arbeitet. Zugleich setzt er sich für die Verleihung des Friedensnobelpreises an Carl von Ossietzky ein und setzt sich für eine Bündelung der Exil-Kräfte im Kampf gegen das NS-Regime ein. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wird Heiden von den französischen Behörden interniert, nach dem Überfall auf Frankreich aber freigelassen. Mithilfe seines Züricher Verlegers Emil Oprecht und des International Rescue Committees gelingt ihm die Flucht über Portugal in die USA, wo er seine Arbeit gegen Hitler und die Nationalsozialisten wieder aufnimmt. Hier veröffentlicht er 1944 das englischsprachige Buch Der Fuehrer. Hitler’s Rise to Power, das innerhalb kürzester Zeit zu einem Bestseller wird und Heiden in den USA schlagartig bekannt macht. Nach dem Krieg arbeitet er vor allem für den deutschen Rundfunk, dem er wöchentlich Berichte über das politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben in den USA liefert, weitere Buchprojekte bleiben unvollendet. 1966 stirbt Heiden nach längerer Krankheit in New York. Buchprojekt: Auf Grundlage des Nachlasses von Heiden sowie Briefen und Dokumenten aus zahlreichen in- und ausländischen Archiven soll die Biographie eines streitbaren deutschen Intellektuellen und wichtigen Journalisten im 20. Jahrhundert erzählt werden. s.a.
www.holocaustliteratur.de


Ralph Dutli, Soutines letzte Fahrt
272 S., geb., Wallstein Verlag, 2013
€ 19,90 (D) | € 20,50 (A) | SFr 27,90
ISBN: 978-3-8353-1208-1

 





Kann man Malerei in Sprache verwandeln ohne über das Malen selbst zu sprechen? Ralph Dutli gelingt dieser Zauber, weil er das Werk Chaim Soutines (1893 in Smilavichy, Weißrussland – 1943 Paris) genau kennt und es für uns in Sprache übersetzt; weil er sich hinein wagt in dessen Geschichte, in die Kindheit einer bedrückenden Armut und den Wunsch eines Menschen, der unbedingt – trotz des elterlichen, religiös motivierten Verbots – Maler werden will und immer auch darunter leiden und Schuld empfinden wird, als er endlich schafft, Malerei zu studieren und mit ihr (nicht unbedingt von ihr!) zu leben; der im Exil seines Sehnsuchtsortes Paris strandet und sich dort zwischen Chagall, Picasso und Modigliano und all den anderen Malern zu behaupten sucht. Dutlis Sprachstil ist pastos und filigran zugleich, es geht schließlich um Leben und Tod, um Höhen und Tiefen, Ekstase und ein Werk, das dem körperlichen und seelischen Schmerz abgerungen ist. Dennoch vermischt Dutli nicht Realität mit Fiktion, obwohl er beides benutzt. Er trägt Bruchstücke eines Lebens zusammen, dass in Bildern beglaubigt, aber nie ganz zu fassen ist. Befremdung bleibt und Faszination, das ist das Schöne und Beeindruckende. Dutli begleitet Soutine auf dessen letzter Reise nach Paris, denn Soutine muss unbedingt operiert werden, darf als „entarteter“ Künstler und Jude jedoch weder ins von den Nazis besetzte Paris noch vorher von ihnen erwischt werden. Im Morphium-Delir phantasiert der Künstler sein Leben, erinnert an die Frauen, die es mit ihm ausgehalten haben, die schwierigen Beziehungen zu seinen Künstler-Kollegen und zum Pariser Kunstmarkt jener Zeit. Aus der Erzählung eines individuellen, immer bedrohten Lebensschicksals wird ein Epochengemälde und eine wunderbare Hommage an den Künstler Chaim Soutine. - Der Roman stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2013.   

 

Helene Hegemann, Jage zwei Tiger
320 S., geb., Hanser Berlin, 2013. 19,90 € 
ISBN 978-3-446-24367-5

 

 

 

 

 




Das obszöne Spiel mit dem Scheitern

Nach dem – zum größten Teil geklauten – Text ihres Debüts hat Helene Hegemann nun ihren zweiten Roman vorgelegt, und die Feuilletonisten sind hellauf begeistert von dem Aufgebot an wohlstandsverwahrlosten Kids und hochpreisig gestylten Eltern (als wären nicht eigentlich auch sie gemeint). Gutes Beispiel: Die 08/15-Einrichtung, das durchschaubare Schöner Wohnen für Reiche, Neureiche und Kretins, ihr allenthalben lancierter Guter Geschmack, nicht bei IKEA „geholt“, sondern natürlich von Stilwerk etc. gebracht. Es „war eingerichtet nach den plausibelsten Standards einer mit Raffinesse gekoppelten großbürgerlichen Schlichtheit, also keine prollige Grandezza, keine Angeberei, nur subtile, gut angeordnete Elemente verschiedener Epochen, die aufs Genaueste den hohen Grad an Wissen, Stilbewusstsein und Interesse am Nicht-Materiellen widerzuspiegeln hatten, den die Besitzer trotz ihres selbst erarbeiteten Reichtums aufrechtzuerhalten wussten […] es war perfekt, es arbeitete sich ’sympathisch‘ und ’bescheiden‘ an allen existenten Codes zeitgenössischer Inneneinrichtungsmagazine ab, es war tot.“ Man ahnt, was die Autorin gemeint haben könnte, dennoch bleibt der ganze Text so nichtssagend wie diese Aneinanderreihung von Schlagworten, eine Abfolge hingerotzter Erkenntnisse, beliebig austauschbarer Ansagen. Man will sich nicht weh tun. Es ist schließlich die Beschreibung des eigenen Habitats und das ihrer Freunde und Freundinnen. Hegemann weiß, was sie an der Kultur-Schickeria hat, in der sie verkehrt. Die mag ein bisschen Revoluzzertum, fühlt sich - ganz selbstgefällig - unangepasst und hält das Übertreten von gesellschaftlichen Regeln durchaus für standesgemäß. Sie sind doch die Guten, die Vorreiter, die eigentlichen Leistungsträger. Wer hätte ihnen denn schon etwas zu sagen oder vorzuschreiben? Wer könnte ihnen Paroli bieten, sie maßregeln, sie gar verantwortlich machen? Andere gesellschaftliche Instanzen? Der eigene Nachwuchs etwa? Gewiss nicht. Nein, der weiß nur: „Geld allein macht auch nicht unglücklich.“ Solange man es hat, kann man hin und wieder frivol nach einer Prise Unglück suchen, um das eigene Leben ein bisschen aufzupeppen, damit anders, weniger eintönig zu machen als das des Gegenübers. Leider sind die verkorksten Lebenseinstellungen der Protagonisten (im wesentlichen drei Kinder / Jugendliche, mehrere konturlose Erwachsene, zusammengehalten nur von schicken, sehr teuren Klamotten, einigen für sie lebenswichtigen Accessoires und den immer gleichen Sprechblasen) kein großes, bewegendes Lesevergnügen. Man liest die Larmoyanz hinter dem schroffen, schnoddrigen Tonfall, ein selbst nicht ernst gemeintes Jammern auf hohem Niveau, und ist verstimmt. Hegemann bedient die Jargons (Jugend-Slang und Erwachsenen-Sprech), sie lebt schließlich mit und in ihnen, damit kennt sie sich aus (man selbst hört dieses altkluge, wichtigtuerische Gerede gelegentlich in den einschlägigen Clubs, bei jeder Vernissage oder Premierenfeier, auf den angesagten Partys, ihrem Terrain also). Man liebt es laut, schrill und grell. Die Verschriftlichung der unsäglichen, immer gleichen Sprachhülsen führt nur ins Leere (die sie ja auch vertuschen sollen), weil Hegemann sie selbstverliebt nur ständig wiederholt, anstatt ihre maskierten Inhalte ernst zu nehmen, die Verrohung, das Elend, die Einsamkeit möglicherweise. Nein, diese Autorin will wirklich keinem wehtun. Fahrig und als liefe sie vor ihrem eigenen Text davon, liest sie auch aus ihrem Buch. Erwachsene LeserInnen finden sich vermutlich auf diesen Seiten ebenso wenig wieder wie irgendwelche Jugendliche. Deren Selbstverständnis wird (erstaunlicherweise) überhaupt nicht tangiert, alle glauben, gemeint seien immer nur „die Anderen“. Mehr Konsens-Gesellschaft geht nicht. „Wenn Du schon scheitern musst, scheitere glanzvoll“, heißt es bei der Gruppe Laibach, die auch den Titel „Jage zwei Tiger“ (statt bloß zwei armselige, popelige Hasen) geliefert hat. Für Helene Hegemann ist dem obszönen, weil verlogenen Spiel mit dem Scheitern der Glanz jetzt schon gewiss. Sie ist schließlich eine der Besten („abgefucktesten“) ihrer Klasse, die kreative Tochter aus gutem, d.h. reichem Haus. Ein Buch mit skandalisiertem Vorlauf als Geldvermehrungsmaschine: Auch die Jagd auf Tiger war immer schon ein lohnendes Geschäft; blöd nur, dass es bald keine mehr gibt, aber gut für Helene Hegemann, dass sie offensichtlich noch zwei Exemplare niederstrecken konnte. ks-12IX13


Auswahl von Graphic Novels:

Atak, Der Garten, 32 S., Antje Kunstmann Verlag: www.fcatac.de

Jim Avignon /Guy de Maupassant, Stark wie der Tod, 260 S.,Edition Büchergilde: www.jimavignon.com

Nadia Budde, Such dir was aus, aber beeil dich!, 192 S., Fischer Verlag: www.nadiabudde.de

Flix, Don Quijote, 136 S., Carlsen: www.der-flix.de

Katia Fouquet, s. Empfehlung unten, :www.katiafouquet.com

Olaf Hajek, Black Antoinette, 152 S., Gestaltenverlag: www.olafhajek.com

Jakob Hinrichs, Traumnovelle, 158 S., Edition Büchergilde: www.jakobhinrichs.com

Ulli Lust, Flughunde, 364 S., Suhrkamp Verlag: www.ullilust.de

Christoph Niemann, Petting Zoo, Interaktive Spiele-App für iPhone, iPad, Android: www.christophniemann.com

OL, Die Mütter vom Kollwitzplatz, 112 S., Lappan Verlag:www.ol-cartoon.de (© Cosmoprolet)

Henning Wangenbreth, Der Pirat und der Apotheker, 40 S., Peter Hammer Verlag;

Plastic Dog, 24 S., Metrolit Verlag: www.wagenbreth.de

Ziska, Die Comics. Alle! (mit Seyfried), 699 S., Zweitausendeins: www.ziska.tv

 

Albert Camus – Jonas oder der Künstler bei der Arbeit.

Eine Graphic Novel von Katia Fouquet. 

160 S., farbig, Hardcover, 24,95 Euro. ISBN 978-3-86406-025-0

Edition Büchergilde, Frankfurt/M., Wien, Zürich 2013. 




Entnommen ist der Originaltext Jonas oder der Künstler bei der Arbeit dem Novellen-Band Das Exil und das Reich und ebenfalls abgedruckt. In scheinbar leichtem Tonfall erzählt Camus vom Schicksal des Malers Gilbert Jonas. Was zunächst wie eine Erfolgsgeschichte beginnt, endet am Schluss als Drama. Camus mokiert sich voller Ironie und beißendem Spott über die Oberflächlichkeit des Kunst- und Kulturbetriebs, die selbstgefälligen Protagonisten darin, die nur Neid und Häme übrig haben, wenn einer erfolgreich wird, beschreibt die Schwierigkeit, künstlerisches Schaffen und Familienleben zu vereinbaren, zeigt Abhängigkeit und Vergänglichkeit von Ruhm und Erfolg eines Künstlers, der mit dem gesellschaftlichen Aufstieg auch in eine Schaffenskrise gerät. Am Schluss entpuppt sich das Bild, an dem Jonas tagelang ohne Unterbrechung gearbeitet hat, als weiße Leinwand. Nur wer ganz nahe herantritt, kann die winzige Schrift entziffern und wird doch im Unklaren gelassen: ein einziges Wort steht da, es kann solitaire heißen oder solidaire – einsam oder gemeinsam. 

Katia Fouquet erweckt den Text mit kräftiger Farbgebung zum Leben, spielt mit den Stilen, bedient sich der Kunstgeschichte: Mondrians Formen und Farben, Munch, Lichtenstein, Picasso, sie kennt die Kunst und die Szene. In schnellen Bildfolgen zeigt sie zunächst vor allem den Spaß an der Kunst, auch ihrer eigenen, der Illustration, die jede für sich durchkomponiert ist, oft in der Abfolge der Einzelbilder, im Schnitt oder der Montage sehr filmisch wird, manchmal auch an ein Skizzenbuch erinnert, ein Lifestyle-Magazin, einen Kunst-Katalog. Da ist eine eigenständige Künstlerin am Werk, die interessiert ist an der Essenz eines Textes, sich aber die Freiheit nimmt, aus heutiger, aus ihrer Sicht, auf ein Künstlerleben zu blicken. Sie zeigt das wachsende Interesse an Jonas, wie sich – buchstäblich und bildlich eingefangen – alles um ihn, den Erfolgsmenschen, zu drehen beginnt, das Gerede und Gedränge in Galerien, der steigende Pegel von Alkohol, Wichtigtuerei und Geplapper, die Interviews und homestories; wie dieses (teilweise sehr hohle) Interesse, das ihm anfangs durchaus schmeichelt, ihn immer mehr anödet, schließlich bedrückt, hemmt - und seine Kreativität nachlässt. Katia Fouquet nimmt allmählich die Farben aus den Bildern, der kräftige Strich wird dünner, die vorher von ihm geschätzte Künstlerszene mit seinen Malerkollegen und weiblichen Fans nervt ihn nur noch, das ständig hippe und aufgedrehte Getue in den Gesichtern wird ihm immer fremder und erscheint verzerrt, fast fratzengleich. Sie entwickelt die Geschichte ganz aus den Farben und Formen heraus, zieht buchstäblich alle Register, zeigt Glück, Bewegung und Stillstand, Enge und Einsamkeit und setzt gleichzeitig ihre eigene künstlerische Arbeit in Beziehung zur fiktiven Figur der Erzählung. Eine sehr gelungene Adaption und ein eindrucksvoll gekonntes eigenes Werk.  

 

Roland Reuß
Ende der Hypnose – Vom Netz und zum Buch
128 S. Fadenheftung, Stroemfeld Verlag, Fr
ankfurt/Main
ISBN: 978-3-86600-141-1; 12,80 €

 



Sehr aktuell! Wer sich der digitalen Technik entziehen will und Kritik am fallout der Digitalisierung übt, wird schnell als konservativ denunziert – obwohl allein Kritik so etwas leisten könnte wie eine Überschreitung des Rahmens, der von den zunehmend monopolistischer agierenden Großkonzernen wie Google, Apple, Microsoft et al. vorgegeben wird. Deren Interessen spiegeln sich im manipulierten Bewusstsein einer zutiefst verunsicherten Öffentlichkeit, die sich mehr oder weniger bereitwillig über das Medium ausbeuten lässt. Das Einverständnis mit der immer mehr alle Kreativität erstickenden Entwicklung wird als alternativlos verstanden. Die Kritik erstreckt sich auf Phänomene wie die freiwillige Unterwerfung unter die allgegenwärtigen Imperative der Werbung; die Selbstvermarktung; den Verlust sprachlicher Sensibilität; den vorauseilenden Gehorsam von Universitätslehrern gegenüber den Diktaten einer kommerzorientierten Auftragsforschung; das unreflektierte Hinnehmen einer auf alles aufgepfropften Betriebswirtschaftslehre, die Begriffe wie Geschäftsmodell oder Content-Industrie als Münzen in Umlauf gebracht hat, mit denen nun jedermann meint zahlen zu müssen. „Ein kleines bibliophiles Taschenbuch, in dem nicht allein die viel beschriebenen gesellschaftliche Folgen der Digitalisierung reflektiert werden; Reuß brilliert mit Argumenten für’s gedruckte Buch und Lesen, die jeder […] kennen sollte.“ (buchmarkt, 29.03.2013)


Ota Konrád/René Küpper (Hg.)
Edvard Beneš: Vorbild und Feindbild.
Politische, historiographische und mediale Deutungen (VCC 129)
VI u. 306 Seiten, geb., 49,99 €, ISBN 978-3-525-37302-6




Edvard Beneš gilt als eine der kontroversesten Gestalten der tschechischen und tschechoslowakischen Geschichte – und zwar nicht nur in Tschechien, sondern auch international. In Deutschland etwa verbindet man mit seinem Namen fast ausschließlich die so genannten Beneš-Dekrete und die Zwangsaussiedlung der deutschen Minderheit aus der Tschechoslowakei. Die Aufsätze dieses Bandes tragen dazu bei, die Debatten um Beneš zu versachlichen. Autoren aus fünf Ländern fassen den Forschungsstand zur Wahrnehmung seiner Politik und Person vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart zusammen.

Information zur neuen Verlagskooperation des Collegium Carolinum

Ab diesem Jahr erscheinen die beiden Schriftenreihen „Veröffentlichungen des Collegium Carolinum“ (VCC) und „Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum“ (BWT) im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Die Publikationen des Collegium Carolinum aus den Jahren 2005 bis einschließlich 2012 sind weiterhin im Buchhandel erhältlich. Bestellungen nimmt auch das Collegium Carolinum entgegen. Dort sind außerdem für die Mehrzahl der vor 2005 erschienenen Titel Restbestände auf Lager, die ebenfalls bestellt werden können unter: post.cc@extern.lrz-muenchen.de

 

 Verlag LiteraturWissenschaft.de (TransMIT)Marburg an der Lahn 2012
115 Seiten, Preis: 14,90 €
ISBN 978-3936134285


 

 

Franz Kafka hatte nie wirkliches Vertrauen in seine körperliche Verfassung. Seine hypochondrische Selbstbeobachtung registrierte vieles, doch blieb ihm die eigene Tuberkulose, die er als Verschwörung von Hirn und Lunge verstand, lange verborgen. Die Tuberkulose wurde nach eigener Einschätzung durch seinen Lebensstil förmlich erzwungen, wenn nicht sogar herbei geschrieben. Als er die Diagnose erfuhr, fühlte er sich befreit. Die reale Krankheit holt die ihr verliehene Bedeutung bald ein. Ähnlich dem Landvermesser K. musste Kafka erkennen, dass nichts sinnloser war als die mit der Krankheit gewonnene Freiheit. Das Buch von Johannes Groß befasst sich mit dem „Krankheitsgewinn“, den Kafka der Tuberkulose zuschrieb, und mit vielen anderen Facetten von Krankheit im Werk dieses Autors, die in der Kafka-Forschung bislang keine umfassende Beachtung gefunden haben. Viele Textdetails liefern die Grundlage für einige überraschende Zusammenhänge und verweisen auf eine Welt voller Makel, in der Krankheit und Macht in einem aufschlussreichen Verhältnis zueinander stehen.

Johannes Groß, geboren 1983, hat in Marburg Deutsche Sprache und Literatur, Grafik und Malerei sowie Kunstgeschichte studiert. Derzeit ist er als Junior Art Director bei einer Marketingagentur in Frankfurt am Main tätig.


Stefan Moses

Deutschlands Emigranten

192 S., Broschur, Fadenheftung, 150 Fotos, Euro 39,00

ISBN 978-3-907142-85-1


 

 

„Ich war unheimlich neugierig auf das Kommende“

Ab 1949 machte Stefan Moses Porträts von Menschen, die nach 1933 Nazi-Deutschland verlassen mussten. Einige kehrten zurück, andere blieben im Exil. In über hundert Fotos werden Persönlichkeiten aus Politik und Kunst gezeigt, die das öffentliche, intellektuelle und künstlerische Leben prägten – u.a. Willy Brandt und Herbert Wehner, Ilse Aichinger, Erich Fried, Meret Oppenheim, Leonard Steckel und Hans Sahl, Theodor W. Adorno und Ernst Bloch, Sebastian Haffner und Fritz Stern, Fritz Kortner und Peter Zadek. Moses wollte mit einem Foto nicht nur einen Augenblick festhalten, sondern einen Zustand. Hier sieht man Menschen, die ein gemeinsames Schicksal haben. Flucht, Vertreibung und Exil. Er stellt ihre Bilder dem Vergessen entgegen, die damit Zeugnisse ihrer Individualität sowie der Gemeinsamkeit des antifaschistischen Widerstands werden, auch Suche nach (neuer) Identität. Das Vorwort und kurze biografische Anmerkungen zu den Fotografien schrieb Christoph Stölzl. – Stefan Moses zählt zu den bekanntesten deutschen Fotografen der Gegenwart. Am 29. August 2013 feiert er seinen 85. Geburtstag.

