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Tagung erinnern_kontrovers 
vom 09.07. – 10.07.2015 in Berlin

Aufbrüche in den Erzählungen zu Holocaust, Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg

 

„[…] manchmal kostet es mehr Anstrengung, dem Neuen, das im Verborgenen wächst, auf die Spur zu kommen, als die Katastrophen, die selbst Blinde sehen, zu beschreiben.“ Karl Schlögel


Wie wird zeitgemäßes Erinnern siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gestaltet? Bieten Generationenwechsel und eine Gesellschaft, die sich zunehmend als eine vielfältige begreift, neue Möglichkeiten die Erinnerung an Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg und Holocaust zu aktualisieren? Liegen in dieser Vielfalt Chancen für eine breitere Verankerung der Erinnerung oder Gefahren der Geschichtsrelativierung? Enden wir in einem „Chaos der Diversität“ mit Inhalten, die vom historischen Zusammenhang losgelöst sind? Wer gestaltet die Erinnerung? Sind es vor allem staatliche, halbstaatliche oder bürgerschaftliche Akteure? Ist es die Geschichtswissenschaft? Was ist die Rolle der Nachfahren von Überlebenden?

Die Formate und Formen der Erinnerung an Nationalsozialismus, Holocaust und Zweiten Weltkrieg haben sich in den letzten Jahren stark verändert. Dieser Wandel ist bedingt durch das Ableben der Zeitzeug_innen-Generation, dem viel zitierten Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis beim Erinnern an den Nationalsozialismus und seiner damit verbundenen Historisierung. Zudem hat sich die bundesdeutsche Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten u.a. durch Einwanderung stark verändert. Die zunehmende Vielfalt der Gesellschaft wirkt(e) sich auf Geschichtsbilder, Geschichts- und Erinnerungskulturen aus. Digitale Medien mit ihren sozialen Netzwerken und Webangeboten erlauben es außerdem, persönliche Geschichtsbilder einer (breiten) Öffentlichkeit zu präsentieren.

 


Zeugnisse und Zeitzeugenschaft von NS-Verfolgten

Von tauben Ohren hin zur Sehnsucht nach Authentizität.

Von Dagi Knellessen


Meine Aufgabe ist es, über die Zeugnisse und die Zeugenschaft von NS-Verfolgten zu sprechen. Zwei große und emotional stark aufgeladene Begriffe, die immer wieder im Zentrum stehen, wenn es um die Zukunft der Erinnerung geht. Wir befinden uns mitten im Prozess der Historisierung. Die Ära der Zeitzeugen endet. Die Zeugnisse werden bleiben. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen der Zeitzeugenschaft nach 1945 hat eingesetzt. Und die Zeugnisse von NS-Verfolgten finden seit geraumer Zeit in der Öffentlichkeit, in den Medien und in der Wissenschaft deutlich mehr Beachtung. Die Erwartungen an diese erfahrungsgeschichtlichen Quellen sind hoch gesteckt: Sie sollen und sie werden zukünftig die Perspektive von Holocaust-Überlebenden und anderen NS-Verfolgten vermitteln.

Naturgemäß tauchen in dieser Umbruchsituation ganz grundsätzliche Fragen auf, die auch auf dieser Tagung diskutiert werden sollen. Zu den Zeugnissen stehen Definitions- und Vermittlungsfragen auf der Agenda: Wodurch zeichnen sich die Zeugnisse der NS-Verfolgten aus? Welche Dokumentationen nationalsozialistischer Verfolgungserfahrung und deren Verarbeitung fallen überhaupt unter den Begriff des Zeugnisses? Und welche Kriterien und Einordnungskategorien werden gebraucht, um den spezifischen Charakter genau dieser Zeugnisse zu vermitteln? Hinsichtlich der Zeugenschaft kreisen die Debatten darum, wie weitreichend Zeugenschaft zu definieren ist. Das heißt vor allem, welche Bedeutung zukünftig den Nachkommen der NS-Verfolgten beigemessen werden soll.