Auswahl seiner Arbeiten 1967: Das Fotobuch Manuel erzählt von der Kindheit seines Sohnes; sseine Bildsprache vermittelt eine neue unkonventionelle Vorstellung von Kindheit, freiheitlicher Erziehung und offener Gesellschaft. Moses fotografierte für alle bedeutenden Zeitungen und Zeitschriften: Magnum, Der Spiegel, Stern, Zeit-Magazin, die Süddeutsche Zeitung u.a.. Seine Serien Deutsche. Porträts der sechziger Jahre (1980) und das Gegenstück Abschied und Anfang. Ostdeutsche Porträts 1989-1990 (1991) sind wichtige Zeitdokumente. Hintersinn und Humor beweist er mit dem Band Das Tier und sein Mensch (1997).

 

noch bis 30. Juni ist die Ausstellung Stefan Moses. Deutschlands Emigranten in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Max-Joseph-Platz 3, München zu sehen. Infos: www.badsk.de

 

Bert Papenfuß/Antonio Saura
Die Mauer

Hrsg. archives antonio saura, Gestaltung: Ralph Gabriel
192 S., geb., 73 Abb., € 29,80
Hatje Cantz Verlag, 2013. ISBN 978-3-7757-3409-7.




Der spanische Künstler Antonio Saura, *1930–1998, setzt sich in zwei 1985 entstandenen Zyklen mit der Berliner Mauer auseinander. Er übermalt Schwarzweiß-, einige Farb- Fotografien und Postkarten. Acht eigenständige Arbeiten auf Papier komplettieren den Band, der den Bildern des Spaniers Gedichte, Aphorismen und kleine Prosastücken des deutschen Lyrikers Bert Papenfuß,*1956, gegenüberstellt. Während Papenfuß mit Worten ein Schriftbild malt, spricht Saura in Farbe, Form und Komposition – entstanden ist kein historisierendes, sondern ein radikales, ästhetisches Zeitdokument über die Berliner Mauer.



Thomas Brasch:  Die nennen das Schrei – Sämtliche Gedichte
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Martina Hanf und Kristin Schulz
1029 S., geb., Suhrkamp Verlag
49,95 €,
ISBN: 978-3-518-42345-5


Thomas Brasch, Dichter, Dramatiker, Filmschaffender und Übersetzer, ist eine der markantesten Figuren der jüngeren deutschen Literatur. Neue deutsche Dichtung, die von Goethe, Heine, Brecht, von Spruch und Lied herkommt, hat in ihm ihren Meister gefunden – und viel zu früh verloren. Vom Widmungs- und Gelegenheitsgedicht über Ballade und Lied bis hin zu Stückcollage und Fototext – die Gesammelten Gedichte ermöglichen es zum ersten Mal, sich ein umfassendes Bild des im Verlauf von vierzig Jahren entstandenen lyrischen Werks zu machen. In zeitlicher Folge enthält die Ausgabe sämtliche zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte - darunter Raritäten wie die in der Reihe Poesiealbum veröffentlichte Sammlung von 1975, Braschs einzige DDR-Publikation von Gedichten, oder, seit Jahren vergriffen, Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen aus dem Jahr 1977. Hinzukommen die verstreut veröffentlichten Gedichte, die für diesen Band zusammengetragen wurden. Ferner zahlreiche Texte aus dem Nachlass, unbekannte und bereits veröffentlichte. Unter Verwendung von Selbstaussagen bietet der Kommentar - mit Nachweisen zur Textgenese, Erläuterungen zu Namen, Widmungen, biographischen Details und Zitaten - umfangreiche Zusatzinformationen zu jedem Gedicht. (Verlagsinformation, s. hier auch: Thomas Brasch)

Vorspiel II

Nicht Narr, nicht Clown, nicht Trottel, nicht Idiot.

Ihr Zuschaukünstler habt für mich kein Wort.

Ich komm aus England. Daher kommt der Tod.

Ich bin der Sterbewitz. Ich bin der Mord-//

versuch, jaja, ich weiß. Auch der macht Spaß,

weil er sich reimt und ist nicht so gemeint,

denkt ihr. Ihr denkt? Sieh an, seit wann denkt Aas.

Ich bin mein eignes Volk. Ihr seid vereint//

in dem Verein, der richtet und der henkt.

Ich will, daß ihr euch hier zu Tode lacht,

voll faulem Mitgefühl das Herz verrenkt,

ersauft in Tränen mitten in der Nacht.//

Ihr seid das Volk. Ich bins, der euch verhetzt.

Ich heiß: The Fool. Das wird nicht übersetzt                                       © Foto: Isolde Ohlbaum



  

Erich Kästner
Über das Verbrennen von Büchern
56 S., geb., Atrium Verlag Zürich, 
10,00. ISBN-13: 978-3-85535-389-7



Erich Kästner ist doppelter Kronzeuge des Bücherverbrennens: In der Nacht des 10. Mai 1933 hat er auf dem von Flammen und Scheinwerfern taghell erleuchteten Berliner Opernplatz mitansehen müssen, wie seine Bücher sowie Werke vieler anderer AutorInnen unter Aufsicht von Joseph Goebbels ins Feuer geworfen wurden – um 1965 zu erleben, dass in Düsseldorf der
Bund Entschiedener Christen abermals seine Werke verbrannte, diesmal unter Aufsicht der Polizei und begleitet von der Presse. Der Band versammelt erstmals vier Texte von Erich Kästner, in denen er erzählt, was 1933 – und danach wieder – geschah, wie es geschah und warum es geschah.

Mit Büchern vollgeladene Lastwagen schwankten zwischen den Kolonnen. Es war ein trüber, regnerischer Tag. Und trübe war, trotz Gesang und Uniform, die Stimmung der Studenten. Die Methoden der neuen Herren waren im Grunde noch nicht ganz die ihren. Dass man Bücher nicht nur lieben, sondern auch hassen kann, wussten sie. Dass man Bücher auf Kommando öffentlich verbrennt, mussten sie noch lernen. ... Mit dem heutigen Autodafé, das die Freiheit des Schriftstellers auslöschte, richteten die deutschen Studenten ihre eigenen Ansprüche auf jegliche künftige Meinungsfreiheit hin. Der Mord, den sie an diesem Abend begingen, war zugleich ein vordatierter Selbstmord. ... Die Lastwagen rollten heran wie an eine Verladerampe. Tausende von Büchern wurden ausgekippt und und von fleißigen Händen hoch im Bogen ins Feuer geworfen.“

Weitere Publikationen zum 80. Jahrestag der Bücherverbrennung

Neben Kästner standen weitere dreiundneunzig deutsche und siebenunddreißig fremdsprachige Schriftsteller_innen auf der schwarzen Liste, die der 29-jährige Berliner Bibliothekar Wolfgang Herrmann zusammengestellt hat. In Zusammenarbeit mit der Buchbranchenkampagne Vorsicht Buch! hat Bild die Sonderedition Die Bibliothek der verbotenen Bücher herausgegeben: Zehn Titel, die vor achtzig Jahren auf jener berüchtigten schwarzen Liste standen und öffentlich verbrannt wurden. Die Bibliothek enthält: Kurt Tucholsky: Deutschland, Deutschland über alles; Erich Maria Remarque: Der Weg zurück; Stefan Zweig: Verwirrung der Gefühle; Joseph Roth: Hiob; Gustav Meyrink: Der Golem; Lion Feuchtwanger: Jud Süß; Egon Erwin Kisch: Paradies Amerika; Erich Kästner: Fabian; Bertolt Brecht: Hauspostille und Songs der Dreigroschenoper; Heinrich Mann: Der Untertan. Einzeln sind sie zu einem Preis von 9,99 Euro erhältlich, im Schuber zum Preis von 75,00 Euro.

Die bei Olms erscheinende Bibliothek verbrannter Dichter soll um hundertzehn Titel wachsen. Die zehnbändige Kassette, die der Verlag bereits 2008 veröffentlichte, wird anlässlich des 80. Jahrestags der Bücherverbrennung derzeit zum Sonderpreis (9,80 Euro statt 12,80 Euro je Einzelttitel, Kassette 98 Euro statt 128 Euro) angeboten. Die Stadtbibliothek Nürnberg hat eine Dokumentation zum 80. Jahrestag der Bücherverbrennung in Nürnberg herausgegeben: Für den deutschen - wider den undeutschen Geist. Vom Umgang mit verbotener und brauner Literatur.

In dem im Juli bei Gmeiner erscheinenden Kriminalroman Brandbücher geht Birgit Ebbert das Thema literarisch an: Die junge Karina findet im Haus ihrer verstorbenen Großtante geheimnisvolle Postkarten, die sie in das Jahr 1933, als ihre Großtante Haushälterin bei einem jüdischen Buchhändler war. Hautnah musste ihre Großtante miterleben, wie der Einfluss der Hitler-Getreuen wuchs und in Münster die Bücherverbrennung vorbereitet wurde. (boersenblatt.net)

  


Anke Feuchtenberger

Die Spaziergängerin – Graphic Novel

80 S., geb., teilweise farbig, € 20,00.

Reprodukt Verlag, Berlin, ISBN: 978-3-943143-39-3



„Postkarte aus...“ - so beginnen die Entdeckungsreisen der Spaziergängerin. Selbst wenn sie die Orte kennt, die sie durchstreift, wirkt das Beobachtete auf einmal wieder fremd und befremdlich, löst Verwunderung und Staunen aus, wie auch der neugierige unbefangene Blick auf Neues und Ungewohntes Dinge und Menschen näher bringen kann. Die Herumtreiberin, das ist die Spaziergängerin nämlich in Wahrheit, folgt dem Rhythmus des Ortes, ihren eigenen Interessen und Bedürfnissen, schlendert und flaniert, beobachtet und beschreibt: Menschen, Architektur, Stimmungen. Manches ist nur angedeutet, schnell auf´s Papier gebracht, skizziert, manche Zeichnung braucht Detailtreue, einen langen, genauen Blick auf´s Wesentliche, keinen überflüssigen Ballast. Diese Reisen verlangen nach leichtem Gepäck, um sich ganz den Augenblicken und Begegnungen widmen zu können. Anke Feuchtenberger wurde 2008 auf dem Comicsalon Erlangen als „Beste deutschsprachige Comic-Künstlerin“ ausgezeichnet und unterrichtet an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften.


Josef Haslinger - Jáchymov
271 S., geb., Fischer Verlag, Frankfurt/Main
€ 19,95. ISBN: 978-3-10-030061-4



Die Geschichte des Eishockeytorwarts Bohumil Modrý bildet das Herzstück des Romans. Der gewinnt mit der tschechoslowakischen Eishockey-Nationalmannschaft 1947 und 1949 die Weltmeisterschaft, holt bei den Olympischen Spielen 1948 in St. Moritz die Silber-Medaille und wird als weltbester Torwart gefeiert. Er ist ein erfolgsverwöhnter Star. Die Wende kommt vor der Weltmeisterschaft 1950 in London: dreizehn Spielern wird wegen Spionage und Hochverrat der (politische Schau-) Prozess gemacht und Haftstrafen zwischen drei Monaten und fünfzehn Jahren verhängt. Es gilt als erwiesen, dass sie 'Republikflucht' begehen, also nicht mehr aus London zurückkehren wollten. Modrý, zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt, wird nach fünf Jahren todkrank begnadigt und stirbt 1963 im Alter von nur sechsundvierzig Jahren an Leukämie, Folge der Zwangsarbeit in den Uranbergwerken von Jáchymov. Jáchymov spielt im Roman eine prominente, janusköpfige Rolle, denn es ist Kurort und Heilbad, aber auch ein berüchtigtes Zwangsarbeitslager, steht also für Gesundheit und (gesellschaftliches) Leben, aber eben vor allem für Grauen und Tod.

Karel Čapek - Das Jahr des Gärtners
Illustriert von Josef Čapek
Übersetzt von Grete Ebner-Eschenhaym
135 S., geb. Aufbau Verlag, € 12,00. ISBN: 978-3-351-03306-4




Zur neuen Saison des Gärtnerns die passende Gartenlektüre: „Wenn schon blühen, dann aber richtig.“ Bereits 1929 erschienen und wenig später ins Deutsche übersetzt, blickt Čapeks Jahr des Gärtners mit Humor und Ironie ins Garten-Reich, beschreibt die stets wiederkehrenden Arbeiten, folgt dem Lauf des Jahres in Monatskapiteln, spricht in zwölf Betrachtungen Alltägliches und Absonderliches an, den segensreichen Regen, die Schönheit des Herbstes, Knospen und Samen. Er kennt die Wünsche und Sehnsüchte der GärtnerInnen, phantasievoll und wohlwollend beschreibt er Lust und Frust bei der Gartenarbeit und feiert alles, was wächst und gedeiht.


Karel Čapek - Der Krieg mit den Molchen
328 S., brosch., Aufbau Taschenbuch, € 11,95
ISBN: 978-3-7466-6109-4



Wer Orwell und Huxley gelesen hat, sollte auch Čapek lesen: Kapitän van Toch entdeckt auf einer indonesischen Insel eine seltene und seltsame Molchart, die gelehrig ist und sich zu allerlei Arbeiten abrichten lässt. Manager wittern ein Riesengeschäft, ein gigantisches Salamandersyndikat entsteht. Das Molchzeitalter scheint angebrochen. Doch bald sind die Tiere so clever, dass sie den Spieß umdrehen und ihre einstigen Herren bedrohen. Eine brillante Satire gegen einseitigen Fortschritt und Profit. Thomas Mann schrieb: „Lange hat mich keine Erzählung mehr so gefesselt und gepackt. Ihr satirischer Blick für die abgründige Narrheit Europas hat etwas absonderlich Großartiges.“

Karel Čapek (1890-1938), als Sohn eines tschechischen Landarztes in Malé Svatoňovice geboren, nahm 1909 in Prag ein Philosophiestudium auf, das er  in Berlin fortsetzte. Er arbeitete als Journalist, Dramaturg und Regisseur, schrieb Feuilletons, Erzählungen und Romane sowie Stücke und Reisebücher aus England, Italien, Spanien und den skandinavischen Ländern. Drei Jahre nach seiner Heirat mit der Schauspielerin Olga Scheinpflugová starb er in Prag an einer Lungenentzündung.

  

Madeleiner K. Albright, Winter in Prag

Erinnerungen an meine Kindheit im Krieg

Originaltitel: Prague Winter: A Personal Story of Remembrance and War, 1937-1948
Originalverlag: HarperCollins. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz

544 S., geb., mit Abb., Siedler Verlag, Berlin, € 24,99 - ISBN: 978-3-88680-988-2


Madeleine Albright, als Maria Jana bzw. Madlenka Korbelová 1937 in Prag als Tochter eines tschechischen Diplomaten geboren, überstand den 2. Weltkrieg in London, nachdem ihre Familie kurz nach dem Münchner Abkommen 1938 aus der Tschechoslowakei geflohen war. Die Familie musste das Land – kurz nach ihrer Rückkehr aus dem Exil – jedoch erneut verlassen, nachdem die Kommunisten die Macht übernahmen und der Kalte Krieg begann. Erst 1996 erfuhr sie, dass sie darüber hinaus einer jüdischen Familie entstammte, von der einige wenige Angehörige die Shoah überlebt hatten, und widmete sich seitdem intensiv ihrer tschechisch-jüdischen Herkunft. Im Buch versucht sie zu zeigen, wie die weltpolitischen Ereignisse sie und ihre Familie beeinflussten, wie sie selbst ihre Kindheit und Jugend in diesem Spannungsfeld erlebte, indem sie die allgemeine, 'große' Geschichte zusammen mit der privaten erzählt, wechselseitige Einflüsse zeigt und veranschaulicht, und wie aus Ängsten, Hoffnungen und Neugier ihr politisches Denken und Engagement entstanden ist. Albright engagierte sich seit den 1970er Jahren in der amerikanischen Innen- und Außenpolitik, beispielsweise als Mitarbeiterin von Jimmy Carter und als Botschafterin bei den Vereinten Nationen. Unter Präsident Bill Clinton war sie von 1997 bis 2001 Außenministerin der USA. Sie gilt auch nach ihrem Ausscheiden aus der aktiven Politik als eine der angesehensten Politikerinnen. Wie schwierig Politik-Machen ist, zeigt sich gerade an den aktuellen Fragen, Syrien betreffend. Das Eindeutige, also von Außen in den inner-syrischen Konflikt, der längst ein grausamer Bürgerkrieg geworden ist, einzugreifen oder andere Mittel und Wege zu finden, die Katastrophe zu beenden, wird immer komplizierter. Bei der Vorstellung der gerade auf Deutsch erschienen Autobiografie in Berlin, war das Für und Wider entgegengesetzter Postionen ihr zentrales Thema.

„The world is a mess“ war ein Seufzer nach einer brillant geführten Darstellung ihres Denkens und ihrer Motivation, sich immer wieder einzumischen.

Andere Medien über Winter in Prag:

"Eine Kindheit im Krieg" - focus.de

"Rätsel der Vergangenheit" – 3sat.de

"Kraft der Erinnerung" - Beitrag in der Sendung "Andruck" in dradio.de

  

Marcel Prins, Peter Henk Steenhuis: Versteckt wie Anne Frank

Überlebensgeschichten jüdischer Kinder. Übersetzung von Andrea Kluitmann 

224 Seiten, brosch., Ravensburger, Ravensburg, 2013. 6,99 Euro ISBN: 978-3-473-58433-8; eBook, 5,99 Euro, EAN: 9783473584338 - Ab 12


Der Autor, Dokumentarfilmer Marcel Prins, der bei Recherchen für einen Film über die Flucht und das Versteck seiner jüdischen Mutter auf die Idee zu dem Projekt kam, bietet seine langjährigen weitergehenden Nachforschungen nun in zweifacher Form an, die sich gut ergänzen: Auf der Website www.verstecktwieannefrank.de wird mit Texten, Animationsfilmen, Fotos und Archivmaterial auf das Schicksal jüdischer Kinder aufmerksam gemacht, die während des 2.Weltkriegs untertauchen und ihre Identitäten ändern mussten. - Die im Buch vorgestellten Menschen lebten versteckt an einem Ort, auf Dachböden und Bauernhöfen beispielsweise, andere durchlebten eine Odyssee, die sie bis an zweiundvierzig verschiedene Plätze führte. Manche wurden liebevoll behandelt, andere geschlagen. Sie waren in der Stadt oder auf dem Land, allein oder mit anderen zusammen. Sie hatten ein Versteck oder keins, mussten sehr viel oder gar nichts bezahlen. Sie wurden wie gleichwertige Menschen behandelt oder wie Sklaven, und viele von ihnen wurden verraten: In Holland beispielsweise tauchten während der Nazizeit rund 28.000 Juden unter, über die Hälfte von ihnen wurde an die Nazis ausgeliefert. Viele Kinder hatten kaum Erinnerungen an ihre Eltern und erkannten sie, wenn Mutter, Vater, gar beide überlebt hatten, manchmal gar nicht, manchmal kaum wieder. Aus ihren Familien herausgerissen und verlassen, erlebten sie das Kriegsende wie Jack, der vor einer langen Reihe Frauen stand, die alle ihre Kinder suchten. „Ich ging an all den Frauen mit Haarstoppeln entlang. Sie wollten mich alle haben, denn sie hatten alle ihre Kinder verloren. Am Ende der Reihe, an siebzehnter Stelle, saß meine Mutter. Ich sprang auf ihren Schoß. Endlich, nach vier Jahren, war sie wieder bei mir. Ich habe mich nie wieder so eins mit ihr gefühlt wie damals in diesem Raum...“ Rahel Mann, eine fünfundsiebzigjährige Berlinerin, wiederum sagt bei der Vorstellung des Buches in Berlin: „Meine Mutter war eine fremde Frau für mich“. Als Mädchen hatte sie sich während des Krieges in einem Keller in Schöneberg versteckt. Ihr Vater wurde im französischen Lager Gurs erschossen, ihre Mutter überlebte in Oranienburg. Manche der Kinder fanden nie wieder in ihr früheres Leben zurück, haben auf ihrer Flucht andere Namen erhalten, fühlen sich bis heute entwurzelt. Stellvertretend für viele andere Schicksale hat Marcel Prins vierzehn Überlebenden erzählen lassen und ihnen in seinem Buch und online Raum gegeben für ihre Lebensgeschichte, die auch heutige Kinder nachvollziehen können. 