Auffällig ist, dass innerhalb dieses Diskurses – vor allem im Bildungsbereich – die „Authentizität“ als ganz zentrale Kategorie zur Lösung dieser Fragen in den Fokus rückt. [Auch abzulesen im Programm dieser Tagung] Das heißt: Bedeutsam werden zukünftig ausschließlich die „authentischen“ Zeugen sein. Entscheidendes Merkmal der Zeugnisse ist ihre Authentizität, die es durch effektvolle Strategien der Präsentation und Vermittlung immer wieder neu zu belegen gilt. Dieses gegenwärtige Phänomen, das ich im Titel mit der „Sehnsucht nach Authentizität“ beschrieben habe, ist nachvollziehbar. Impliziert doch die Sehnsucht nach dem Wahrhaften und Echten auch eine Art von Unantastbarkeit. Dennoch halte ich den Begriff des „Authentischen“ für problematisch – allemal, wenn er zur Kategorie erhoben wird – da er nur vermeintlich eindeutige Antworten auf die gegenwärtigen Fragen verspricht. Zugespitzt formuliert, wird dieses Kreisen um „das Authentische“ in eine Sackgasse führen. Für viel wichtiger halte ich: 


1. dass wir uns vergegenwärtigen: Wenn wir von Zeugenschaft reden, dann haben wir es mit erfahrungsgeschichtlicher Überlieferung zu tun. Eine Überlieferung, die in einem komplexen, extrem schwankenden und zeitversetzten Prozess verlaufen ist. Aus dieser Erkenntnis ergeben sich Orientierungen für die gegenwärtigen Fragen, die ich vorstellen werde.

2. werde ich auf den ungeheuer großen Quellenpool der Zeugnisse eingehen, der sich aus unterschiedlichsten Zeugnisgattungen zusammensetzt. Was dringend ansteht ist: den unpräzisen Begriff der Zeugnisse auszudifferenzieren und gattungsspezifische Kategorien zu entwickeln. Erst dann werden wir die Aussagen dieser höchst unterschiedlichen Quellen verstehen, einordnen und vermitteln können.


Zeugenschaft – Wer spricht? Wer wird gehört?

Zunächst einige grundlegende Bemerkungen zum Zeugnisbegriff und zur Zeugenschaft: Das Zeugnis-Ablegen ist eine uralte Praxis der Menschheitsgeschichte. In Religionen, archaischen Rechtsformen und der Philosophie fungierte das Zeugnis-Ablegen als Vergewisserung, Bestätigung, Beglaubigung und als Instrument oder soziale Praxis der Wissensvermittlung. Der Diskurs über die Wahrhaftigkeit des Zeugen und die Begrenztheit der subjektiven Perspektive ist so alt wie das Zeugnisablegen selbst. Ebenso bestand seit jeher Klarheit, dass jeder Zeuge und jedes Zeugnis unabdingbar ein Gegenüber braucht. Ohne Gegenüber, ohne Rezipienten existiert der Zeuge, existiert das Zeugnis nicht.


Die Zeugenschaft von NS-Verfolgten zeichnet sich unter anderem durch eine extrem wechselvolle Rezeptions- und Wirkungsgeschichte aus. Das Bezeugen der nationalsozialistischen Entrechtungs- und Gewaltmaßnahmen setzte im Moment der sogenannten Machtergreifung 1933 ein und wurde kontinuierlich fort geführt. Nach 1945 fanden die Überlebenden des Holocaust und andere NS- Verfolgte über einen langen Zeitraum keine Zuhörerschaft. Dies gilt vor allem für Deutschland. Gebrochen wurde diese „Taubheit“ fast zwanzig Jahre später zunächst durch die großen NS-Prozesse. Der Auftritt von über hundert Shoah-Überlebenden im Eichmann Prozess 1961 gilt heute als die Geburtsstunde der öffentlichen Zeugenschaft. Der Auschwitz Prozess in Frankfurt am Main brachte kurz darauf die westdeutsche Schweigemauer gegenüber der NS-Vergangenheit erheblich ins Wanken. Hier sagten über zweihundert NS-Verfolgte als Zeugen aus. Nur wenig später flaute die Aufmerksamkeit gegenüber den NS-Opfern jedoch wieder deutlich ab; es scheint fast als hätten sie nur für den Moment als eine Art Vehikel fungiert. Es dauerte fast weitere zwanzig Jahre bis im Zuge einer Geschichtsbewegung von unten eine dauerhafte Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und deren Opfer begann, die Anette Wieviorka mit „The Era of the Witness“ gekennzeichnet hat: D.h. es vollzog sich eine stetige Entwicklung, in der nach und nach NS-Verfolgte und ihre Zeugnisse einen festen Platz in der sich heraus bildenden Erinnerungskultur (Öffentlichkeit und Bildung) einnahmen.