 

Anna Achmatowa: Liebesgedichte

Hrsg: Ulla Hahn, Auswahl und Übersetzung aus dem Russischen von Kay Borowsky - Nachwort von Elisabeth Cheaur

96 Seiten, Reclam, Stuttgart 2013, € 8,80. ISBN: 978-3-15-010845-1




Anna Achmatowa, 1889 – 1966, ist die bedeutendste russische Dichterin. Oft als Seele des Silbernen Zeitalters der russischen Literatur bezeichnet, wurde sie vor allem als lyrische Chronistin der Schrecken der Stalin-Ära berühmt. Vor der Revolution Muse und Idol, blieb ihr danach keine Katastrophe erspart: Ihr erster Mann, der Dichters Nikolaj Gumiljow, wurde 1921 als Konterrevolutionär erschossen, ihr Sohn verhaftet und verbannt. Sie selbst hatte jahrzehntelanges Schreib- und Druckverbot, erlebte den Horror der Blockade Leningrads, das Flüchtlingselend in Taschkent, schließlich 1946 die erneute Schmähung ihrer Literatur durch das ZK. Viele ihrer Freunde kamen ums Leben. Rehabilitiert wurde sie erst spät, kurz vor ihrem Tod. Ursprünglich hieß sie Anna Gorenko. „Die Genealogie der Familie mütterlicherseits lässt sich angeblich bis zum letzten Chan der Goldenen Horde, bis Achmat Chan, zurückverfolgen.“ Deshalb nannte sie sich Achmatowa. Elisabeth Cheauré schreibt im Nachwort darüber hinaus, dass Freund und Lyriker Iossif Brodski anerkennend feststellte, mit ihrem Namen habe sie „gewissermaßen ihre erste gelungene Zeile“ geschaffen: Anna Achmatowa. In diesem Band liegen nun fünfundsiebzig, zwischen 1904 und 1959 entstandene, diesmal von Kay Borowsky übersetzte, Liebesgedichte vor.

[...]Vieles möchte, wenn ich mich nicht täusche, / Noch von meinem Mund besungen sein: / All die wortlos dröhnenden Geräusche, / Was im dunklen Erdreich höhlt den Stein, / Was im Rauch erahne ich allein. / Fertig bin ich längst noch nicht geworden / Mit der Glut, dem Wasser und der Luft…/ Meine Träume öffnen mir die Pforten / Zu so vielen unbekannten Orten, / Wenn von fern der Morgenstern mich ruft [...] (1938).

Du hast mich ausgedacht. So eine gibt es nicht, / die kann es auf der Welt nicht geben. / Das heilt kein Arzt, kein Dichter kann es lindern: / der Schatten dieses Spuks erscheint dir Tag und Nacht. /

Wir trafen uns in jenem unwirklichen Jahr, / als schon die Kräfte unsrer Welt versiegten, / als alles trauerte, im Unglück schier verzagte / und frisch als einziges die Gräber waren. / Laternen brannten nicht, die Newa schwarz wie Teer, / die Nacht ganz undurchdringlich, dumpf… / Und da nun rief dich meine Stimme! / Was ich getan, begriff ich selbst noch nicht. / Und du. Du kamst, als führte dich ein Stern, / kamst, durch des Herbstes Tragik schreitend, / in jenes Haus, für immer nun zerstört, / aus dem die Schar gequälter Verse floh. (1956)

  

Offene Worte zur Stellung der Frau - Neuauflage 1991/1996 mit einem Nachwort von Elisabeth Joris
590 S., geb., Efef Verlag, 1996
 

ISBN 3-905561-09-3; ISBN-13: 978-3905561098


Radikal und schonungslos, ohne Rücksichten auf herrschende Meinungen und mit spitzer Feder handelt Iris von Roten die Ungleichheit der Frauen ab. Sie spricht einer radikal egalitären Position das Wort und lehnt die seit 1890 von breiten Teilen der Frauenbewegung vertretene égalité dans la différence grundsätzlich ab. Sie begnügt sich nicht mit der rechtlichen und wirtschaftlichen Unterordnung, sondern greift ebenso unerschrocken das Tabu-Thema Sexualität auf und hinterfragt die einseitige Zuständigkeit der Frau für die Hausarbeit und die Überhöhung der Mutterschaft. (im Nachwort)

Die „Emanze“ aus der Schweiz

Als 1958 das Buch der Juristin Iris von Roten, eine 564 Seiten starke feministische Streitschrift, die die absolute Gleichstellung von Mann und Frau fordert, erscheint, ist es ein Skandal. „Man kann als Frau nicht hingehen und ein Buch […] schreiben, in dem man unentwegt erbittert gegen die Männerwelt vom Leder zieht. Das geht einfach nicht.“ (Basler Nachrichten , 28.10.1958). Eine wahre Hetzkampagne ist die Folge, sie wird sogar mitverantwortlich gemacht für den negativen Ausgang der Frauenstimmrechtsabstimmung vom 1. Februar 1959. Als Juristin (sie war eine der wenigen Frauen, die zum Studium zugelassen worden waren) kennt sie sich aus, fordert ein neues Scheidungsrecht, Mutterschaftsversicherung, Krippen und eine Verdienstausfall-Kompensation. Sie fordert die Gleichstellung der Frau in politischer, rechtlicher und finanzieller Hinsicht und sexuelle Selbstbestimmung – und lebt auch danach. Sie provoziert mit ihren Forderungen nach Frauen-Stimmrecht und befreiter weiblicher Sexualität sowie ihrer Kritik an der herkömmlichen Ehe das Schweizer Establishment und die – überwiegend männliche – Volksseele gleichermaßen. Als ihr, der streitlustigen und kompromisslosen Frau, die Anfeindungen als „meistgehasste Frau“ zu viel werden, verlässt sie die enge Schweiz und bereist die USA und die Türkei, in der sie auch sechs Monate lebt. Weitere Reisen führen sie in den Libanon, Iran, Irak, nach Syrien, Marokko, Tunesien, Sri Lanka, Brasilien; seit den 1970er Jahren nimmt sie ihr Mal-Equipment mit. Ihre Reiseberichte werden allerdings allesamt abgelehnt und einige erst posthum in den 1990er Jahren veröffentlicht. „Meine Mutter hatte einen unglaublich scharfen Verstand und einen unbestechlichen Blick. Und das hat dazu geführt, dass sie den Mut zu einem eigenem Urteil hatte“, sagt die Tochter Hortensia von Roten in einem 3sat-Interview. Frauen im Laufgitter ist nicht nur ein historisches Dokument, das die hellsichtige und schonungslose Analyse einer klugen Frau offenbart, sondern in vielem – leider – immer noch aktuell. Schweizer Frauen können zwar – empörend spät – seit 1971 wählen, seit 1996 sind Mann und Frau gesetzlich gleichgestellt, aber die Vereinbarung von Familie und Beruf ist immer noch nicht gewährleistet, u.a. deshalb, weil Frauen immer noch weniger verdienen als Männer, weil sie wenig Aufstiegsmöglichkeiten haben und sich eher im Niedriglohnsektor wiederfinden, wenn sie erwerbstätig sind. Es sind vor allem die weiblichen und männlichen Verhaltensmuster, die Iris von Roten in ihrem Buch beschreibt, die uns heute noch oft genug im „Laufgitter“, gegen das sie so vehement gekämpft hat, halten, anstatt vollkommen andere Lebensentwürfe zu wagen. Hortensia von Roten resümiert: „Es ist ein Buch für junge Leute. Weil junge Leute noch die Weichen stellen können.“ Und weil sie ihr Leben immer selbst bestimmt und großen Wert auf ihre Eigenständigkeit gelegt hat, die Reisestrapazen aber nicht mehr gut aushält, unter chronischem Schlafmangel leidet und allmählich ihre Sehkraft verliert, was ihr das Malen verunmöglicht, erhängt sich die 1917 geborene Iris von Roten am 11. September 1979. „Wie ein Gast wissen muss, wann es Zeit ist zu gehen, so sollte man sich auch rechtzeitig vom Tisch des Lebens erheben.“

In Verliebte Feinde von Wilfried Meichtry ist der Briefwechsel von Iris und Peter von Roten dokumentiert. Die Biographie anhand von ca. 1.500 Briefen ist 2007 im Amman Verlag erschienen.
656 S., geb., € 29,90; ISBN 9783250104872. Dieses Buch wiederum ist Grundlage eines Dok-Films gleichen Titels, in dem Spielszenen und Interviews mit Zeitzeugen in das Archivmaterial montiert sind und das wahrhaft spannende Verhältnis der Beiden bebildern.

  

Sylvia Plath: Die Tagebücher
Aus dem Englischen von Alissa Walser
500 Seiten, geb., Frankfurter Verlagsanstalt FVA

€ 28, ISBN 3-627-00011-0  

 

 


„Nichts fällt mir wohl schwerer im Leben, als zu akzeptieren, dass ich nicht auf irgendeine Weise vollkommen bin, sondern auf verschiedenen Gebieten nur um Ausdruck ringe: im Leben (mit Menschen, und auf der Welt überhaupt) und im Schreiben.“

Vor fünfzig Jahren, am 11. Februar 1963, nahm Sylvia Plath Schlaftabletten und drehte in der Küche den Gasherd auf. Es war bereits der dritte Selbstmordversuch der Dreißigjährigen, aber dieses Mal verlor Lady Lazarus, wie Plath sich selbst in einem Gedicht nannte, den Kampf um ihr Leben, ihre Literatur, die Suche nach einem ihr entsprechenden Leben.

„Ich bin bewohnt von einem Schrei. / Nachts flattert er aus / Und sucht mit Haken nach etwas zum Lieben“, heißt es im Gedicht Die Ulme. Und in der Glasglocke, 1963 erschienen, schreibt sie: „Uneingeschränkte Sicherheit war das letzte, was ich wollte, und ich wollte auch nicht die Stelle sein, von der ein Pfeil abfliegt. Ich wollte Abwechslung und Aufregung und wollte selbst in alle möglichen Richtungen fliegen, wie die farbigen Pfeile bei einer Feuerwerksrakete am Vierten Juli.“ Sie traf damit auch das Lebensgefühl vieler Frauen in den 1960er und 1970er Jahre, die weltweit den Aufbruch und Ausbruch aus der Enge der Verhältnisse wagten - und wurde in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts posthum eine der bedeutendsten Autorinnen.

Ihre Tagebücher werden allerdings vollständig erst in den 1970er Jahren veröffentlicht. Sie enthalten literarische Pläne, Anfänge und Notizen, das Ringen einer Schriftstellerin und Dichterin, die ihren Ausdruck finden und darüber hinaus den unterschiedlichsten Rollen gerecht werden möchte, die sehr hohe Ansprüche an sich selbst stellt und in ihrer Selbstkritik schonungslos ist. Sylvia Plath Werk ist schmal, aber sie hinterlässt mit Die Glasglocke einen immer noch fesselnden, beeindruckenden Roman, der - 1963 erschienen - längst zum Kultbuch avanciert ist, verstörende Gedichte voller atemraubender, lange nachwirkender Sprachbilder, und kurze Erzählungen, die - im Tonfall lakonisch und aufwühlend gleichzeitig - das Leben von Außenseitern, vor allem aber das Lebensgefühl von Mädchen und Frauen beschreiben, ihre Niedergeschlagenheit, ihren Trotz und ihr erstes tastendes, manchmal auch ganz unbekümmertes Aufbegehren. „Die beste, aufregendste und maßgeblich rücksichtsloseste Dichterin ihrer Generation“, nannte sie John Updike vollkommen zurecht. Nun liegen in Neuübersetzungwn ihre Erzählungen und Tagebücher vor, und Neuleserinnen und -leser können eine gleichermaßen scharfsichtige wie sensible, eine melancholische wie wütende Autorin entdecken, für die das Überschreiten eigener innerer und oktroyierter äußerer Grenzen immer wieder Herausforderung war.

Sylvia Plath, Die Bibel der Träume

Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Julia Bachstein und Sabine Techel
260 S., geb., FVA,  € 14,90; ISBN 978-3-627-10020-9

Sylvia Plath, Zungen aus Stein

Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Julia Bachstein und Susanne Levin

300 S., geb., FVA, € 14,90; ISBN 978-3-627-10021-3

Die GlasglockeNeuauflage, mit einem Vorwort von Alissa Walser vor: Suhrkamp, Berlin 2013, ISBN 978-3-519-42365-3

 

Saul Friedländer, Franz Kafka 

252 S., geb., mit 12 Abbildungen

C.H.Beck Verlag, 2012, € 19,95; ISBN 978-3-406-63740-7

 


„Die Liebe zu Kafka ist für mich eine lebenslange Leidenschaft.“

Saul Friedländers Buch ist kein germanistisches Traktat geworden, auch findet kein weiteres Hauen und Stechen der Kafka-Forscher untereinander über haltbare Fakten und unhaltbare Meinungen statt. Der Historiker Friedländer, * 1932 in Prag, wendet sich ab vom „fachwissenschaftlichen Dschungel“ und schreibt unbefangen, quasi mit leichter Hand und doch akribisch über Kafkas schwieriges Verhältnis zum eigenen Judentum und sein noch prekäreres zur eigenen Sexualität. Kafka hatte Erfolg bei Frauen und konnte sexuell doch nicht viel mit ihnen anfangen. Er folgt dessen Wanderungen von einer katastrophalen Frauenbeziehung zur nächsten, verfolgt von einem Begehren, das er nicht befriedigen kann“. Die These der latenten Homosexualität ist nicht neu, nicht wirklich tabuisiert, wird aber doch als delikat angesehen. Friedländer kennt keine Berührungsängste, findet Zeichen für Kafkas sexuelle Andersartigkeit, die in der These pädophiler Neigungen mündet, für die er viele Stellen findet, in den Tagebüchern und im Schloss, in denen Kafka Kinder begeistert beschreibt, regelrecht von ihnen schwärmt.

Der Original-Titel Franz Kafka. Poet of Shame and Guilt, zeigt deutlicher als der deutsche Titel das Motiv von Friedländer. Scham und Schuld sind ja wesentlich im Schreiben von Kafka; hier wird aber vor allem die sexuelle Scham und Schuld als Motiv von Kafkas Schreiben hervorgehoben. Saul Friedländer weiß um das Heikle seiner Interpretation: “Meine größte Hoffnung ist, dass, wenn der Leser erst einmal über das Sensationelle hinweggekommen ist, diese neue Facette lediglich die Komplexität von Kafkas innerer Welt und der Welt, die er geschaffen hat, vermehren wird.“ Als Einführung glänzend geschrieben, weil er die zentralen Aspekte im Leben und Werk Kafkas ernst nimmt, durchleuchtet und sich nicht scheut, auch Tabus zu berühren, unaufdringlich und  klug. Die Beweiskraft seiner Thesen ist allerdings recht dünn, was aber nicht besonders stört. Das Movens des Schreibens hat ja viele Wurzeln, sein Impetus viele Anlässe, Friedländer erinnert mit viel Emphase daran, dass Sexualität – die wie auch immer ausgelebte und vor allem die phantasierte – eine der stärksten Triebfedern menschlicher Entäußerungen ist. 

  

Yfaat Weiss

Verdrängte Nachbarn. Wadi Salib – Haifas enteignete Erinnerung.

Aus dem Hebräischen von Barbara Linnert.

286 S., geb., 25,00 €, Hamburger Edition, Hamburg 2012, ISBN 978-3-86854-243-1

 

 

 


 

Yfaat Weiss, Direktorin des Franz Rosenzweig Minerva Center for German-Jewish Literature and Cultural History an der Hebräischen Universität Jerusalem und Preisträgerin des Hannah Arendt-Preises für politisches Denken 2012, erzählt mehr als die Geschichte eines Stadtviertels. Bis Ende der 1950er Jahre befindet sich mitten in Haifa das Armenviertel Wadi Salib, 1959 kommt es zu heftigen Protesten der dort lebenden jüdisch-marokkanischen Bewohner, die gegen ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen aufbegehren. Diese innerjüdischen Auseinandersetzungen untereinander und mit der Polizei bringen die Spannungen zwischen Immigranten und Alteingesessenen, zwischen aus arabischen und aus europäischen Ländern stammenden Juden an den Tag und erzeugen erstmals ein politisches Bewusstsein für die innerhalb der jüdischen Bevölkerung existierende ethnische Diskriminierung. - Das ist jedoch nur ein Teil der Geschichte: Bereits 1959 – und bis heute – ist vergessen, dass Wadi Salib nur wenige Jahre zuvor ein intaktes arabisches Viertel gewesen ist. Während der Kämpfe von 1948 müssen nämlich die arabischen Bewohner aus ihren Häusern flüchten. Europäische und marokkanische Juden – ebenfalls Flüchtlinge – werden dort einquartiert; sie leben schließlich in den verlassenen Wohnungen, inmitten des Mobiliars und der persönlichen Habseligkeiten der geflüchteten arabischen Familien. Die Studie geht der Frage nach, wie eine solch dramatische Auslöschung der arabischen Präsenz in der Stadt Haifa innerhalb so kurzer Zeit stattfinden konnte. Neben dieser Verdrängung befasst sich die Studie mit den Erinnerungen der dort angesiedelten Juden aus Marokko und wirft so Licht auf einen blinden Fleck der israelischen Geschichtsschreibung. Interne wie externe Konflikte, die verschiedenen Perspektiven – die arabisch-palästinensische, jüdisch-mizrachische und jüdisch-aschkenasische Geschichtserfahrung –sind eng miteinander verwoben und konstituieren bis heute sowohl die Identität beider Völker als auch den so genannten Nahostkonflikt. Im Kontext der dramatischen Verschränkung von sog. Bevölkerungstransfer, Vertreibung und ethno-sozialen Konflikten ist eine eindeutige Zuordnung von Siegen und Niederlagen auf und für beide Seiten moralisch kaum möglich. Die Historikerin zeigt auch, dass es ohne Offenheit gegenüber allen Fakten der Geschichte, der Gewalt und Inhumanität, die gerade auch in Siegen und Niederlagen stecken, nicht gehen wird. Und dies gilt auch für andere Länder und Regionen dieser Welt.

 

Wolfgang Müller
Subkultur Westberlin 1979 – 1989. Freizeit.
Fundus Band 203 bei Philo Fine Arts
600 Seiten, mit vielen Abbildungen, geb., € 24,00
ISBN 978-3-86572-671-1




 

Hinter der Mauer
Ende der 1970er Jahre beginnt sich in der Inselstadt West-Berlin eine vielfältige Subkultur zu entwickeln. Super-8-Kinos, Bands und Minilabels werden gegründet, Fanzines kopiert, illegale
Bars und Punkclubs wie das Risiko werden zu Treffpunkten der von CDU-Politikern gerne so genannten 'Antiberliner': Punks, Alternative, Industrial und Elektronikfans, Polit-Anarchos, Lesben, Schwule, Queers und Künstler mit oder ohne Werk. In diesem Umfeld erscheint im Merve Verlag 1982 das Manifest des subkulturellen West-Berlin: Geniale Dilletanten benannt nach der Großen Untergangsshow im Tempodrom. Herausgeber des Bändchens ist Wolfgang Müller, Mitbegründer der Gruppe Die Tödliche Doris. Die Band spielt in besetzten Häusern und in Kunstkontexten. In seiner Geschichte der West-Berliner Subkultur 1979 – 1989 setzt Wolfgang Müller Die Tödliche Doris in den Fokus damaliger Entwicklungen und Verhältnisse. Neben vielen anderen treten auf: Gudrun Gut, Die Einstürzenden Neubauten und Iggy Pop, Christiane F., der spätere Loveparade-Gründer Dr. Motte und Ratten-Jenny, die 1978 Martin Kippenberger attackiert. Aber auch Orte werden aufgerufen, die Flohmärkte oder illegale Kulturstätten wie der Kuckuck. Global und Lokal – vom Dschungel über SO 36 bis zum Kumpelnest, die alten Trampelpfade einer internationaler werdenden Szene. Selbst Protagonist der Geschehnisse, die er beschreibt, liefert der Autor Zeitgeschichte aus Insider-Perspektive: subjektiv und kenntnisreich, witzig und respektlos - und mit interessantem Bildmaterial. (Bis 1989 wurde West-Berlin allerdings nicht Westberlin geschrieben!). 
 