Ab den späten 1990er Jahre setzte die Internationalisierung des Holocaust Gedenkens ein. Überlebende der Shoah stehen seitdem als paradigmatische Zeugen für eine universalistische-menschenrechtliche Mahnung. Auch in Deutschland avancierten die Überlebenden zum zentralen Fixpunkt einer gesamtdeutschen Erinnerungskultur, die mittlerweile Bestandteil des nationalen Selbstverständnisses der Bundesrepublik ist. Die Wahrnehmungsgeschichte des Holocaust wurde zur Erfolgsgeschichte. Andere NS-Opfergruppen fanden im Dunstkreis oder im Nachklang dieser Entwicklungen sukzessive gesellschaftliche Anerkennung, wie Homosexuelle, Roma und Sinti und auch die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Opfergruppen, deren gesellschaftliche Stigmatisierung teils bis heute fortbesteht, blieben und bleiben nach wie vor weitgehend ungehört, wie sogenannte A-Soziale und Euthanasie-Opfer. Sie erlebten keine Zeugenschaft, von ihnen existiert kaum ein Zeugnis.

Diese ganze Entwicklung wurde seit 1945 ganz wesentlich von NS-Verfolgten getragen und mitbestimmt: Sie organisierten sich in Opferverbänden, sammelten und produzierten weiter erfahrungsgeschichtliche Zeugnisse und suchten nach Veröffentlichungsmöglichkeiten. Sie waren entscheidende Akteure beim Zustandekommen der NS-Prozesse, Hunderte von ihnen traten dort als Zeugen auf. Sie reisten nach Deutschland (ins Land der Täter), sprachen in Schulen und in der Öffentlichkeit. Sie engagierten sich in den Überlebendenverbänden und –räten der Gedenkstätten: Sie waren geschichtspolitische Akteure, die über Jahrzehnte für die Wahrnehmung und Anerkennung der nationalsozialistischen Verbrechen –ja, so pathetisch es klingt – gekämpft haben. Dennoch: Es brauchte vierzig Jahre bis die NS-Verfolgten in der bundesdeutschen Gesellschaft dauerhaft Gehör fanden. [andere Wahrnehmungsgeschichte in der DDR; politisch Verfolgte standen im Zentrum als Heroen des antifaschistischen Widerstands, die jüdischen Opfer wurden nahezu vollständig ausgeblendet]


Fazit

Zeugenschaft konstituiert sich durch ein zähes Ringen und Kämpfen der Opfergruppen um Wahrnehmung und Anerkennung im Kontext eines lang andauernden gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses. D.h. „authentisch“ ist die gesamte Erfahrungsgeneration. „Authentische“ Zeugenschaft existiert aber überhaupt nur dann, wenn Opfergruppen, Teil dieses gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse sind. Und gehört werden.


Zeugenschaft der Nachkommen

Was sich aus diesem Fazit für die perspektivische Bedeutung der Zeugenschaft der Nachkommen ergibt, möchte ich anhand von drei Aspekten verdeutlichen:


Stellvertreter-Zeugenschaft der historischen NS-Erfahrung
Die historische Erfahrung der NS-Verfolgten, die kein Zeugnis abgelegt haben und die nicht gehört wurden, kann nur noch von den Angehörigen oder Nachkommen dokumentiert und vermittelt werden. Ihre Berichte werden die einzigen Zeugnisse sein, die überliefert werden und bleiben. Sie sind begrifflich als eine Art Stellvertreter-Zeugnis zu kennzeichnen, dem entsprechend zu analysieren und zu vermitteln. „Authentisch“ scheinen sie mir im Sinn der Zeugenschaft und auch aus historischer Sicht allemal zu sein