Geschichte aus der Nähe

Politische Karikaturen aus der ČSR von Josef Čapek u.a. aus der Zeit von 1933 - 1938. Hg. Ulrich Grochtmann
456 S., brosch., 5., überarb. u. erw. Auflage (Februar 2012)
trafo Literaturverlag, € 49,80; ISBN 978-3864650048





Die Entstehung dieses Buches geht zurück auf die gleichnamige Wanderausstellung, die dem im Jahre 1887 im nordostböhmischen Hronov geborenen Maler, Dichter und Journalisten Josef Čapek gewidmet ist, der aufgrund seines Engagements gegen Volksverdummung, Diktatur und Krieg – wie sein drei Jahre jüngerer Bruder Karel – dem NS-Regime stets ein Dorn im Auge war und schließlich am Vorabend des 2. Weltkrieges ganz oben auf der Schwarzen Liste des Besatzungsregimes stand. Am 1. September 1939 wurde er verhaftet und ist nie wieder auf freien Fuß gekommen. Seine Spuren verlieren sich im Konzentrationslager Bergen-Belsen, wo er wenige Tage vor der Befreiung letztmals gesehen wurde. Karel Čapek ist Weihnachten 1938 – in tiefer Resignation über das Diktat von München – verstorben. Sein tragisches Ende wurde nicht nur seiner Krankheit, sondern vor allem dem Wirken seiner politischen Gegner zugeschrieben und oft mit den Worten kommentiert: „Das Schlimmste ist ihm erspart geblieben!“ Ausstellung wie der vorliegende Band machen mit politischen Karikaturen vertraut, die Josef Čapek in den Jahren 1933–1938 für die damals in Brünn erscheinende Tageszeitung Lidové noviny / Volkszeitung zeichnete. Darüber hinaus wirkte er auch als Autor für diese Zeitung, die damals – auch international – den Ruf eines linksliberalen Blattes, geprägt durch sozialpolitisches Engagement, genoss. Ausstellung und Buch enthalten ebenso Graphiken aus Josef Čapeks in den Jahren 1938/1939 entstandenen Zyklen Sehnsucht und Feuer sowie Zeichnungen und Gedichte, die in Konzentrationslagern entstanden und dank der Initiative überlebender Mitgefangener erhalten blieben. Die Ausstellung, erst kürzlich in Prag zu sehen, soll zukünftig dauerhaft im Sitz des tschechischen Senat zu sehen sein. 

 

Paula Bulling, Im Land der Frühaufsteher
120 S., schwarzweiß , Munken , Softcover

avant-Verlag, Berlin, 2012; € 17,95

ISBN: 978-3-939080-68-8


 

 

Nach Besuchen in verschiedenen Asylanten-Heimen Sachsen-Anhalts hat Paula Bulling ihre Begegnungen mit Flüchtlingen zum Ausgangspunkt ihres ersten Comics gemacht. Sie beschreibt darin auch ihren Schock über den Zustand der oft abgelegenen, verwahrlosten Heime, die Kasernierung auf engstem Raum von Menschen, die mit der Residenzpflicht gezwungen werden, den jeweiligen Landkreis nicht zu verlassen, und keine Erwerbsarbeit annehmen dürfen, über willkürliche Abschiebungen, den alltäglichen Rassismus und die Ignoranz der Gesellschaft insgesamt. Das hatte sie sich nicht vorstellen können. Die Künstlerin dient sich jedoch nicht opportunistisch an, reduziert die AsylbewerberInnen nicht zu Objekten einer Elends-Reportage, sondern porträtiert sie mit allen ihren Bedürfnissen und Interessen. Sie legt ihnen auch kein künstlich gebrochenes Deutsch in den Mund, sondern hat viele Textpassagen von Noel Kaboré, einem Integrationsreferenten, schreiben lassen. Ihre Erzählung bebildert Verhältnisse, die seit dem Protestmarsch von Flüchtlingen/Asylanten von Würzburg nach Berlin, die nach wie vor am Kreuzberger Oranienplatz und vor dem Brandenburger Tor kampieren und von Politikern seit Wochen vertröstet oder ganz ignoriert werden, endlich öffentlich geworden ist.

  

Jenny Erpenbeck

Aller Tage Abend

geb., 288 Seiten, Knaus Verlag
€ 19,99 - ISBN: 978-3-8135-0369-2



Der Roman folgt vier Generationen im 20. Jahrhundert auf ihren unvorhergesehenen Wegen von Galizien nach New York, Wien, Moskau, Sibirien und Ost-Berlin. Die erzählte Geschichte ist dabei immer auch Vorgeschichte und bedient sich wechselnder Perspektiven. Die Autorin lässt ihre Protagonistin(nen) in fünf Büchern jeweils in verschiedenen Lebensaltern sterben, bereits wenige Monate nach der Geburt gleich am Anfang des Jahrhunderts und als junges Mädchen kurz nach Kriegsende. Die Lebensverhältnisse sind immer mehr oder weniger prekär, materiell wie ideologisch. Sie wird zur trotzkistischen Abweichlerin gestempelt, die in Sibirien stirbt, sie ist eine kommunistische Schriftstellerin zwischen Erfolg und Missgunst; sie lebt in der DDR und rutscht unglücklich aus. Das letzte Buch spielt in Berlin nach dem Mauerfall 1989, im Stadium eines Übergangs, auch der sog. Wende, die die alte, über neunzigjährige Frau nicht mehr versteht, die sie am Ende ihres so wechselvollen Lebens konfus macht. Das Buch zeigt, dass es stringente Lebensläufe nicht gibt, jedenfalls nicht notwendigerweise und vor allem nicht in dem beschriebenen Jahrhundert. Das Leben ist von so vielen Unwägbarkeiten und Zufällen bestimmt, von kleinen und groben Fehlern, von nebensächlichen und großen Versäumnissen, von Machthabern und ihren Erfüllungsgehilfen. Die Autorin führt uns ins Reich des Konjunktivs, des Hätte – Wäre - Könnte, zum beliebten, meist sehr intimen Fragespiel: Was wäre, wenn...? Man möchte eine Lücke schließen, sei es aus Verzweiflung über den Verlust eines anderen Menschen oder über das eigene bisherige Leben, aus purer Neugierde oder einem Hang zum Tagträumen. In diesem Roman werden jedoch keine Märchen erzählt, man erfährt mit jedem Tod und der Reaktion auf ihn das ganze Ausmaß der Geschichte, der individuellen wie der allgemeinen. Unter anderen Prämissen wäre der Tod vermutlich (zunächst) vermeidbar gewesen. Jedes Mal führt auch - neben den gesellschaftlichen Gegebenheiten - ein persönlicher Fehler, ein Versagen oder ein Hindernis zum Unglück. Der Tod der einen Person bietet einer anderen aber auch neue Möglichkeiten, zur Wahrheitsfindung beispielsweise, wird Triebfeder des Überlebenswillens und des Erzählens. Armut, Pogrome, Flucht und Shoah bilden die Hauptfäden in diesem dichten Netzwerk von Menschen, Orten und Begegnungen. Sie sind Koordinaten der jeweiligen Lebensgeschichten. Jede Version beinhaltet Teile der anderen Episoden, beschreibt Reaktionen und Erfahrungen der Vor- und Nachfahren, Familienstrukturen werden sichtbar und wichtige Charaktereigenschaften der Frauen. Auf eindrucksvolle Weise erzählt die Autorin Geschichte als in jedem Menschen, jeder Familie verkörpert und wirksam und wie das Private immer auch politisch ist - und sie beschreibt höchst kunstvoll und animierend, dass Vergangenheit niemals tot, nicht mal vergangen ist (W. Faulkner), solange Menschen (weiter-)leben. 


Fischerová, Andrea/Nekula, Marek (Hg.)
Ich träume von Prag. Deutsch-tschechische literarische Grenzgänge
 

388 S., geb., Karl Stutz-Verlag Passau, 2012

22,80 €; ISBN: 978-3-88849-068-2



Die Anthologie versammelt Originaltexte von Autoren mit tschechischem oder tschechoslowakischem Hintergrund, die in Deutschland, Österreich und der Schweiz leben und schreiben. So finden sich darin Autoren, die in ihrer Art und Weise des Erzählens sehr unterschiedlich zu verorten sind. Verbunden sind sie in dieser Anthologie durch Prag als Chiffre des eigenen und zugleich auch des anderen Raums. Dabei träumen nicht alle Prag, verarbeiten es aber dennoch – im fließenden Übergang zwischen dem fiktionalen Bezug auf den Traum, Erinnerungen und Erinnerungsträumen. In der Anthologie vertreten sind Peter Ambros, Zdenka Becker, Maxim Biller, Eugen Brikcius, Jan Faktor, Ota Filip, Katja Fusek, Jiří Gruša, Katarina Holländer, Tomáš Kafka, Jaromir Konecny, Jindřich Mann, Milena Oda, Eva Profousová, Milan Ráček, Helena Reich, Michael Stavarič, Stanislav Struhar und Tereza Vanek. (aus: Verlagsinformation)

Am 31.01.2013 im Tschechischen Zentrum München:

 

Literarische Wanderungen durch das deutsche Olmütz
Motycka, Lukáš/Opletalová, Veronika (Hrsg.)
170 Seiten - Nakladatelství UP/Repronis, Olomouc 2012

 



Olmütz (Olomouc) galt als kulturelles Zentrum und Inspirationsquelle für viele deutsch-mährische und tschechische Schriftsteller(innen) bis durch Nationalsozialismus, Okkupation, Gewalt und Hass die Deutschen nach Ende des 2.Weltkrieges vertrieben wurden, sie und ihre Literatur aus dem Gedächtnis der Stadt und des ganzen Landes verschwanden und die Erinnerung an deutsche Traditionen vollkommen getilgt wurde. Seit einiger Zeit werden Werke von deutsch-mährischen Autoren wie Peter Härtling, Otto F. Babler oder Johanna Anderka allerdings neu entdeckt. Jenseits von Revanchismus und Ressentiment wird so die Literatur Mährens wieder lesbar. Die zweisprachige Publikation Literární procházky německou Olomoucí/Literarische Wanderungen durch das deutsche Olmütz ist das Ergebnis eines der Projekte der Arbeitsstelle für deutsch-mährische Literatur am Lehrstuhl für Germanistik an der Palacký-Universität in Olmütz. Das Buch ist als Stadtführer konzipiert und bietet reiches Bildmaterial. Die einzelnen Kapitel stellen Spaziergänge durch die Gegenden dar, welche die Phantasie der Olmützer deutschsprachigen Dichter anregten. Das Buch ist auch als Ganzes eine große Wanderung: Es führt durch die Stadt, stellt einige Kulturvereine vor und lässt mithilfe literarischer Auszüge in die Biographien von Persönlichkeiten hineinblicken, in deren Werk das deutsche Olmütz eine unauslöschliche Spur hinterließ. In Tschechien bekommt man es in Buchhandlungen, in Deutschland im Internet oder durch Direktbestellung bei: lukas.motycka@email.cz (Weitere Publikationen s. unter: Flucht-Vertreibung)

 

Gerhard Neumann, Franz Kafka. Experte der Macht.
238 S., brosch., mit Abb.

Carl Hanser Verlag, München 2012
€ 19,90; ISBN-13: 9783446238732




„Der Trost wäre nur: Es geschieht, ob Du willst oder nicht. Und was Du willst, hilft nur unmerklich wenig. Mehr als Trost ist: Auch Du hast Waffen.“

Aus Aufsätzen der letzten Jahre hervorgegangen, stellt das Buch des Münchner Germanisten, dessen Titelgebung sich einer Charakterisierung Kafkas durch Elias Canetti verdankt, die Denkfigur der blinden Parabel vor. Danach gibt es gar keine, an einen dezidierten Empfänger adressierte Mitteilung - oder diese erreicht einfach niemanden mehr (beispielsweise in Kafkas Parabel Eine kaiserliche Botschaft). In Kafkas Roman Der Proceß heißt es: „Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber“. Sich äußerlich den Konventionen beugend, ist Kafka in seinem Schreiben radikaler Außenseiter. Nur sprachlich und literarisch kann er sich der auseinanderfallenden Ordnung bemächtigen, sie transzendieren. Geschildert wird die lebenslängliche Beschreibung eines Kampfes mit und um Macht - in den Romanfragmenten, seinen Erzählungen und Kurzprosatexten - , ihr Missbrauch, das Scheitern an ihrer Willkür und Undurchschaubarkeit. Neumann, der Kafka den „Begründer einer Mikrologie der Macht“ nennt, weiß mit ihm, „dass die Macht in kleinsten Lebenseinheiten, also dort am stärksten ist, wo sie anonym und gewissermaßen 'unsichtbar' bleibt.“ Kafka hat sich in seinem Schreiben ständig mit Bedrohungen und Kränkungen auseinandergesetzt. Seine persönliche Urszene ist sicherlich die traumatische Pawlatschen-Episode (pavlač meint im Tschechischen einen offenen Hauseingang und architektonisch die umlaufenden, offenen Gänge der Hinterhöfe), die ihn zeitlebens umtrieb. Als rigide Erziehungsmaßnahme sperrt Kafkas genervter Vater den kleinen Jungen aus und lässt ihn dort frierend und alleine stehen. Das Kind hatte um Wasser gebettelt und gejammert; rationalisierend - und schon um Deutungshoheit bemüht - fügt Kafka hinzu: „Gewiss nicht aus Durst, sondern wahrscheinlich teils um zu ärgern, teils um mich zu unterhalten.“ Neumann beginnt sein Buch mit dieser Episode, das sich in sieben Kapitel und Themen-Komplexe gliedert. Das Wort hat zunächst immer der Autor: im literarischen Werk (hier vor allem Bericht für eine Akademie und die Romane Der Proceß und Das Schloß), in den Tagebüchern und – in seinen Zeichnungen. Neumann breitet das Material vor sich (und uns) aus, interpretiert es und zieht seine Schlüsse. Er resümiert, dass „es die Sprache selbst ist, ihre Performanz, die Macht verleiht und Macht erleiden lässt; die also den Protagonisten wahlweise zum Verurteilten macht oder zu freiem Handeln befähigt.“ Hier setzt die oft sehr missverständliche Täter-Opfer-Diskussion ein. Kafka bzw. seine Protagonisten seien nicht nur Opfer, sondern immer auch Täter gewesen, heißt es gerne, sie hätten sehr wohl verstanden, Macht und Druck auszuüben und auszunutzen. Da ist die Trennschärfe doch recht ungenau. Sich mit Schreiben gegen die Zumutungen des Lebens zur Wehr zusetzen, indem man biographische Szenen im Nacherzählen quasi be- und verarbeitet, der traumatischen Erfahrung damit „Herr“ wird, ist mit realen Machtkonstellationen nur bedingt vergleichbar, zeigt aber die Widersprüche und Ambivalenzen, die die äußere Ordnung im Inneren eines Menschen hinterlässt. Gewalt in Kafkas Werk ist wie eine schleichende Krankheit, die menschliches Zusammenleben kontaminiert und zum Scheitern verurteilt (wie seine Krankheit körperliche Gewalterfahrung und Erkenntnis der eigenen Verwundbarkeit ist - und gleichzeitig benutzt wird, sich Unliebsames vom Hals zu halten, der eigenen Endlichkeit wissentlich kurzfristig - und dennoch immer hoffend - ein Schnippchen zu schlagen).

  

Tobias Premper, Das ist eigentlich alles
- Heute schreibe ich nichts auf. / Ich behalte alles / für mich -
188 S., Hardcover, Steidl Verlag, € 18,00
ISBN: 978-3-86930-392-5

 

 

 

 

 

Daniil Charms, einer der Meister des Absurden, schrieb über eine Begegnung: Da ging einmal ein Mensch ins Büro und traf unterwegs einen anderen Menschen, der soeben ein französisches Weißbrot gekauft hatte und sich auf dem Heimweg befand. Das ist eigentlich alles. - 
Von 2004 hat Tobias Premper alles, was ihm wichtig war, in kleine grüne Notizbücher geschrieben, weil er „[v]iele Dinge, wenn ich sie nicht dokumentiere, vergesse.“ Jetzt sind die Notate in einem Werk erschienen, einem Kunst-Buch zum Stöbern, Darin-Blättern und Herumspazieren. Premper geht durch die Stadt, ins Kino, er liest, er schreibt vor dem Einschlafen und nach dem Aufwachen. Er ist passionierter Flaneur, Wanderer, Schreiber. Er hält Augenblicke fest, Einfälle, Anfänge von möglichen Geschichten, Stimmungen, Alltagsimpressionen, seine „Sicht der laufenden Ereignisse“. Vorbilder dieser Momentaufnahmen und Aphorismen sind ihm die Sudelbücher von Lichtenberg. Er hat einen Hang zu Aberwitz und Hintersinn, er kennt das Leichte wie das Abgründige. Boxenbücher heißen die fünfzig- bis hundertseitigen Loseblattsammlungen in schmalen Schachteln, die er seit 2006 herausbringt, von denen bisher elf erschienen sind und seine Graphik, Zeichnungen, Collagen und Kopien enthalten. Da jede Box in der Ausführung der gleichen bzw. ähnlichen Inhalte etwas variiert, nennt er sie Originale. Auf seiner Webseite kann man sie erwerben. - Der Autor, *1974, lebt als Künstler und Schriftsteller in Berlin. Von ihm sind zahlreiche Gedichtbände erschienen. Seine Kunst war zuletzt in Ausstellungen bei Walther König in Berlin und Köln zu sehen.

Auswahl: Er hätte sich aus dem Fenster stürzen können. Stattdessen nahm er ein ausgiebiges Bad,
rasierte und parfümierte sich und zog seinen Sonntagsanzug an. Jetzt konnte es doch
weitergehen.

- Über unberührten Schnee gehend, dachte er, neue Spuren hinterlassend: nichts Dagewesenes gilt jetzt noch etwas, nur das, was vor mir liegt.

- Zwei Jungs standen vor einer Haustür und aus der Gegensprechanlage drang eine Frauenstimme: „Na, ist euch kalt?“ Und einer der Jungs antwortete: „Nein, wir haben Angst.“

- Ein Kind sagte, es möchte im Baum schlafen. Ein anderes, es wolle nicht mehr hinten sitzen im Auto, sondern lieber vorne, auf der Motorhaube. Und noch ein Kind legte sich still auf die Landstraße zum Spielen und das letzte Kind versuchte ein Flugticket nach Papua-Neuguinea zu kaufen. Alle noch so jung und schon vollkommen verzweifelt.

- Das habe ich immer in meiner Tasche dabei und fühle mich vollständig: einen Stift und ein Messer (mit dem Stift erstach ich den Feind, mit dem Messer schrieb ich ein Gedicht).

- In der Nacht hörte ich einen Esel schreien. Als ich zum Stall ging, war da aber nur ein Huhn, das auf einem Balken schlief. Mich umdrehend, bellte ein Hund, und als ich hinsah, war da kein Huhn mehr und auch kein Hund, sondern eine Katze, die durch eine Pforte kam und mir ums Bein schlich. Ich wollte sie streicheln, doch da biss mich eine Schlange und ich lief fort aufs freie Feld, in einen dichten Wald, wo ich nichts mehr sehen konnte. Dann hörte ich einen Esel schreien.

- Jetzt lege ich den Stift nieder und stehe da mit leeren Händen.

  

Wolfgang Herrndorf, Sand 
480 Seiten, geb., Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2011
ISBN-10 3871347345, ISBN-13 9783871347344, 19,95 EUR


Preis der Leipziger Buchmesse 2012

 

 

Durch die Wüste

Alles, was sich mit Sand und seinen vielfältigen Formationen verbinden lässt, schon die Assoziationen beim Anschauen des Titelbilds, kann man im Roman finden, den man auch einen Agententhriller, Krimi oder Abenteuerroman nennen könnte. Alle Ingredienzien werden ausgebreitet wie ein – wenigstens früher - für die Gegend obligater Teppich. Wolfgang Herrndorf bedient unsere Vorstellungen, indem er gekonnt mit den Genres und Metaphern spielt. Es gibt unzählige Figuren, sympathische und unsympathische, mysteriöse und skurrile, von denen man nicht so recht weiß, woher sie kommen und wohin sie gehen, ob man sie je wiedersehen wird, wenigstens irgendwann im Buch; sie tauchen auf wie Fata Morganas, vermutlich sind alle Erklärungen für ihr Dasein bzw. momentanes Hier-Sein letztlich hinfällig. Sie haben keine Bedeutung bzw. nur die, die wir ihnen zubilligen. Wie Hirngespinste sind sie, die gleich wieder verschwinden, nachdem sie ein bisschen Staub aufgewirbelt haben, zumindest in unseren Köpfen. Sie kämpfen gegeneinander, in der Hitze (der Gefechte) fallen so manche filmreife Dialoge. Die Figuren treffen und trennen sich abrupt und slapstickhaft wie im Comic. Sie treiben über Landstriche, Pisten und Orte, suchen dies und jenes und finden etwas anderes und verlieren es wieder. Spuren werden verwischt, neue Fährten gelegt. Als Doppelgänger begegnen wir ihnen wieder, sie sind vielleicht Agenten, Spione, Kriminelle, handeln eiskalt mit Drogen und/oder Waffen - und das in der Wüste. Jede voreilige Erklärung entpuppt sich als fehlerhafter Schluss und lässt das Kartenhaus vermeintlicher Erkenntnisse mit einem gekonnt platzierten Windstoß einstürzen. Alles scheint zufällig und eine bloße Folge von Missverständnissen. Die hehren Grundsätze, Prinzipien und Urteile stehen auf unsicherem Grund, sind buchstäblich auf Sand gebaut, den der Autor uns auch reichlich und lustvoll in die Augen streut. Das Rauschhafte entzieht sich jeder Begründung. Aufklärung ist hier nicht zu erwarten. Der Glaube an den festen Boden der Tatsachen ist wie der, das eigene Leben kontrollieren zu können, offensichtlich Ausdruck ziemlicher Dummheit.  Sand erzählt zuallererst von den Begegnungen einiger Menschen unter heißer Sonne – wie es manchmal im Süden geschieht. Ein Geplänkel aus Leichtsinn und Bedrohung. Man kennt sich nicht.Vor allem kennt man sich nicht aus. Lässt sich treiben und hält ab und zu erschrocken inne, ohne zu wissen, warum. Jede Person hat irgendein Ziel und verpasst es doch, weil immer irgendetwas dazwischen kommt. Daraus kann man eine rasant-spannende, vergnüglich-verwickelte Story voller ekstatischer Momente, Abenteuer und Exaltierheiten machen, eine aberwitzige Parodie, die sich ohne Skrupel der Literatur- und Filmgeschichte bedient, ein hitziges Verwirrspiel aus Tiefgang und Hochstapelei. Wer schon in bekannteren Gefilden einen Navi braucht, ist vielleicht überfordert. Unterwegs sein bei Herrndorf heißt, keine Scheu vor vermeintlichen oder tatsächlichen Umwegen und Hindernissen zu haben. Er erzählt seine Geschichte leichthin und verführerisch, bis man glaubt, das Brennen auch unter der Haut zu spüren, die allgegenwärtige Gefahr, das gleißende Licht der Sahara, das alle Konturen verschwimmen lässt, die Agonie der Gedanken und die Zeit, die vergeht. Und ganz nebenbei erzählt Wolfgang Herrndorf, wie die alte (und hohe!) Kunst des Erzählens geht...

Wolfgang Herrndorf, *1965 in Hamburg, hat Malerei studiert und unter anderem für die Titanic gezeichnet. 2002 erschien sein Debütroman In Plüschgewittern, 2007 der Erzählband Diesseits des Van-Allen-Gürtels und 2010 der Roman Tschick, der zum Überraschungserfolg des Jahres avancierte. Wolfgang Herrndorf wurde u.a. mit dem Deutschen Erzählerpreis (2008), dem Brentano-Preis (2011), dem Deutschen Jugendliteraturpreis (2011), dem Hans-Fallada-Preis und dem Leipziger Buchpreis (2012) ausgezeichnet. (s.a. Spots)

  

"Die Donau ist ein europäischer Fluss mit einer mannigfaltigen historischen Bedeutung. Sie ist das Symbol einer gemeinsamen Kultur und Geschichte und gleichzeitig Grenzlinie [...], sie ist die Lebensader, die den Balkan mit anderen europäischen Ländern verbindet."  

Die Anthologie ist das Resultat einer literarischen (Entdeckungs-)Reise 2011 auf und entlang der Donau von sechzig AutorInnen aus sechzehn Ländern, die sich innerhalb von sechs Wochen in sieben Ländern trafen. Die Reise führt von Österreich über die Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien, Albanien, Bulgarien, bis in die Türkei. - In der Publikation Literature in Flux (Literatur im Fluss) werden nun elf AutorInnen (und fünfzehn ÜbersetzerInnen) mit ihren Texten vorgestellt, im Original und mindestens einer Fremdsprache - und mit biographischen Notizen: Ivaila Alexandrova , Dejan Čančarević, Lucas Cejpek, Johan de Boose, Filip Florian, László F. Földényi, Zsuzsann Gahse, Karl Hoess, Arian Leka, Nicol Ljubić, Lázsló Végel 

Die sehr empfehlenswerte Literature in Flux-Anthologie das Buch zur literarischen Reise – ist über das Online-Formular von Halma bestellbar und kostenlos (zuzüglich Versandkosten). 

 

 

R. M. Douglas, Ordnungsgemäße Überführung – Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg; aus dem Englischen von Martin Richter
Geb., 556 S. mit 16 Bildern und 3 Karten.

C..H. Beck Verlag, ISBN 978-3-406-62294-6


 

Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ist nach wie vor eins der umstrittensten Themen der jüngeren Zeitgeschichte. Sie war Folge des verbrecherischen Nazi-Regimes, sollte nach Bestimmungen des Potsdamer Abkommens „geordnet und human“ vonstatten gehen, was aber nicht der Fall war, weil Vertreibungen gerade dies nie sein können. R. M. Douglas benutzte für seine Darstellung der Ereignisse bisher unbekannte bzw. unveröffentlichte Quellen, vor allem Aufzeichnungen von Diplomaten, Militärs und Journalisten, Archivmaterial der ausweisenden Länder und des Internationalen Roten Kreuzes, deutsche Quellen nur dann, wenn sie durch andere Zeugnisse bestätigt werden konnten. Entstanden ist eine Darstellung, die das Leid der Vertriebenen, die Gräueltaten an Deutschen und das moralische Versagen der Alliierten thematisieren kann ohne in den Verdacht der Einseitigkeit zu geraten.  Leseprobe: 

http://www.chbeck.de/fachbuch/zusatzinfos/Leseprobe_Ordnungsgemäße_Überführung.pdf
(s. dazu auch: Flucht - Vertreibung)

 

Erich Später, Villa Waigner.

Hanns Martin Schleyer und die deutsche Vernichtungselite in Prag 1935 – 45, 100 Seiten, mit Abb. und Dokumenten, Hamburg 2009 (konkret texte 50)ISBN 978-3-930786-57-2  


Eine deutsche Karriere

 

 

 

 

Über den jungen Mann wird es später euphemistisch heißen, er habe sich zeittypisch antisemitisch gegeben. Er ist in einer schlagenden Studentenverbindung und arbeitet in Heidelberg und - nach dem Anschluss Österreichs 1938 - in gleicher Position im Studentenwerk Innsbruck. Bereits seit 1933 ist er in der SS. Am 1. Mai 1941 beginnt er in Prag für das Studentenwerk der Deutschen und Technischen Universität Prag zu arbeiten. Er ist seit kurzem verheiratet und strebt als angehender Jurist im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren eine steile Karriere an. Das kenntnisreiche Buch beginnt mit der Vorgeschichte der Besatzung der Tschechoslowakei und beschreibt in den folgenden Kapiteln die deutsche Okkupationspolitik, die am 15.3.1939 beginnt und spätestens mit dem Antritt Reinhard Heydrichs als Stellvertretender Reichsprotektor zum offenen Terror übergeht und sich nach dessen Tod mit flächendeckenden Vergeltungsmaßnahmen sogar noch radikalisiert. Der Autor schildert darüber hinaus präzise die einzelnen Schritte von Entrechtung, Enteignung, Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Besondere Wichtigkeit hat dabei die Zentralstelle für jüdische Auswanderung, die zum 01.10.1941 bereits 14.920 Häuser und Wohnungen jüdischer Bürger verwaltet bzw. enteignet hat. Beispielhaft wird die Enteignung und Ermordung des jüdischen Ehepaars Waigner rekonstruiert, deren Prager Villa (im damals üblichen Jargon auch gerne Juden-Villa genannt) ein begehrtes Objekt der Begierde hoher Nazifunktionäre wird, bis August 1940 dem jüdischen Direktor der Bank für Handel und Industrie, Emil Waigner, gehört, die sich wiederum die Dresdner Bank einverleiben will. Dr. Klausing, Professor für Bank- und Kreditwesen, wird neuer Bewohner und 1943 sogar Rektor der Reichsuniversität Prag. Sein Leben und damit seine Karriere finden allerdings ein abruptes Ende als herauskommt, dass sein Sohn Beteiligter im Attentatsgeschehen rund um den 20. Juli 1944 gewesen ist. Klausing erschießt sich und macht damit Platz frei für den neuen Bewohner der Villa Waigner: den SS-Offizier Hanns Martin Schleyer, nunmehr Referent im Zentralverband der Industrie in Böhmen und Mähren, der nebst Familie die arisierte Villa bezieht, deren einstige Eigentümer längst ermordet sind. (s. auch: Henker von Prag)

 

Ludwig Winder, Die Pflicht. Roman.

Hrsg. und mit einem Nachwort von Christoph Haacker.

Bibliothek der Böhmischen Länder, Bd. 3. Arco-Verlag 2011.

208 Seiten, Leinen. Mit Abbildungen. € 22,00.
ISBN 978-3-9808410-4-7
.





Ludwig Winder (1889–1946), ein Prager deutscher Schriftsteller, ist zu Lebzeiten eine zentrale Figur des kulturellen Lebens, der nach dem Tod Franz Kafkas an dessen Stelle Teil des legendären Vierer-Zirkels, den Max Brod später den engeren Prager Kreis nennt, wird. Als Kulturredakteur der traditionsreichen deutschen Zeitung Bohemia tätig, ist Winder ein wichtiger Vermittler deutscher, tschechischer und jüdischer Kultur. Romane wie Die jüdische Orgel oder Die Geschichte meines Vaters sind eindringliche Auseinandersetzungen mit seiner mährisch-jüdischen Herkunft. Die nachgeholten Freuden, Der Kammerdiener und Der Thronfolger thematisieren untergehende Donaumonarchie wie Zwischenkriegszeit und sind Variationen zu Herrschaft und Machtgier, Unterwerfung und Rebellion, Liebe und Hass. Der Exilroman Die Novemberwolke beschreibt Schicksale von Emigranten und Einheimischen während einer Bombennacht in London Anfang der 1940er Jahre, wohin Winder mit knapper Not entkommt. Im englischen Exil erfährt er vom Terror der deutschen Besatzer in seiner Heimat, muss ohnmächtig das Verschwinden seiner Tochter, die schließlich im KZ umkommt, hinnehmen, im Sommer 1942 schließlich die Massaker an der Zivilbevölkerung von Lidice und Ležáky. In dieser Situation entsteht der Roman Die Pflicht, der mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Prag am 15. März 1939 beginnt und für den tschechoslowakischen Widerstand Partei ergreift. Josef Rada ist kein Held oder Aufrührer; er ist unauffällig, das sprichwörtliche kleine Rädchen, pflichtbewusster Eisenbahnbeamter, beflissener Kontrolleur von Strecken und Fahrplänen, der die Routine seiner geregelten Bahnen, der beruflichen wie der privaten, schätzt, für Ruhe und Ordnung ist, weil er jede Störung im Ablauf als mögliche Katastrophe empfinden muss. Schon die Usurpation seiner Dienststelle jedoch ist für ihn ein Affront, die neue Ordnung, die da installiert werden soll, führt zu heillosem Durcheinander, im Amt, vor allem jedoch in Rada selbst. Die neuen Machthaber gebärden sich unflätig und schrill und nehmen ihm all das, wofür sein bisheriges Leben stand: Gewissenhaftigkeit und Kompetenz. Radas innere Not manifestiert sich in vielen kleinen Szenen, in denen er mit seinem - bisher nicht hinterfragten - Leben konfrontiert wird. Seine Sorgen und Ängste, seinen Status betreffend, aber auch seine Familie und Freunde, treiben ihn dazu, seine bisherige Haltung immer deutlicher in Frage zu stellen und münden schließlich in einen Entschluss. Den Kampf zwischen Anpassung und Widerstand des Josef Rada beschreibt Winder als atemlosen Prozess von Selbst-Beschwichtigungen, Luftholen und dem Erkennen der neuen Gegebenheiten, als Reaktion auf einen oktroyierten Ausnahmezustand. Die Metamorphose des Josef Rada besteht darin, die widerstreitenden Gefühle und Gedanken zuzulassen, seine tiefsitzende Angst immer deutlicher als Fessel zu begreifen, sein Wissen nicht abzustreifen, sondern anders einzusetzen. Und obwohl Winders Roman auf eine bestimmte historische Situation reagiert, haben sich die Fragen des Josef Radas nicht erledigt: sowohl die nach den Gründen, still zu halten und nicht aufzubegehren, als auch die nach Mut, Zivilcourage und der Legitimität von Widerstand. (s. auch: Prof. Kurt Krolop)

 

Kreation und Depression 
Hg. Christoph Menke und Juliane Rebentisch 
Brosch., 253 S. mit Abb., € 19,90
Kulturverlag Kadmos, 2011, ISBN-13: 9783865991744   



Mit Beiträgen von Luc Boltanski , Ulrich Bröckling, Ève Chiapello, Gilles Deleuze, Diedrich Diederichsen, Alain Ehrenberg, Carl Hegemann, Tom Holert, Axel Honneth, Michael Makropoulos, Christoph Menke, Robert Pfaller, René Pollesch, Juliane Rebentisch, Andreas Reckwit, Dieter ThomäEigenverantwortung, Initiative, Flexibilität, Beweglichkeit, Kreativität sind die gesellschaftlichen Forderungen, die die Individuen zu erfüllen haben, um an der Gesellschaft überhaupt teilnehmen zu können (zu dürfen). Das alte Disziplinarmodell der Gesellschaft wurde ersetzt, ohne jedoch die Disziplin als Grundprinzip abzuschaffen. Anstelle einer Normierung des Subjekts nach gesellschaftlich vorgegebenen Rollenbildern ist der unter dem Zeichen des Wettbewerbs stehende Zwang zu permanenter kreativer Selbstverwirklichung getreten. Der Neoliberalismus schafft es immer wieder, Zwänge und Unfreiheiten in ihr Gegenteil zu verkehren. Einstellungen und Lebensweisen, die einmal einen qualitativen Freiheitsgewinn versprachen, scheinen inzwischen so mit der aktuellen Gestalt des Kapitalismus verbunden, dass daraus aber neue Formen sozialer Herrschaft und Entfremdung entstanden sind. Die scheinbar spontane Wahl des Einzelnen ist vollständig eingebettet in die Verwertungsinteressen. Individualität verkehrt sich in Isolation, alles – auch die so genannte Freizeit – wird dem Leistungsprinzip untergeordnet. Innere Leere, gefühlte Minderwertigkeit, Antriebsschwäche, Burn-Out scheinen die Kehrseite der Erwartung zu sein, die Einzelnen mögen sich unabhängig von ihren jeweiligen sozialen Voraussetzungen in der Teilnahme am gesellschaftlichen Reproduktionsprozess zugleich flexibel und kreativ selbst verwirklichen. 

 

Gottfried Benn: Morgue und andere Gedichte.
Stuttgart: Klett-Cotta. 10 Euro. ISBN 978-3-608-93941-5

 


 

 

Die großzügige Gestaltung von Umschlag und Titelei mit scharf in das Cover eingepresster Prägung, die Schmuckfarbe auf den Klappeninnenseiten, das gelblichweiße Papier, der asymmetrische Lyriksatz, die düstere Tonigkeit der Zeichnungen ergeben ein verblüffendes Stück Buchkunst: weder Reprint noch Retrodesign, sondern zeitgenössische, rigide Visualisierung durch die Flucht nach vorn mit dem Blick zurück.


Aus dem Tschechischen von Maria Hammerich-Maier
253 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag
19,80 € ISBN 978-3-88747-268-9

 

 

 

Im Roman treffen Personen aufeinander, die sehr konträre Ziele verfolgen: Der Landvermesser und Ingenieur Martin Petr kommt aus Prag in die Ostslowakei, um Bauern und Dörfer vor Überschwemmungen zu retten. Pavel, ein junger Mann, der den Älteren gern zuhört und schnell lernt; der Partisan Smoljak, der nach dem Verräter sucht, der seine ganze Familie den Nazis ausgeliefert hat (das war der sehr fromme Pfarrer); der pazifistische Holzfäller, der aus Kanada zurückgekommen ist und im Dorf als 'Arzt' sowohl für Menschen wie für Tiere zuständig ist, aber bald verhaftet wird; es gibt Frauen, die endlich aus den bäuerlichen Traditionen ausbrechen wollen; mit einigem Recht misstrauische und sture Bauern, die Agitatoren mit Knüppeln vom Hof treiben; stalinistische und korrupte Funktionäre, die mit allen Mitteln ihre Macht sichern; Säufer, Marodeure, versprengte Soldaten – ein wildes Panoptikum unterschiedlichster Biographien und Interessen, das sich aber im Laufe des Romans zu einer einzigen und unausweichlichen Erkenntnis bündelt. - Der Roman basiert auf einer langen Recherche für einen Spielfilm, den Klíma über die Entwicklung des Sozialismus in der Ostslowakei, einer völlig unterentwickelten, armen und weithin unbekannten Region zwischen Polen, der Ukraine und Ungarn, mitgestalten sollte. Der Film durfte nicht produziert werden, seine Notizen und Erlebnisse verarbeitete Klíma 1963 zu seinem Debütroman, der die Zeit vom Kriegsende bis Anfang der fünfziger Jahre umspannt, und nun zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorliegt.

Ivan Klima, 1931 in Prag geboren und als Kind drei Jahre im KZ Theresienstadt, studierte nach dem Krieg Literaturwissenschaft, wurde Anfang der sechziger Jahre Redakteur der später verbotenen Zeitschrift Literáni noviny, wo er sich für regimekritische tschechische Autoren und für die Rezeption von Čapek, Kafka, Hemingway und Dürrenmatt einsetzte. 1967 hielt er auf dem legendären Schriftstellerkongress in Prag ein flammendes Plädoyer für die Freiheit der Kunst und gegen die Zensur, wurde entlassen und mit Publikationsverbot belegt. Seine Bücher und Theaterstücke erschienen fortan nur im Westen und wurden erfolgreich in 31 Sprachen übersetzt. In den USA und in der Bundesrepublik war Klíma in den neunziger Jahren immer wieder auf den Bestsellerlisten. Erst nach der Wende 1989 konnte er auch in Tschechien verlegt werden. Zu seinen bekanntesten Romanen zählen Richter in eigener Sache, Liebe und Müll, Liebesgespräche, Warten auf Dunkelheit, Warten auf Licht und zuletzt seine Erinnerungen Moje šílené století (Mein verrücktes Jahrhundert), Praha 2010.

 

Michèle Minelli, Die Ruhelosen
752 Seiten, Einband geb., Aufbau Verlag, 

EUR 24,95, ISBN-10:3-351-03386-9




Nur dank eines Zufalls stößt die Zürcher Ornithologin Aude auf eine Spur ihrer Familiengeschichte, die in eine andere, ferne Zeit führt. Während seit Jahrhunderten ihre Vorfahren der eigenen Herkunft stets den Rücken gekehrt haben, wendet sich Aude nun genau dieser Vergangenheit zu.
All die unglaublichen Legenden über unstete Friseure, raffinierte Maskenbildner, begnadete Musiker, tüchtige Krämer und deren eigensinnige Frauen, in denen sich die Großmama beim Erzählen verstrickt hatte, fügen sich plötzlich zusammen. Gesellschaftliche Unterdrückung, Unterwerfung und der Widerstand dagegen sind in allen Episoden gegenwärtig und werden kunstvoll miteinander verschränkt. Vor Aude breitet sich ein verführerisches Geflecht aus drei Familien über acht Generationen und hundertfünfzig Jahre aus. Die Autorin lockt mit unzähligen sinnlichen, skurrilen, tragischen und leidenschaftlichen Episoden in diese bis in die k. u. k. Zeit zurückreichende Familiensaga von wahrhaft europäischem Zuschnitt. Um die verwickelten Familienbande, die Personen und die Orte ihrer Begegnungen leichter nachvollziehen zu können, sind im Buchdeckel Stammbaum und Landkarte abgedruckt.
Michèle Minelli, 1968 in Zürich geboren, veröffentlichte mehrere Sachbücher, u. a. über das Asylland Schweiz, eine Reisereportage und den Roman Adeline, grün und blau (2009). Außerdem drehte sie Dokumentarfilme und arbeitet als Dozentin für kreatives Schreiben in Zürich. Verschiedene Preise und Stipendien.