Zeugenschaft über die Nachwirkungen nationalsozialistischer Verfolgung
Die Nachkommen von Holocaust-Überlebenden und anderen NS-Opfern vermitteln seit langem ihre prägenden Erfahrungen in Interviews, in literarischer, filmischer und künstlerischer Form. Sie geben Einblicke in den Mikrokosmos der Familien und in die Verhältnisse der jeweiligen Nachkriegsgesellschaften. Sie zeigen auf, dass sich die Verarbeitung von Gewalterfahrung über Jahrzehnte hinzieht und in den Nachfolgegenerationen fortwirkt. Diese Darstellungen werden bereits aus der Perspektive unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen untersucht. Ebenso erkennt mittlerweile sogar die Justiz die Bedeutung dieser Erfahrungen an und bezieht sie als beweiskräftige Aussagen über die langfristigen Auswirkungen von NS- Massenverbrechen in NS-Prozesse mit ein
(so in den Prozessen italienischer Militärgerichte zu den NS-Vergeltungs-Massakern an der Zivilbevölkerung in Italien St. Anna die Stazzema). Diese „authentische“ Zeugenschaft der Nachkommen über die Nachwirkungen der NS-Verfolgung scheint mir unstrittig zu sein, auch sie gilt es begrifflich von der Zeugenschaft der NS-Verfolgten zu differenzieren.


Geschichtspolitische und gesellschaftliche Bedeutung der Zeugenschaft der Nachkommen
Der dritte und letzte Aspekt wird nicht über Begriffe oder Definitionen zu klären sein: Welchen Stellenwert den Nachkommen der NS-Verfolgten innerhalb der erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Entwicklungen zukommt, wird sich über die Selbstdefinition und über gesellschaftliche Aushandlungsprozesse heraus kristallisieren. Das heißt, ob die Nachkommen ihr Sprechen als eigenständige Form der Zeugenschaft begreifen, ob sie sich ganz anders definieren, ob sie sich in Gruppierungen oder Verbänden organisieren, um ihre Positionen zu formulieren und welche Aussagekraft ihren Stimmen in den Beiräten der Gedenkstätten und in öffentlichen geschichtspolitischen Auseinandersetzungen zugebilligt wird, das werden die zukünftigen Entwicklungen zeigen.


Zeugnisse von NS-Verfolgten –
ein disparater, unbequemer und uneindeutiger Quellenpool

Die Wahrnehmungs- und Wirkungsgeschichte der Zeugnisse von NS-Verfolgten in Deutschland lehnt sich im Grunde an die der Zeugenschaft an. Auch die Zeugnisse fristeten im Gros über Jahrzehnte ein behütetes, doch eingeschlossenes Dasein in den Archiven der jüdischen Gemeinden und Opferverbänden und in den Gedenkstätten. Deutlicher noch als bei der öffentlichen Zeugenschaft tritt bei den Zeugnissen jedoch zu Tage: Das viel beschworene Schweigen von Shoah-Überlebenden und anderen NS-Verfolgten ist eine Mär! Der zahlenmäßig kaum fassbare und absolut heterogene Bestand in Wort, Schrift, Bild, Musik und in Form von mündlicher Überlieferung, der international archiviert ist, erzählt eine andere Geschichte: Von 1933 bis heute wurden (und werden noch) die Erfahrungen dokumentiert von nationalsozialistischer Ausgrenzung, Verfolgung, Zwangsarbeit, Ghettoisierung, Konzentrationslagerhaft und Massenmord im gesamten Europa. Ein großer Teil dieser Zeugnisse thematisiert zudem die persönlichen Erfahrungen in der Nachkriegszeit. Was hier inhaltlich vorliegt, reicht von Darstellungen der persönlichen Gefühls- und Erlebenswelt der engsten Umgebung über alltagsgeschichtliche Darstellungen bis hin zu minutiös dokumentierten Chroniken (Ghettos) und Statistiken (Vernichtungslagern).


Gemeinsam ist diesen Zeugnissen, dass sie alle das persönliche Erleben und die individuelle Wahrnehmung der Ereignisse dokumentieren. Das heißt, wir haben es mit erfahrungsgeschichtlichen Quellen zu tun, die auch als solche zu behandeln sind. Wodurch sich diese Quellen ganz erheblich unterscheiden, ist zum einen in ihrem Entstehungszeitpunkt, der sich über mehr als 80 Jahre erstreckt. Zum anderen unterscheiden sie sich in der bereits genannten Vielzahl an Ausdrucksformen.