   

 

Michal Frankl
Prag ist nunmehr antisemitisch
Tschechischer Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts
Broschur, 334 Seiten, Metropol Verlag, 24,00 Euro
ISBN: 978-3-86331-019-6

 

 

Wie in anderen europäischen Staaten entstand auch in den böhmischen Ländern Ende des 19. Jahrhunderts ein moderner Antisemitismus. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung erklärte die Juden, denen man die Schuld an gesellschaftlichen Missständen zuschrieb, zu Feinden der tschechischen Nation. Michal Frankl legt nun eine erste Gesamtdarstellung zur Geschichte des tschechischen Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts vor. Er stellt die verbreitete Reduzierung des tschechischen Antisemitismus auf den Nationalitätenkonflikt zwischen Tschechen und Deutschen infrage, deutet ihn gegen die vorherrschende Geschichtsschreibung in Tschechien als akutes gesellschaftliches und politisches Phänomen und beschreibt seinen weltanschaulichen und organisatorischen Aufstieg vor dem Hintergrund antisemitischer Bewegungen in Europa.

Michal Frankl ist Historiker, Politikwissenschaftler und Leiter des Jüdischen Museums Prag.

 

Icon Poet - Alle Geschichten dieser Welt
Konzept: Andreas, Lukas und Ueli Frei, Gestaltung: Jenna Gesse, 308 S., 36 Würfel mit 192 Icons, Format 22 x 30 cm, Halbleinen, Kunstseidenüberzug und Prägung, Verlag Hermann Schmidt,  ISBN 978-3-87439-817-6

 

 

Schnelle Geschichten und kurze Texte sind aufgrund der modernen Kommunikationsmittel und -plattformen weltweit im Trend, Information wird immer globaler und in Form von universalen Zeichen, von Icons, für alle verständlich. Kombiniert mit dem menschlichen Bedürfnis zu spielen, wurde eine neue kreative Form des Schreibens entwickelt. Die 192 Icons wollen dazu inspirieren, immer wieder neue Geschichten zu erfinden und aufzuschreiben. Sind die Würfel erst einmal gefallen, darf grenzenlos interpretiert, geistreich kombiniert und überraschend formuliert werden. Allein, in Gesellschaft und für alle, die gerne Geschichten lesen und hören. - In NZZ Folio gibt es mittlerweile eine regelmäßige Rubrik mit eingesandten Geschichten. www.nzzfolio.ch

  

Jiří Holý „Tschechische Literatur 1945–2000“, herausgegeben von Gertraude Zand, aus dem Tschechischen von Hanna Vintr und Gertraude Zand.

237 Seiten, 48 Euro, Verlag Harrassowitz, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-447-06575-1


 




 

 

 

 

Leo Perutz, Nachts unter der steinernen Brücke - Roman
Mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller
dtv-Taschenbuch, 272 Seiten, ISBN 978-3-423-14075-1


Im Zentrum steht die legendenumwobene Gestalt des hohen Rabbi Loew. Nur er kann das Rätsel um die Strafe Gottes lösen, die 1589 als großes Kindersterben über die Prager Judenstadt hereinbricht. Ratsuchend beschwört er übernatürliche Mächte, und diese führen ihn zu einem Vergehen, das er selbst begangen hat - eines Nachts unter der steinernen Brücke. Im Bannkreis dieses Vergehens bewegt sich nun ein ganzer Mikrokosmos - bunte Gestalten, von den Narren und Bettlern, die die Gassen und Spelunken der Goldenen Stadt bevölkern, bis hin zum Kaiser Rudolf selbst und seiner Geliebten, der schönen Jüdin Esther. Doch keine der handelnden Figuren durchschaut das komplexe Geflecht von Liebe, Schuld und Sühne: Nur der Leser überblickt - souverän und quasi gottgleich an der Seite des meisterhaften Erzählers Perutz - das ganze kunstvolle Muster, das lebendige historische Tableau, die magische, versunkene Welt. „Leo Perutz ist der größte magische Realist unserer Sprache, ein Virtuose des Rätsels“ sagt Daniel Kehlmann.- „Er ist ein Dichter mit der Fähigkeit, ungewöhnlich fesselnde Romane zu schreiben. Ich betone: ein Dichter“, schrieb Carl von Ossietzky. - Leo Perutz, geboren am 02.11.1882 in Prag, 1899 Umzug mit seiner Familie nach Wien. Zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg zählt er zu den meistgelesenen Erzählern deutscher Sprache. 1938 emigriert Perutz nach Tel Aviv. Er stirbt 1957 während eines Österreich-Besuchs in Bad Ischl. Seine Romane und Erzählungen sind in viele Sprachen übersetzt. In ihnen begegnen sich Historisches und Phantastisches, Traum und Wirklichkeit. Das gesamtes Romanwerk sowie ein Nachlassband sind als Taschenbuch in der sehr empfehlenserten Leo-Perutz-Edition bei dtv lieferbar.

 

Oxforder Oktavhefte 7 & 8, Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengl

2 Bände, incl. CD-ROM, mit Franz Kafka-Heft 8, ISBN 978-3-86600-070-4

Zürauer Zettel, 106 Zettel auf Einzelblättern im Faksimile, ISBN 978-3-86600-105-3, Stroemfeld Verlag Frankfurt/Basel 

Kafkas Sternhimmel : 1916/17 notierte Franz Kafka seine Gedanken, Ideen, mögliche Anfänge und Entwürfe in acht handliche Oktavhefte. In der seit 1995 erscheinenden kritisch-historischen Franz-Kafka-Ausgabe (FKA) des Stroemfeld Verlages, Frankfurt/Basel sind bereits drei Hefte herausgegeben worden. Nun liegen zwei weitere Bände der Edition vor mit den Aufzeichnungen zu Prometheus, Sancho Pansa, Gesang der Sirenen, Erzählung des Großvaters und Auf dem Dachboden, darüber hinaus Kafkas Essay Vom Jüdischen Theater und einige kurze Notate. Wie in allen historisch-kritischen Ausgaben des Verlages steht der Transkription des Textes mit sämtlichen vom Autor vorgenommenen Korrekturen (Streichungen, Überschreibungen bzw. Ergänzungen) ein Faksimile gegenüber, dass die jeweilige Handschrift zeigt und somit Einblicke in den Schreibprozess, also das Verfertigen eines Textes beim Schreiben, gewährt. In einer Extra-Box, Zürauer Zettel, erscheinen Notizen, die Kafka sich während eines Aufenthaltes bei seiner Schwester Ottla im sächsischen Zürau machte. Sie werden gerne als Aphorismen bezeichnet. Mehr als hundert dieser Notate kann man als Einzelkarten der Zettelbox entnehmen, jede ist wiederum unterteilt in Transkription der Zeilen und ihr Faksimile.

 

Ingrid Müller-Münch
Die geprügelte Generation
Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen
284 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, € 19,95 (D),
ISBN 978-3-608-942-1

 

 

Wirklich neu ist die Erkenntnis nicht, dass die meisten deutschen Nachkriegskinder ins Leben hinein geprügelt worden sind. Bis heute kann man es ja hören: Eine Tracht Prügel hat noch keinem geschadet, die Ohrfeige war letztlich immer verdient. Kochlöffel, Teppichklopfer, Rohrstock waren die häufigsten Utensilien für die alltäglichen Züchtigungen und Strafaktionen, die gerne auch als Tribunal inszeniert wurden. Das Kind hatte schließlich eine ominöse Schuld auf sich geladen, nun galt es, (freiwillig) dafür zu büßen. Vermittelt wurde jedem einzelnen dieser geschlagenen Kinder: Eltern, Verwandte, Erwachsene mögen mich nicht, ich bin nichts wert, ich bin ein Nichts. - Diskussionen über Gewalt in der Familie, in der Erziehung gestalten sich bis heute schwierig. Die kürzlich bekannt gewordenen Misshandlungen von Schutzbefohlenen in Heimen und Privatschulen, die erzieherische Gewalt durch Geistliche werden immer noch gerne als vereinzelte Auswüchse herunter geredet. Wer diese Erziehung kritisiert, wird in eine dubiose anti-autoritäre Ecke gedrängt und lächerlich gemacht. Es wird weiterhin Disziplin, Gehorsam und Autorität gefordert, anstatt die Erziehungstradition, die hinter diesen Begriffen steckt, offenzulegen, nach den Folgen für jedes einzelne Individuum und die Verfasstheit einer Gesellschaft insgesamt, nach dem WARUM zu fragen. Welcher Zeitgeist steckt hinter Ohrfeigen und Prügel? Welcher Charakter soll da wie geformt werden? Welche Erfahrungen aus Krieg und 3.Reich, aus westdeutschen Wirtschaftswunder-Zeiten und ostdeutschen Kollektiv-Strukturen spielen dabei eine Rolle? Der Film Das weiße Band von Michael Haneke, der die Zeit vor dem 1.Weltkrieg fokussiert, zeigt die Verbindung von absolut gesetzten Ordnungsprinzipien, die unbedingt zu erfüllen sind, dem dieser Forderung inhärenten Misstrauen und den daraus - notwendig - resultierenden Verdächtigungen auf, die immer getragen sind von Verachtung und Demütigung - und zu permanentem schlechten Gewissen führen. Dieser Zwangsveranstaltung ist alleine kaum zu entkommen. - Das Buch geht der Frage nach, wie sich der Vertrauensbruch der Eltern auf die Biografie der Kinder ausgewirkt hat. Wie die demütigenden Schläge die Gefühle, den Alltag und die Beziehungen einer ganzen Generation bis heute beeinflussen. Und ob die einst geprügelten Kinder als spätere Erwachsene diesen Eltern verziehen oder mit ihnen brachen. Die Porträtierten sind ein Glücksfall: sie haben sich eine kindliche Unmittelbarkeit erhalten, mit der sie ihre Ängste und Nöte schildern können. Das Geschehene ist präsent, damalige Gedanken und Erklärungen für das Verhalten der Erwachsenen werden mit heutigen Sichtweisen konfrontiert, mit Erfahrungen des eigenen Erwachsenen-Lebens. - Kommt man aus dem Ausland nach Deutschland zurück, fällt sofort auf, dass der öffentliche Raum (Straße, Park, öffentliche Verkehrsmittel) offenbar weiterhin häufig und gerne Exerzierfeld für Erziehung und Bestrafung von Kindern (und Hunden!) ist. Der öffentliche Maßregelvollzug besteht darin, Kinder hinter sich her zu zerren, sie zu schlagen, wenn sie sich dem erwachsenen Rhythmus nicht anpassen können (oder wollen), sie im Befehlston anzuschnauzen, anzuherrschen (!). Für viele gestresste deutsche Erwachsene ist offensichtlich jede kindliche Reaktion ein Fehlverhalten und gehört bestraft. Die Kinder werden öffentlich bloßgestellt. Wie mag es dem einen oder anderen Kind im so genannten geschützten Raum der Familie gehen. -Ergänzung: Nach einer Anfang März 2012 veröffentlichten Studie der Zeitschrift Eltern findet fast die Hälfte der Deutschen gelegentliches Schlagen, Ohrfeigen, den berühmt-berüchigten Klaps als Erziehungsmittel in Ordnung, fünf Prozent setzen auf Prügel. Sie tun es, aber mit schlechtem Gewissen. Ob das ein Fortschritt ist...? 

 

Astrid Dehe Achim Engstler
Kafkas komische Seiten - Ein Lesebuch
Steidl Verlag, 2011, geb., 324 S., EUR 29.80
ISBN-13: 9783869303628
ISBN-10: 386930362X, Best.Nr.: 335837




Kafkas Lachanfälle waren legendär. Sie störten seine eigenen Lesungen, brachten ihn bei seinem Beamtenjob in die Bredouille, und selbst beim Pessachfest mit der Familie wurde er von Lachkrämpfen geschüttelt. Dass Kafka auch andere erheitern wollte, daran besteht kein Zweifel. Schon seine Freunde Max Brod und Felix Weltsch haben darauf hingewiesen. Dennoch dominierten bisher Lesarten, die mit Kafka die tödlichen Folgen einer Diktatur zu begreifen oder eine lebensfeindliche Philosophie zu illustrieren suchten. Man las die Kafka-Bände so nachtschwarz, wie sie eingebunden waren. Dagegen ist nichts zu sagen jede Zeit hat ihren Kafka. Nur hat keine den ganzen. Kafka bleibt Kafka, ein ruheloser, zwanghaft scheiternder Mensch, ein Schriftsteller, zu dessen Kosmos Folter- und Suizidphantasien gehören, Parabeln unendlicher Suche und Maschinen, die durch Schrift töten. Nun aber haben Astrid Dehe und Achim Engstler die ebenso zahlreichen komischen Textstellen in seinem Werk gesammelt. Ihre klugen und unterhaltsamen Essays machen es möglich, Kafka ganz neu zu entdecken. Jetzt kann man noch mehr lachen mit und über Kafka.(Klappentext) 

 

Wend Kässens
Das Große geschieht so schlicht – Unterwegs im Leben und Schreiben
Hardcover mit Schutzumschlag, Fadenheftung,176 Seiten, EUR 26,90 
Corso Verlag Hamburg, 2011, ISBN 978-3-86260-028-6

 


Für Brigitte Kronauer sind es Meer und Wald - ist die Natur die Kraftquelle, die sie für ihre literarische Arbeit braucht, sie sieht die Kunst mit der Natur im Bunde; Peter Kurzeck erzählt sich und uns immer neu und minutiös sein Zeitalter, in dem sein Leben (mit Herman Melville gesprochen) eine Reise ist, die heimwärts führt. Ingo Schulze sieht in den Küsten ein gemeinsames Projekt mit zahlreichen Verbindungen. Künstlerleben, literarische Arbeit und Welterfahrung sind nicht voneinander zu trennen. Darüber geben zehn Autorinnen und Autoren Einblicke in ihr Verständnis von Leben und Schreiben: Brigitte Kronauer, Peter Kurzeck, Katja Lange-Müller, Clemens Meyer, Hanns-Josef Ortheil, Ingo Schulze, Uwe Timm, Wolf Wondratschek, Feridun Zaimoglu, Juli Zeh. Über das Glück und die Faszination des Schreibens, Dichtens, Unterwegsseins. Und über das Denken hinter dem Schreiben, über Gelingen und Scheitern.

 

Den tschechischen Eisenbahner Alois Nebel plagen Geisterzüge aus der Vergangenheit. In seinen Tag- und Alpträumen fällt er in den Sog der brutalen Geschichte Mitteleuropas. Alle Züge fahren nach Fahrplan, auch die nach Auschwitz. Um sich zu beruhigen, liest der Fahrdienstleiter auf der Diensttoilette in seiner Fahrplansammlung. "Hundert Fahrpläne, hundert Jahre Geschichte übereinander gestapelt", seufzt der Comic-Held. Seit 2003 sind in Tschechien drei Bände mit Eisenbahner Nebel herausgekommen. Jetzt ist die Trilogie in einem Band auch auf Deutsch erschienen. Mit seiner schrulligen Art ist Alois Nebel in Tschechien berühmt geworden. Die Idee zu einem Schwejk ohne dessen Boshaftigkeit ist dem Autoren-Duo Jaroslav Rudiš und Jaromir Švejdik vor knapp zehn Jahren in der Prager Kneipe Zum ausgeschossenen Auge gekommen. Damals ratterten noch die Eisenbahnzüge quer durch das Szene-Viertel Žižkov. Die scharfen Scherenschnitte des Zeichners Švejdik geben dem Comic-Roman einen Hauch des amerikanischen Film noir der 1940er Jahre. Die Autoren stammen aus den ehemals von Deutschen bewohnten Gebieten Nordböhmens. "Es hat eine gewisse brutale Romantik", sagt Rudiš über seine Heimat. Die Vertreibung der Deutschen habe eine Narbe durch die Landschaft gezogen. "Man spürt sie immer noch, aber es hat auch eine unheimliche Anziehungskraft."

Alois Nebel liegt in der kongenialen Übersetzung von Eva Profousová vor. Der Verlust eines gewissen Sprachwitzes ist allerdings bei der Übersetzung von Alois Nebel unvermeidbar. "Ich verwende im Tschechischen, um mich der Stimmung anzunähern, sehr viele Germanismen", sagt Rudiš. Im Eisenbahner-Jargon gebe es sehr viele solcher Wörter. Weil Tschechen mit dem Umlaut kämpfen, wird der Lokführer dann verkürzt "Fierer" gerufen. Er gibt gerne zum Besten, wie er als frischgebackener Comic-Debütant in eine der großen Buchhandlungen auf dem Prager Wenzelsplatz ging. Nach Weißbach gefragt, dem ersten Band der Nebel-Trilogie, schickte ihn die Verkäuferin unvermittelt in die Abteilung für Eisenbahnliteratur. Neun Jahre später hat jede Buchhandlung in Prag, die etwas auf sich hält, ein eigenes Regal für Comic-Literatur. (m.heitmann, tagesspiegel)


Erich Mühsam – Tagebücher, Band 1, 1910 – 1911,
Hrsg. Chris Hirte und Conrad Piens der Gesamtausgabe,

352 S., geb., Verbrecher Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-940426-77-2


 

 

Fünfzehn Jahre lang, von 1910 bis 1924, hat Erich Mühsam sein Leben festgehalten: ausführlich und klar, stilistisch pointiert, schonungslos auch sich selbst gegenüber, witzig und nie langweilig.
Was diese Tagebücher so fesselnd macht, ist der wache Blick des Weltveränderers: ein Leben ohne moralische Scheuklappen, ohne Rücksicht auf Konventionen. Auch das Schreiben ist für ihn Aktion, in allen Sätzen schwingt die Erwartung des Umbruchs mit, den er tatsächlich mit herbeiführt: Die Münchner Räterevolution ist auch die seine, und die Rache der bayerischen Justiz trifft ihn hart. Mühsams Tagebücher sind ein Jahrhundertwerk, das es noch zu entdecken gilt, sie erscheinen in fünfzehn Bänden - und zugleich als Online-Edition. Die von Chris Hirte und Conrad Piens gewissenhaft edierten Textbände werden im Internet unter
http://www.muehsam-tagebuecher.de veröffentlicht, begleitet von einem Anmerkungsapparat mit kommentiertem Namensregister, Sacherklärungen, ergänzenden Materialien, Suchfunktionen - es entsteht eine historisch-kritische Ausgabe. In dem ersten Band geht es vor allem um Mühsams zentrale Rolle in der Münchener Boheme.
Erich Mühsam, geboren am 6. April 1878 in Berlin, war ein Dichter und politischer Publizist. Er war maßgeblich an der Ausrufung der Münchner Räterepublik beteiligt, wofür man ihn zu fünfzehn Jahren Festungshaft verurteilte. 1925 wurde er amnestiert, 1933 erneut verhaftet und am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg von der SS-Wachmannschaft brutal ermordet.

 

edition suhrkamp 2647, Broschur, 336 Seiten
15,00 Euro, ISBN: 978-3-518-12647-9


Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer und sein Team haben herausgefunden, dass es nicht mehr nur eine Ungleichhe
it in der Gesellschaft gibt, sondern sich eine regelrechte Ideologie der Ungleichwertigkeit etabliert hat. Soziale Ungleichheit gab es immer schon, neu ist die eklatante Abwertung der Schwachen durch die gut verdienenden, wohlhabenden Deutschen. Zum Beispiel: Rund 35 % wollen, dass Obdachlose aus Fußgängerzonen verschwinden, 61 % gar stört, dass im Sozialstaat zu viele Schwache mitversorgt werden müssen. Der Satz, viele seien an ihrer Lage selber schuld, wird nur noch als Behauptung verwendet, die nicht einzeln überprüft, sondern auf alle bezogen wird, deren Status geringer zu sein scheint als der eigene. Das durchaus gerne heraufbeschworene Schicksal des Einzelnen ist nämlich überhaupt nicht mehr gefragt. Diskriminiert wird eine als schwach und labil markierte Gruppe: etwa durch behauptete Bildungsferne, einem Begriff, dessen Siegeszug mit der Installierung eben dieser neuen gesellschaftlichen Zugehörigkeiten durch Bildungsbürger und andere so genannte Leistungsträger begann. Das mittlerweile vorherrschende ökonomistische Menschenbild muss notwendig andere abwerten, beispielsweise Langzeitarbeitslose. In ihrer Selbstwahrnehmung sehen sich Gutsituierte selbst wegen ihrer Effizienz, Nützlichkeit und Verwertbarkeit immer gerne als einzige Leistungsträger. Ihre eigene Sozialisierung geht oft einher mit Abschottung (Wohnlage, Schule, Freizeit) und bestimmten Verhaltensmustern. Auffällig ist dabei immer die Gleichgültigkeit gegenüber Anderen, die man als Schwächere stigmatisiert. Spätestens mit der Schaffung von Hartz IV 2005 hat sich eine elitäre Parallelgesellschaft gebildet, in der sie als vermeintlich alleinige Leistungsträger kein Interesse an gesellschaftlich relevantem Konfliktpotential, an sozialen Problemen haben; jenseits aller unterschiedlicher politischer Bekenntnisse herrscht übereinstimmend ein eisiger Jargon der Verachtung. Es geht nicht mehr um das Gemeinwesen, sondern nur noch um Abschottung und Sicherung des eigenen Status und eigener Besitzstände. Sukzessive hat eine Umverteilung von unten nach oben stattgefunden. Der Spitzensteuersatz wurde gesenkt, Aktiengewinne werden niedriger besteuert als viele Arbeitseinkommen. Die so genannten Eliten möchten nicht mehr vom Sozialstaat zur Kasse gebeten werden, sondern die Freiwilligkeit der gebenden Hand bemühen, das Recht der Armen auf Hilfe umwandeln in die feudalistische Geste einer Gnade des Gebens. Es herrscht bereits Klassenkampf von oben. Bei Bedrohung des eigenen Lebensstandards würden drei Viertel (!) der besser gestellten Bürger die Solidarität mit den Schwachen noch deutlicher einschränken wollen als bisher und sich von den gesellschaftlichen Normen wie Gerechtigkeit, Solidarität, Moral und Fairness verabschieden. Obsolet geworden sind sie ihnen längst. Kommen noch andere Vorurteile hinzu (beispielsweise Fremdenfeindlichkeit/Rassismus, Sexismus) wird das zeitgenössische Gesellschaftsbild noch erschreckender. Es ist schauriges Gruselkabinett und Horror Pictureshow in die Zukunft. Man sollte die mit der Lektüre gewonnenen Erkenntnisse im Kopf behalten, zum Beispiel während über Griechenland diskutiert wird. - Der vorliegende Band umfasst Ergebnisse von Studien des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, dessen Direktor Prof. Wilhelm Heitmeyer ist. Geforscht wird dort unter anderem zum Thema Gruppen-bezogene Menschenfeindlichkeit. Mittels der Langzeitstudie Deutsche Zustände wird die Entwicklung von Einstellungen und Vorurteilen gegenüber Minderheiten untersucht.

Aus dem Klappentext: Das Land hat sich verändert, seit 2002 der erste Band dieser Studie erschien: Hartz IV wurde eingeführt, einem Rückgang der Arbeitslosigkeit folgte ab 2008 die Bankenkrise; im Zuge der Fußball-WM wogte der Party-Patriotismus durchs Land; 2010 beherrschten Sarrazins umstrittene Thesen die Schlagzeilen. Der kurzfristigen Aufmerksamkeit der Medien setzen Wilhelm Heitmeyer und sein Team ihre Langzeitumfrage entgegen. Seismographisch dokumentieren sie die Ängste der Menschen, ihre Einstellung gegenüber schwachen Gruppen und der Demokratie. Zuletzt konnten sie zeigen, dass Teile des Bürgertums die Solidarität mit denen da unten aufkündigen und einen eisigen Jargon der Verachtung pflegen. In der zehnten und letzten Folge ziehen sie nun eine wissenschaftliche und persönliche Bilanz. /ks

 

Klaus Hanisch, Echt Prag

301 S., geb., s-w Abb., Wiesengrund Verlag 2012

EUR 19,80; ISBN-13: 9783942063722

 

 

 

Prag ist eine Stadt mit großer Tradition. Und sie ist eine der schönsten Hauptstädte in Europa, die jedes Jahr Millionen von Touristen anzieht. Doch was wissen Besucher wirklich von den Menschen und dem Leben dort? Seit zwei Jahrzehnten arbeitet und recherchiert Klaus Hanisch als Reporter in Prag. Während dieser Zeit hat er viele Ereignisse beobachtet und zahlreiche Menschen getroffen. Millionäre und Leute, die nicht mehr Millionäre sein wollten. Priester und Prostituierte. Zeitzeuginnen, die das Leben im mystischen Prag vor dem Krieg kannten und das im Ghetto Theresienstadt während der Kriegsjahre erleiden mussten. Längst hat sich Prag zu einer internationalen Stadt entwickelt, in der jeder achte Bewohner ein Ausländer ist. Begegnungen mit ihnen und heimischen Bürgern spiegeln in diesem Buch das moderne Prag in all seinen Facetten wider. Auch Geschichte und Vergangenheit dieser faszinierenden Stadt bekommen dadurch einen aktuellen Akzent. Im Ergebnis ergibt sich ein Bild von Prag, das die Stadt als eine lebendige Metropole zeigt und nicht als ein blutleeres Museum zwischen Burg und Altstädter Ring, wie in Reiseführern oft beschrieben (aus dem Klappentext).

  

Kafka für Afrikaner

Graphic Novel von Judith Vanistendael
Aus dem flämischen Niederländisch von Andrea Kluitmann
Handlettering von Judith Vanistendael
152 Seiten, sw, 19 x 25,5 cm, Klappenbroschur, ISBN 978-3-941099-42

 

Die 19-jährige Belgierin Sofie kommt aus einem wohlsituierten und weltoffenen Elternhaus. Doch als Sofie ihren Eltern eröffnet, sie habe sich in einen jungen Togolesen ohne Aufenthaltsgenehmigung verliebt, findet sich die Familie in einem Chaos aus Verlustängsten, Vorurteilen und den bürokratischen Albträumen des Asylsystems wieder…

 

In ihrem semiautobiografischen Erstlingswerk widmet sich die Belgierin Judith Vanistendael mit Leichtigkeit und Humor dem Schicksal illegaler Einwanderer, ohne dabei je deren Leid zu verschweigen.
Kafka für Afrikaner ist eine ergreifende und mitreißende Erzählung, die weit über die Liebesgeschichte hinausreicht, mit der sie ihren Anfang nahm. Judith Vanistendael, geboren 1974 in Leuven, Belgien, studierte Kunst in Berlin, Gent und Sevilla und besuchte die renommierte Comicschule Saint-Luc in Brüssel. Sie illustrierte eine Reihe von Kinderbüchern und legte einige kürzere Comics vor.  

 

 

 







Die Zeichnerin und Illustratorin Stefanie Harjes hat sich von Kafkas Texten inspirieren lassen und kombiniert ihre Illustrationen zu Ausschnitten aus Romanen, Erzählungen und Kurztexten. Sie sind sehr persönliche, fast intime Antworten auf die Fragen, die – wie sie sagt – Kafka ihr bei seinen nächtlichen Besuchen in ihrem Atelier gestellt hat. Das Ergebnis ist ein ungewöhnliches Lese- und Schau-Buch, das 2011 auch die Jury von Die schönsten deutschen Bücher überzeugte. Ihre Begründung der Prämierung: „Durchkomponiert vom gezeichneten Einband über Vorsatz, Schmutztitel, Inhaltsverzeichnis und einem so mustergültigen wie zurückgenommenen Satz, entsteht ein derart dichter Kosmos, dass das Bild kein Beiwerk und der Text keine Erläuterung mehr ist: ein Amalgam, das Kafkas Versenkung wie seiner Getriebenheit nahekommt."
Stefanie Harjes, vielfach preisgekrönte Illustratorin, ist auch als Dozentin für Buchillustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) tätig.

Keine weitere Illustration zu Kafkas Texten, sondern Auseinandersetzung, Inspiration und Dialog zwischen Text und Kunstwerk. Gelungene Montage. Empfehlenswert! 

 

 Franz Kafka, Stefanie Harjes

Kafka - Originalausgabe. 
108 Seiten Ab 12 Jahren
 ISBN 978-3-473-35308-8.



 

 

 

 

 

 







 

Europäische Erinnerungsorte 2  
Das Haus Europa
626 S., 51 Abbildungen, schwarz/weiß, Leinen, geb., Oldenbourg Verlag, 2012
ISBN 978-3-486-70419-8, € 49,80
 


Die Diskussion über den Euro-Rettungsplan, die Finanzhilfen für Griechenland, Portugal und Irland, die Einführung schärferer Grenzkontrollen durch Dänemark haben einen neuen Streit über die Europäische Union entfacht. Driften die europäischen Staaten nach 60 Jahren der immer intensiveren und weiträumigeren Integration wieder auseinander? Spiegeln die Wahlbeteiligungen bei den Europawahlen eine Systemkrise? Geht uns der Sinn für die europäischen Gemeinsamkeiten verloren? Autorinnen und Autoren aus mehr als fünfzehn Ländern zeigen eine Vielzahl von Erinnerungsorten, die für die Menschen aller europäischen Länder eine Bedeutung haben, die ihre Identität mit formen und die wir mitdenken, wenn wir "Europa" sagen. Erstmals werden nicht die Erinnerungsorte einer einzelnen Nation, Region oder Epoche beschrieben, sondern Konzepte, Plätze, Ereignisse, Kunstwerke, Konsumgegenstände, die gesamteuropäisch von Bedeutung sind.

Der zweite Band illustriert diese Faktoren anhand von Fallbeispielen wie Der Stier, Europa-Hymne, Aachener Karlspreis, Mona Lisa, Dantes „Commedia divina“, Goethes „Faust“, Beethovens „IX.“, Rom, Anne Frank, Frauenemanzipation, Die Alpen und das Erlebnis „Berge“, Auschwitz, Die U-Bahn, Das Kaffeehaus, Liberté – Égalité – Fraternité, Die Völkerschlacht bei Leipzig, die KSZE, Pizza und Pizzeria. Ein kenntnisreiches, vergnügliches und ernstes Buch über Europa, seine Mythen, seine mannigfachen Erbschaften, seine schrecklichen großen und kleinen Kriege, Freiheit und Unterdrückung, Politik und Kultur, Bilder und Schlagworte.

 

Klaus-Michael Bogdal
Europa erfindet die Zigeuner
Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. 
592 S., geb,. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 24,90 Euro, ISBN 9783518422632

 

 

 

 

 

Wie konnte es dazu kommen, dass die Roma seit ihrer Ankunft in Europa ausgegrenzt und verfolgt wurden? Was liegt den Stereotypen und Klischees zugrunde, die bis heute fortdauern? Lauter Fragen, die sich angesichts des bedrohlichen Wiederauflebens des Anti-Ziganismus in Europa erneut stellen. - Der Autor zeigt, wie Roma in der Literatur dargestellt werden, benutzt ethnographische Werke, Chroniken, Kirchen- und Rechtsdokumente und findet bei der Lektüre Parallelen zur gegenwärtigen Situation. Wie im Übergang vom Spätmittelalter zur Moderne versuchen Staaten im Zuge der EU-Erweiterung, an einer nationalen Einförmigkeit festzuhalten und sich gegen Minderheiten abzugrenzen. Anti-Ziganismus ist konstitutives Element der europäischen Geschichte. Die Erschaffung des Fremden, des Anderen dient dem Bedürfnis der Mehrheit, sich von den Roma zu distanzieren. Am Abstand zu den „Zigeunern“, denen man eine Unfähigkeit zur Zivilisierung unterstellt, will man den Fortschritt der eigenen Kultur messen. (s. hier auch: Roma-Sinti-Symposium)

Leseprobe: http://www.suhrkamp.de/download/Blickinsbuch/9783518422632.pdf

   

Otto Pankok, Sinti Porträts.

Einer der schönsten Kataloge der letzten Jahre,

herausgegeben vom kleinen Verlag Damm und Lindlar, Berlin,

der u.a. auch das Werk von Peter Kien präsentiert

 

 

 

 

 

 

 

 

 



 

 

Peter Wawerzinek, Rabenliebe, Verlag Galiani Berlin, geb., 432 Seiten, € 22,95
Zeitlebens leidet Peter Wawerzinek unter dem Gefühl von Verlassenheit, Verlorenheit und seiner Mutterlosigkeit. Nach dem Mauerfall lernt er seine Mutter und acht Halbgeschwister kennen, doch Freude und Vertrautheit stellen sich nicht ein. Viele Kinder seiner Generation (*1954) wurden zur Adoption frei gegeben, ins Heim gesteckt oder zu Großeltern abgeschoben, im Osten wie im Westen. Darüber geredet wurde nicht. Wawerzinek schrei(b)t sich seine traumatische Kindheit und Jugend förmlich aus dem Leib. Er pocht auf das Recht eines Kindes, geliebt und geschützt zu werden, und beschreibt seine Gewalterfahrungen schonungslos und expressiv, als könne er ihnen und den seelischen Torturen so zumindest einen kleinen Teil des Schreckens nehmen. Wer Ähnliches erlebt hat, wird dieses krasse, heillose Durcheinander von Verzweiflung, Wut, Trotz und Aufbegehren, die tiefe Traurigkeit sofort verstehen, wem solche Erlebnisse glücklicherweise erspart blieben, erfährt darüber hinaus viel von kindlicher Sehnsucht und Hoffnung, die ein ganzes Leben prägt.


Andrea Hanna Hünniger, Das Paradies. Meine Jugend nach der Mauer, Tropen bei Klett-Cotta 2011, 216 S., 17,95 €

„Die Vergangenheit ist kein fremdes, exotisches Land. Sie ist eine verscharrte Leiche, die nur als Zombie in Form von Talkshows oder Quizshows zu uns zurückkehrt und die wir nicht verstehen, [...] Es gab nur Unsicherheit und Schuld. Ich teile mit vielen jungen Ostdeutschen die Erziehung durch melancholische, ja depressive, eingeknickte, krumme, enttäuschte, beschämte, schweigende Eltern und Lehrer

Andrea Hanna Hünniger erzählt von einem Land, das die Deutsche Einheit wie ein Kahlschlag, ein Raubzug, eine Brandrodung trifft. Während die Eltern sich hinter den Plattenbaumauern verschanzen, erziehen die Kinder sich selbst zwischen der Kleingartensiedlung, die alle das Paradies nennen und den Probierständen im Supermarkt, wo es den Helmut-Kohl-Gedenkkuchen gibt, den man mit der Verpackung essen kann.

 

"Sie, meine Leserinnen und Leser, können weiter die Rätsel und Paradoxien der jüdischen Assimilation entwirren. Ich unterbreite Ihnen diese generationsübergreifenden Leben in Berlin als Kurzdramen, welche die Spannung zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen, dem Gefesselten und den Freien, dem Ethnischen und dem Kosmopolitischen, dem Traditionellen und dem Modernen enthüllen. Die Erkundung muss uns, die wir heute leben, helfen, gute Entscheidungen über Nationen, Glaube und Familie zu treffen, im vollen Bewusstsein der Schwierigkeit, Glück in einer Welt brutaler Zwänge zu finden." (aus dem Epilog, S. 291f)

© Campus Verlag, Frankfurt/Main

 

Man kann nur staunen, wie sich Debatten über Assimilation und Integration gleichen, wie unterschiedliche Wege aber gegangen werden können, welche Möglichkeiten sich daraus ergeben, aber auch welcher Preis bezahlt werden muss. 

 

Jenny Schon (Hg.) - Wo sich Gott und die Welt traf

Geest-Verlag 2011
ISBN 978-3-86685-304-1
296 S., 12,50 Euro

 

 

Die Herausgeberin Jenny Schon bat Zeitzeugen um ihre Berichte über die ersten Jahre nach dem Mauerbau, der am 13.August 1961 begann. Der weltweite Kalte Krieg hatten einen seiner sichtbaren Höhepunkte erreicht. Mit der Teilung Deutschlands war auch die Teilung Europas bis auf weiteres besiegelt. Die ersten Jahren waren geprägt von Aufrufen zur Solidarität: Westdeutsche Facharbeiter sollten sich in West-Berlin ansiedeln.Der Deutsche Bundesjugendring appellierte an Jungfacharbeiter im Alter von 20 bis 25 Jahren mit abgeschlossener Ausbildung, ein Jahr lang in West-Berliner Betrieben zu arbeiten.

Jenny Schon war eine von sechshundert Westdeutschen, die bis Dezember 1961 tatsächlich in die Halbstadt kamen - und wie viele ist sie bis heute geblieben. Über drei Jahrzehnte war West-Berlin Anlaufstelle und Zufluchtsort, nicht nur für Wehrdienstverweigerer, Aussteiger und Kreative; es war eine faszinierende Insel, ein Mythos, der Strahlkraft hatte im Westen wie im Osten. Wie die Neu-BerlinerInnen ihr Leben ab 1961 gestalteten, davon erzählt dieses Buch. 

Im Geest Verlag sind folgende Bücher der Autorin erschienen:
Der Augsburger Friedenssamen; Böhmische Polka; Wie Männer mich lehrten die Bombe zu halten und ich sie fallen ließ
  

Von Vogelmenschen, Piloten und Schamanen 

Hg.: Thomas Hauschild, Britta N. Heinrich, Jörg Potthast, Viktoria Tkaczyk

136 S. mit Abb., edition AZUR, Dresden, ISBN 978-3-942375-03-0

 

Das Buch erschien anlässlich der Ausstellung Der Traum vom Fliegen – The Art of Flying im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Den Ausstellungs-MacherInnen ging es nicht hauptsächlich um die Darstellung der technischen Entwicklungsgeschichte von Flug- und Raumfahrten, sondern um eine „anthropologische Genealogie des Fliegens“. Die Entwicklung des Menschen ist eng mit seinen Bewusstseinsvorstellungen vom Fliegen verknüpft. Evolutionsbiologisch ist die Spezies Mensch das Tier, das gezielt werfen (und geworfen werden) kann, zunächst mit Steinen, Schleudern, Pfeil und Bogen, später mit Schrift und Sprache. Mit den technischen Errungenschaften - Erfindung und Bau von Apparaten und Maschinen - wird der uralte Traum vom Fliegen wahr. Es waren Flugpioniere aus unterschiedlichen Wissenschaften und Künsten, Frauen und Männer, zu allen Zeiten, die die Geschichte des Fliegens aus ihren jeweiligen Perspektiven betrachtet und weiter voran getrieben haben.