Für die Lesart dieser Quellen bedeutet dies konkret: Die Zeugnisse, die vor 1945 entstanden sind, sprechen eine ganz andere Sprache [im übertragenen Sinn], als die Zeugnisse aus den 1960er oder 1990er Jahren. Bislang existiert aber einzig im Bereich der Schriftzeugnisse eine gängige zeitliche Differenzierung. Die Dokumentationen aus der Zeit vor 1945 und kurz danach werden als Augenzeugenberichte klassifiziert. Weitere Kategorien zum Entstehungszeitpunkt zu entwickeln, steht also noch an.

Ebenso wird eine lebensgeschichtliche Differenzierung zu diskutieren sein. D.h. sollen die Berichte über die historische NS-Erfahrung begrifflich unterschieden werden von den Berichten über die persönliche Verarbeitung nach 1945. In Israel wird hier sehr deutlich getrennt zwischen Holocaust testimony (NS-Erfahrung) und survivors testimony (persönlich Verarbeitung).

Thematisch werden sicherlich zukünftig die Zeugnisse des Holocaust explizit zu kennzeichnen sein. Sie stehen für die Erfahrung eines präzedenzlosen Extrems. Die Leerstellen des „Abgrunds“ sind ein Bestandteil dieser Erzählungen. Doch anders als so häufig proklamiert, belegen sie, dass auch der Holocaust beschreibbar ist. Diese Zeugnisse dokumentieren die „Momente der Fassungslosigkeit“ der jüdischen Verfolgten im Moment des historischen Ereignisses, wie es Saul Friedländer beschrieben hat. Momente, die bis heute spürbar sind und eben nicht eingeebnet werden können. Doch auch sie können erst durch die historische Kontextualisierung verstanden werden.

Für die diversen Zeugnisgattungen werden ebenso Kategorien und Typologien zu entwickeln sein. Denn die Aussagen der Häftlingszeichnungen aus den KZs können nur mit Hilfe von KunsthistorikerInnen verstanden werden. Für die Gedichte aus den Ghettos brauchen wir die Literaturwissenschaft. Die Musik aus den Lagern erschließt sich erst über die Kenntnisse der Musikwissenschaft. Für jede dieser Zeugnisgattungen werden die Grundlagen für eine Didaktisierung und für eine gattungsspezifische Quellenkritik noch zu entwickeln sein. Die relevanten Wissenschaftsdisziplinen und die Gedenkstätten haben schon einen erheblichen Teil an Arbeit geleistet. Dennoch mangelt es noch am Transfer der Kenntnisse in den Bildungsbereich, auch der interdisziplinäre Austausch muss verstärkt werden.


Diese anstehenden Aufgaben sind zu bewältigen. Das haben die internationalen Entwicklungen rund um die derzeit prominenteste Zeugnisgattung, die videographierten Zeitzeugeninterviews, gezeigt. In enger Abstimmung zwischen Wissenschaft (vor allem der Oral History) und Bildung wurde innerhalb von circa zwanzig Jahren ein breites Bildungsangebot mit unterschiedlichsten Zugängen und didaktischen Ausrichtungen entwickelt, die weltweit Verbreitung finden. [Steffi de Jong hat diese rasanten Entwicklungen in ihrem Vortrag verdeutlicht]

Die Zeugnisse der NS-Verfolgung sind zumeist sperrig. Sie können uneindeutig und widersprüchlich sein, was ihr historische Aussage anbelangt. Sie sind komplex, weil ihr Entstehungskontext, ihre komplizierten Überlieferungsgeschichten und ihre Adressaten immer in die Analyse mit einbezogen werden müssen. Und ja, sie sind auch emotional bzw. sie haben eine starke emotionale Wirkungsmacht. Diese emotionale Ausstrahlung kann ein erster Zugang sein. Der Inhalt, die Aussage und die Bedeutung des Zeugnisses erschließt sich darüber nicht.