Man weiß, dass Vögel genetisch von den Dinosauriern abstammen. Mithilfe vieler Anpassungsprozesse entwickelten sie sich in Millionen von Jahren zu den Lebewesen, die die Menschen immer bewundert und deren Geheimnisse sie längst nicht alle entschlüsselt haben. Sie können Zehntausende Kilometer fliegen ohne die Orientierung zu verlieren, sie verfügen über ein sensibles soziales Sensorium, Fähigkeiten, die nicht geklärt sind. Durch Anschauung, Beobachtung und Nachahmung haben die Menschen gelernt, sich natürlicher Prozesse zu bedienen, sie zu imitieren, zu simulieren und künstlich herzustellen. Zwischen Himmel und Erde waren die Vögel unterwegs, offenbar leichter als die Luft, sie waren Konkurrenten im Kampf um Nahrung, manchmal Feinde. Die Menschen fürchteten sie, aber waren vor allem fasziniert von ihrem majestätischen Flug, ihrer Schnelligkeit und Schönheit; als Vogelgötter oder mächtige Vogelmenschen wurden sie in allen Kulturen verehrt - als arabischer Vogel Roch, Vogel Greif im Märchen, als Federschlange der Indianer oder altägyptischer Horusfalke, als Drachen fanden sie exklusiven Platz in allen Mythologien. Die verehrte wie gefürchtete Götterwelt rauscht auf riesigen Schwingen übers Firmament, die Engel des Islam und des Christentums schweben geflügelt auf Wolken und treffen dort auf asiatische Zauberer und buddhistische Heilige, die Hexen nehmen praktischerweise ihre Besen. Alle Gottheiten konnten fliegen, mit oder ohne Hilfsmittel. Die diffizilen, farbenprächtigen und schillernden Federn wurden Insignien von Macht, mit denen sich Menschen schmückten, die Schamanen benutzen sie für ihre Rituale, als Wappentiere (Adler) dienen sie bis heute vielen Nationen als Emblem ihrer Souveränität. Der Himmel ist in vielen Religionen zwar erstrebenswertes Ziel, weil Sitz der Göttinnen und Götter oder des einen ewigen Gottes, aber auch Tabubereich für alle Sterblichen. Ikarus ist an seinem Übermut und seiner Selbstüberschätzung gescheitert, Prometheus, der das Licht brachte, wird an den Kaukasus gefesselt und Geier zerhacken (nicht nur) seine Leber. Die frühen Menschen benutzten ihre Fähigkeit, Pfeile und Wurfäxte zu werfen und verfeinerten sie. Sie schufen sich immer mehr Hilfsmittel -z.B. Waffen: Fliegen ist auch mit Herrschaft und Krieg konnotiert. Wer den Luftraum besetzt, verfügt über Macht, auch via Satelliten für die immer schnellere Datenübertragung. Überliefert ist zudem die Fähigkeit, sich selbst und seine Umgebung von oben - schwebend - zu betrachten. Als Zweibeiner, der nach der Geburt lange herumgetragen wird, in den Armen, auf Rücken und Schultern, entwickelt der Mensch eine spezifische Körperlichkeit, ein ausgeklügeltes Zusammenspiel von Gleichgewichtsorgan, Gehirn, Nerven und Muskeln. Das Bewusstsein darüber schärft die Sinne für das Machbare, ist aber auch Nahrung für den Traum vom Fliegen. Der ist nicht ausgeträumt, weil wir uns mittlerweile gedankenlos in einen Billig-Flieger setzen können, der die gewünschten Erlebnisse meist nicht bietet; die Techniken der Beherrschung von Waffenarsenalen, von Maschinen mit hohem Energieverbrauch beinhalten vielleicht bereits ihr Ende. Der Traum vom selbstbestimmten Fliegen ist allerdings nicht zuende geträumt, weil er auch menschliche Lust und Leidenschaften beinhaltet, die Suche nach Spiritualität und Transzendenz.

Der völlig freien Bewegung in Raum und Zeit gilt immer noch die Sehnsucht der Tüftler, Bastler und Flugsportler; die Aufhebung von Raum in Zeit durch Rausch und Trancezustände wird millionenfach versuchsweise mit Drogen aller Art hergestellt. Immer geht es um den einzigartigen Kick, den Flow, den man beim Fliegen erleben kann. Erste Erfahrungen machte man in der Kindheit mit dem Hochgeworfen- und Aufgefangen-Werden, dem Rutschen, Schliddern und Gleiten, den Erlebnissen von Beschleunigung, dem Hoch-Gefühl des Schaukelns bis in den Himmel hinein.

Ein weiterer Reader über die Entwicklung des Fliegens ist dieses Buch nicht. Auf kompetente Weise werden unkonventionelle, allesamt lesenswerte Verknüpfungen hergestellt: physiologisch sind drei Botengänge für menschliches Gleichgewicht und die Balance im Raum zuständig, Störungen verursachen Schwindel, Ohrensausen und Gefühle des Abhebens; die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins ist sowohl mit diesem Schweben verknüpft, als auch mit der Fähigkeit zu werfen und in Vorstellung und Traum fliegen zu können. Es gibt Nahtod-Erfahrungen von Menschen, die buchstäblich aus dem eigenen Körper gefahren sind und das Geschehen von oben betrachteten. Bewegung, Tanz, Beschleunigung als körperliche Entgrenzungen sind Versuche, Flow-Erfahrungen, auch in Rausch und Trance, herzustellen - wie es die Kunst der Schamanen seit alters her tut. Ein kurzweiliges und interessant bebildertes Vergnügen. Näheres zum Verlag: www.edition-azur.de; s.a. hier: Auf der Galerie

 

Adam Mansbach/Ricardo Cortés, Verdammte Scheiße, schlaf ein!

Dumont Buchverlag, Hardcover, 32 S., 17 farbige Abb., 9,90 €

ISBN 978-3-8321-9658-5  

 

 

Welch ein medialer Hype! Ein junger (34), sehr ambitionierter Autor von bisher zwei Romanen, mehreren Erzählungen und Essays, darüber hinaus Professor an der Rutgers University wird Vater einer mittlerweile dreijährigen Tochter. Er beginnt auf facebook über die vorher vollkommen unbekannten Zumutungen zu klagen, die so eine Vaterschaft mit sich bringen kann - und erhält alsbald tausendfache Zustimmung. In sehr geschäftstüchtigem Alter beschließt er, aus seinen Erfahrungen ein Buch zu machen, das zum Bestseller avanciert. Es sind kurze Texte vordergründiger Verzweiflung in Reimform, begleitet von einem Zeichner, der schon Bücher über Marihuana, Elektrizität und chinesisches Essen illustriert hat. Ein vergnügliches Trostbuch für verzweifelte Eltern will es laut Untertitel sein, zum Vorlesen für Kinder eignet es sich auch nicht. Die würden nämlich schnell merken, wie auf ihren Rücken die Egoismen der Erwachsenen ausgetragen werden sollen. Merkwürdig: Ein Mann muss Anfang des 21. Jhdts. feststellen, dass kleine Kinder wirklich ab und zu, manchmal auch häufig, schreien, plärren, flennen, weinen, wimmern - je nach Stimmungslage und körperlicher Entwicklung. Haben sie das vorher nie bemerkt? Und wenn nicht, warum eigentlich nicht? Wenn man sich Debatten in Parlamenten anschaut, in denen es um Kinder und deren Betreuung, Bildung, die Situation von Müttern geht, meist von flotten Männern geführt, kann man erahnen, warum alles dermaßen im Argen liegt. Wer wissen will, was in einem kleinen Körper und seiner Seele passiert, dem sei eher Margaret S. Mahler und die eigene Introspektive empfohlen. Als Geschenk empfehlenswert für Männer, die immer schon wussten, dass ausgerechnet jetzt der unglücklichste Moment für Kinderplanung ist, weil es ihnen momentan einfach nicht in den Kram passt; für Frauen, die zwischen der eigenen und seiner Karriere hin und her flippern und nicht wissen, wo ihnen der eigene Kopf steht - und für schlaue Kinder, die vom merkwürdigen Jargon der lieben Eltern lernen können, wenn sie wollen. Das Hörbuch sozusagen - leider nur auf Englisch, dafür wunderbar sedierend (!)vorgetragen von Samuel L. Jackson :  

 

   

Friederike Mayröcker, vom Umhalsen der Sperlingswand

oder 1 Schumannwahnsinn, Suhrkamp Verlag,  Berlin 2011

ISBN 978-3-518-42198-7

 

Sie tauchen als Umriß auf, schieben sich als Schatten vor die Großstadtkulisse und werden nur als Aussparung sichtbar im Text, der sie ins Leben ruft, in luftige Höhen wirbelt und tiefe Abgründe stößt: Robert und Clara Schumann, der Komponist und die Pianistin, und ihnen zur Seite die Schreiberin und ihr Gefährte, zwei Liebespaare im Reigen – sie drehen sich miteinander und umeinander durch ein Assoziationslabyrinth, an dem nur die Wegkreuzungen deutlich markiert sind: die Heilanstalt in Endenich, das Wiener Kaffeehaus Drechsler, das »Soffa« des Komponisten, auf dem sich die Liebenden immer aufs neue mit ihrer verrückten Leidenschaft anstecken (Klappentext).

Mayröcker schreibt immer noch magisch erfüllte Sätze, noch immer Wildnis im Kopf und produktives Chaos in ihren Zettelkästen; vieles entsteht aus Einsamkeit und ist voll von ihr, aber: Ach! Die Waage zu finden zwischen den Lustgärten der Sprache und den Schluchten der Sprache oder Schluchzen der Sprache auch Geisterwelt.


Ernst Weiß (1882-1940 -  Selbstmord, als deutsche Truppen Paris besetzen) war Arzt, Schriftsteller und Dramatiker, der wie viele Autoren des Prager Kreises durch politische Umbrüche und den posthum enorm wachsenden Ruhm Franz Kafkas in dessen Schatten kaum gesehen wurde.  

In 27 Essays, die heutigen Schülern und Studenten in ihrer Textform als grandiose Beispiele gelten können, vermittelt Ernst Weiß eine intensive Sprache zu Autoren (Flaubert, Goethe, Wedekind), Entdeckern (Conrad, Shackleton) sowie den Themen Kunst, Malerei und Musik. Sein Stil brennt förmlich durch im besten Sinne mit-reißende Spannung.
Diese vielseitige Essaysammlung war seit über 80 Jahren vom Buchmarkt verschwunden und ist somit eine exemplarische Wiederentdeckung. Aus diesem Grund wurde der Band aufgenommen in die einzigartige Buchreihe Zu Unrecht vergessene Publizisten des 18.-20. Jahrhunderts.
Das „Unverlierbare“ im Essayband ist für Weiß die geistige Kontinuität, mit der man von vorigen Generationen zehrt und ihre kulturellen und geistigen Errungenschaften weiter tradiert
 (aus dem Vorwort von Prof. Erhard Bahr, University of Los Angeles). Herausgeber der Reihe: Dr. Carsten Schmidt, s. hier auch: Felix Weltsch; s.u.: Theodor Herzl, die nach Vorschlägen namhafter internationaler GeisteswissenschaftlerInnen monatlich einen Band herausbringt. 

  

Gerd Hankel

Das Tötungsverbot im Krieg

Ein Interventionsversuch

Gebunden, 131 Seiten, 12,00 Euro, ISBN 978-3-8684-224-1 


Zu den aktuellen Diskussionen über die Rechtmäßigkeit von internationalen Einsätzen wie die US-Operation gegen Osama Bin Laden legt die Hamburger Edition des Hamburger Instituts für Sozialforschung den Band erneut vor:

Der Krieg hat seine Erscheinungsformen geändert. Gestützt auf Resolutionen des UN-Sicherheitsrats, werden Staatsführungen beseitigt und Gesellschaften umgestaltet – die Welt soll friedlicher gemacht werden. Doch in den betroffenen Bevölkerungen wachsen Wut und Verbitterung. Die bei Kampfhandlungen getöteten unbeteiligten Zivilisten lassen sich nicht länger mit dem Begriff des Kollateralschadens unkenntlich machen. Immer dringender tauchen Fragen nach Sinn und Zweck laufender Interventionsmaßnahmen auf. Welche Gewalt ist vertretbar, welche ist rechtlich verboten? Warum müssen Unbeteiligte geschützt werden? Nach welchen Regeln bemisst sich der Schutz und was geschieht, wenn er missachtet wurde?

   

Edition Godewind im Lexikus Verlag

160 Seiten, Hardcover, 19,90 Euro
ISBN: 978-3-940206-29-9

 
 

Theodor Herzl (1860-1904) ist als politische Leitfigur bekannt, als der Visionär und Denker, dessen politische Vorarbeit die Entstehung des Staates Israel erst ermöglichte. Als Schriftsteller und Journalist, der seinen Lohn mit unterhaltsamen, durchdachten und spannenden Geschichten verdiente, kennt ihn kaum jemand mehr.
Die vorliegende Textsammlung seiner Philosophischen Erzählungen ist in dieser Form seit neunzig Jahren nicht mehr erschienen. Sie bildet den ersten Band der Buchreihe Zu Unrecht vergessene Publizisten des 18.-20. Jahrhunderts. Die Philosophischen Erzählungen sind spannende Texte, die in knappem Stil, aphoristisch, philosophisch oder humoristisch - oft wie Kalendergeschichten - verfasst sind und Herzls Vielseitigkeit als Schriftsteller unter Beweis stellen. Von skeptischer Ironie zum Fortschrittsglauben der Jahrhundertwende in Das lenkbare Luftschiff  bis zu nachdenklichen, parabelartigen Geschichten wie in Die Garderobe kann der Leser/die Leserin sich mit dieser Wiederentdeckung auf eine abwechslungsreiche Zeitreise begeben.
Vorwort von Frau Prof. Hanni Mittelmann, Direktorin des Austrian Center, Hebr. Universität Jerusalem Herausgeber ist Dr. Carsten Schmidt, der auch eine viel beachtete Biographie über Felix Weltsch geschrieben hat (s. hier unter: Felix Weltsch).

  

In den Roaring Twenties war sie die Königin von New York. Ihre scharfe Zunge und ihr beißender Witz wurden Legende. Sie stritt mit Ernest Hemingway, schlief mit F. Scott Fitzgerald und soff mit Truman Capote. Dorothy Parker (1893 - 1967) schrieb für Vogue, Vanity Fair und den New Yorker und gehörte zur legendären Tafelrunde des Hotels Algonquin, wo sich die kulturelle Szene der Stadt traf. Ihre sarkastischen Verse und pointierten Kurzgeschichten erzählen von zerplatzten Träumen und dem Warten auf das Klingeln des Telefons. Sie machte als Drehbuchautorin in Hollywood Karriere und landete wegen ihres Engagements gegen Rassismus und Faschismus auf der Schwarzen Liste von Senator McCarthy. Ihre sarkastischen Theaterkritiken waren gefürchtet. Unverblümt schrieb sie beispielsweise über eine bekannte Schauspielerin: Ihre besten Momente hatte sie nur hinter der Bühne.

Michaela Karl porträtiert in der ersten deutschsprachigen Biografie das unkonventionelle Leben der Dorothy Parker und animiert zum (erneuten) Lesen ihres geistreichen Werkes (allen voran die wunderbar bissigen New Yorker Geschichten, Close Harmony oder Die liebe Familie, Ladies im Hotel: Ein Schauspiel - alle Haffmanns Verlag, Zürich)

Residenz Verlag Salzburg/Wien, geb., 288 Seiten; ISBN 978-37017311909

 

Martin Šmaus, geboren 1965 in der südöstlich von Prag gelegenen Stadt Jihlava, studierte Elektrotechnik und arbeitet als Techniker und Computeradministror in einem Krankenhaus. Mach mal Feuer, Kleine ist sein erster Roman und sorgte über die Landesgrenzen hinaus für Aufmerksamkeit. 2006 wurde er mit dem Magnesia Litera (bedeutendster tschechischer Literaturpreis) in der Kategorie 'Entdeckung des Jahres' ausgezeichnet. 2008 erschien sein zweiter Roman ' Židle pro Štefana'. Martin Šmaus lebt mit seiner Familie in Odry (Novojičínsko) im Osten Tschechiens.

 Andrejko ist kaum vier Jahre alt, als ihn sein Onkel Fero von der Roma-Siedlung in den ostslowakischen Waldkarpaten zu Verwandten nach Prag bringt, die dort am Rande der Legalität leben. Fero ist tief beeindruckt von der Fingerfertigkeit des Jungen, die sich in der Stadt sicher gewinnbringend einsetzen ließe. Andrejko lernt schnell. Er bettelt und stiehlt, ein Leben als gesellschaftlicher Außenseiter scheint vorgezeichnet zu sein. Doch Andrejko will sich nicht wie seine Verwandten in den Nischen der Gesellschaft einrichten. Ihn zieht es zurück zum ursprünglichen Leben in den Bergen. Kraftvoll und poetisch erzählt Martin Šmaus von dem bewegten Leben eines Roma-Jungen vor dem Hintergrund des zusammenbrechenden Kommunismus. 

dtv premium
Aus dem Tschechischen von Eva Profousová
Deutsche Erstausgabe, 360 Seiten
ISBN 978-3-423-24827-3, 1. Auflage, Februar 2011
 
 

Am Anfang des Anfangs
also vor jedem Anfang
diese Leere voll Hoffnung
die vibrierende Ruhe 

... 

Der unveränderte leere Blick.
Aber die Hand
geht zu den Weintrauben
ein kurzer angstvoller Blick
Melonenstückchen locken
die kleine Gabel hat ihre Bedeutung verloren
noch einmal der Blick:
Darf sie?
Essen mit Fingern?
Das alt gewordene, überalterte Kindlein.
Keine Pflegestation ist eine Krippe
wird je eine sein

war nie eine gewesen  

... 

Nie wollte man dahin kommen

Nie, und ist eben doch

immer schon  mittendrin.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
ISBN-10 351842176X
ISBN-13 9783518421765
Gebunden, 101 Seiten, 15,90 EUR

 

Wolfgang Herrndorf
Tschick
Rowohlt Berlin,
256 Seiten, 16,95 Euro

 

 

Tschick heißt eigentlich Andrej Tschichatschow und ist Russlanddeutscher, hat es trotz Hellersdorfer Plattenbau aufs Gymnasium geschafft und trifft auf den vierzehnjährigen, wohlstandsverwahrlosten Maik, aus dessen Sicht der Berliner Schriftsteller und Maler Wolfgang Herrndorf (*1965) die Geschichte des Erwachsenwerdens seiner beiden Helden erzählt. Mit Tschicks geklautem Lada beginnt eine flirrend-sommerliche Reise durch ostdeutsche Gegenden und Befindlichkeiten, eine extrem kurzweilige, anrührende und komische coming of age-Geschichte, die es mit allen Klassikern des Genres, was Klugheit und Witz, Leidenschaft und Erkenntnis angeht, locker aufnehmen kann.

Der Roman ist vollkommen zurecht für den Deutschen Buchpreis 2011 nominiert.

Unter www.wolfgang-herrndorf.de beschreibt der Autor seit September 2010 - nach einer Hirntumor-OP - seinen Kampf gegen den Krebs. Er will sich, aber auch anderen Mut machen! (Nachtrag: s. hier: Spots)

 

Matthes und Seitz, Berlin 2010
ISBN-10 3882215313
ISBN-13 9783882215311
Gebunden, 288 Seiten, 22,90 EUR

Aus dem Tschechischen und mit einem Nachwort von Eduard Schreiber

 

 

 

Milada Součková gilt als Außenseiterin in der tschechischen Nachkriegsliteratur. Während des Krieges stand sie der Gruppe 42 um Jiři Kolař nahe. Schon für das Manuskript erhielt sie einen renommierten tschechischen Literaturpreis. Danach war sie erster weiblicher, tschechoslowakischer Kulturattache in den USA und blieb im Exil, nachdem die Kommunisten in der ČSSR an die Macht gekommen waren. Der Roman erschien bereits 1943. Inmitten der mondänen Welt einer Gesellschaft von Künstlern, Lebemännern und Großbürgern inszeniert sich Giulia geschickt als begabte Bel Canto-Sängerin. Erzählt wird auf den ersten Blick die Geschichte dieser Operndiva, die von ihren Erfolgen in Beruf und Privatleben, da vor allem von ihren ständig wechselnden Affären, den unzähligen Freunden und Geliebten, wie berauscht ist. Der Ich-Erzähler ist - wie sich bald herausstellt - jedoch ein Mann, der hinter der schillernden Fassade das tatsächliche Scheitern dieser Frau zeigen will; ausgerechnet er, ein abgewiesener, eifersüchtiger Liebhaber. Stilistisch brillant zeigt Součková, wie der Wechsel der Persepktiven die Erzählweise und den Stoff der Erzählung selbst beinflusst, wie leicht man in (Wahrnehmungs- und Beziehungs-)Fallen tappen kann, aber auch wie öde das Leben ohne Täuschung, Fiktion und vor allem Phantasie vermutlich wirklich wäre.  

 

Georges-Arthur Goldschmidt

Meistens wohnt der den man sucht nebenan

Kafka lesen

Aus dem Französischen von  Brigitte Große

128 S., geb.16,95 Euro; ISBN: 978-3-10-027824-1

  

Warum ausgerechnet Kafka? Weil Kafka von großer Klarheit ist, egal wie unwahrscheinlich seine Geschichten sind. Ein Mann verwandelt sich in ein Ungeziefer? Unmöglich, und doch gibt es nichts Gewisseres, nicht Packenderes. Was Kafka schreibt, ist, was es ist – es gibt kein Jenseits der Sprache, keine Bedeutung, die außerhalb des Gesagten liegt. Georges-Arthur Goldschmidt nimmt Kafka beim Wort. Aus diesem Wörtlichnehmen ist eine erstaunliche Lektüre Kafkas entstanden, die einem die Sprache verschlägt (Klappentext). Goldschmidt hat der Sekundärliteratur kein weiteres Buch über Kafka hinzu gefügt; er beschreibt luzide und leidenschaflich, ohne je aufdringlich zu sein oder prätentiös, seine Lese-Erlebnisse mit Kafka.  

  



 

 

 ************************************************

© Katja Schickel/www.letnapark-prager-kleine-seiten.com 2011 ff

 

 

 

 

 

 

Weiter


Tweet