Ich möchte abschließend noch einmal auf die aktuelle Fixierung auf „das Authentische“ zurückkommen. Die Tendenz, die sich hier im Umgang mit den Zeugnissen abzeichnet, zielt darauf ab, die Authentizität zum zentralen Merkmal zu erheben. In der Folge werden effektvolle Strategien der Präsentation und Vermittlung entwickelt, die das Authentische (und die Emotionalität) der Zeugnisse ins Zentrum rücken. Diese Entwicklung halte ich für einen absoluten Irrweg. Sie werden in eine Sackgasse der Nivellierung führen. Die Begriffe Zeugenschaft, Zeitzeuge, Zeugnis werden grade im deutschen Kontext vollkommen unpräzise verwendet. Zeitzeugen sind heute alle, die die NS-Zeit erlebt haben. Auch liegen Zeugnisse vor von Vertriebenen, Kriegsopfern (vor allem Kriegskindern) und sonstigen Bürgerinnen und Bürgern, die ehemals als Arier definiert wurden, ebenso von PGs und Wehrmachtsangehörigen, bis hin zu SS Angehörigen. Alle diese Zeugnisse sind „authentisch“. Viele zeichnen sich durch Opfer- und Leiderfahrungen aus, die während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit erlebt wurden. Die öffentliche Präsenz dieser Erzählungen ist offensichtlich (70. Jahrestag Kriegsende) und sie wird noch zu steigern sein. Mit dem Fokus auf dem „Authentischen“ und Emotionalen werden die Zeugnisse der NS Verfolgung nicht mehr von anderen Zeugnissen zu unterscheiden sein. Die spezifische historische Erfahrung der nationalsozialistischen Verfolgung wird eingeebnet in einem Diskurs, der längst überwunden schien: Nämlich, dass „die Zeitzeugen“ der NS-Zeit unterschiedslos doch irgendwie alle Opfer waren.



Dagi Knellessen ist seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Simon-Dubnow-Institut. Studium der Erziehungswissenschaft, Politikwissensschaft und Psychologie an der Technischen Universität Berlin; M. A. 2001 an der Universität Berlin. Thema der Magisterarbeit: Im bedingungslosen Gehorsam und über den Befehl hinaus. Eine Studie über Adolf Eichmann. Von 2001 bis 2005 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main; von 2005 bis 2015 freie Erziehungswissenschaftlerin in Berlin, seit 2011 freie Forschungsassistenz für Professor Raphael Gross.

Forschungsschwerpunkte

NS-Geschichte, Holocaust und Nachkriegszeit
Wahrnehmungsgeschichte des Holocaust, juristische Aufarbeitung nach 1945, insbesondere Zeugenschaf

Herausgeberschaften

Rudolf Vrba, Ich kann nicht vergeben, Frankfurt a.M. Schöffling 2010 (zus. mit Werner Renz).

Aufsätze und Artikel

Dimensionen von Zeugnissen und Zeugenschaft. Überlebende des Holocaust als Zeugen vor Gericht, in: Geschichte Lernen 26 (2013), H. 152, 40–50 (zus. mit Gottfried Kößler).

Gedächtnis der Nation – ein neues Zeitzeugenportal präsentiert sich, 28. November 2011 (zus. mit Markus Nesselrodt).

Zur Bedeutung der Opfer-Zeugen im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965), 11. Mai 2011.

„Vielleicht“ ist die Trauer um unsere Toten irgendwann größer als unser Hass. Universalisierung der Opfer im Film Die Flucht, in: Jenseits von Steinbach. Zur Kontroverse um ein Vertreibungszentrum im Kontext des deutschen Opferdiskurses. Eine Broschüre vom Arbeitskreis Geschichtspolitische Interventionen (AGI), Berlin 2010, 23 f. (zus. mit Julia Stegmann).

Zeugen im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess, in: Alexander von Plato/Almut Leh/Christoph Thonfeld (Hgg.), Hitlers Sklaven, Wien/Köln/Weimar 2008, 371–388.

Momentaufnahmen der Erinnerung. Juristische Zeugenschaft im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess - Ein Interviewprojekt, in: Michael Elm/Gottfried Kößler (Hgg.), Zeugenschaft des Holocaust, Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, Frankfurt a. M./New York 2007, 116–138.

Momente der Wahrheit. Überlebende als Zeugen im Auschwitz-Prozess. Rudolf Vrba und seine Aussage gegen den Angeklagten Robert Mulka, in: Im Labyrinth der Schuld. Täter – Opfer – Ankläger, im Auftrag des Fritz Bauer Instituts hg. von Irmtrud Wojak und Susanne Meinl, Frankfurt a.M. 2003, 195–232.



Weitere Infos: http://erinnern.hypotheses.org;  Foto: Katja Schickel






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