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Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden

durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. Band 7

Sowjetunion - mit annektierten Gebieten I

Besetzte sowjetische Gebiete unter deutscher Militärverwaltung, Baltikum und Transnistrien

Bearbeitet von Bert Hoppe und Hildrun Glass

ISBN 978-3-486-58911-5. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2011.


 

DOK. 26 15. Juli 1941

Karl-Heinz L. beobachtet am 15. Juli 1941 gemeinsam mit anderen Wehrmachtsangehörigen die Massenerschießung von Juden in Libau (Liepāja)1

Handschriftl. Tagebuch von Karl-Heinz L., 2 Eintrag vom 15. 7. 19413

Libau, 15. Jl.


 

Ein drückender Sommertag geht zu Ende. Wir haben uns das Motorboot klargemacht und fahren hinüber an den Strand. Nach des Tages Dienst und Hitze tut ein kühles Bad unendlich wohl. Wir tummeln uns im Wasser und versuchen mit den kleinen lettischen Deerns anzubändeln. Aber alles hat ja auch mal sein Ende, und um 8 Uhr muß alles an Bord sein. Langsam schlendern wir zurück und stoßen unweit des Strandes auf einen Haufen Menschen, es sieht fast so aus, als ob hier etwas verschenkt wird. Auf den Bun- kern, die hier liegen, überall drängt sich Marine und Militär. Die meisten im Bade- oder Sportzeug, gerade so wie sie vom Strand kommen.

Man denkt auf den ersten Blick, hier findet eine Sportveranstaltung statt. Ja, eine Sportveranstaltung, wenn auch etwas anderer Art. Wir sind auf dem Platz angelangt, auf dem allabendlich so und so viele Heckenschützen erschossen werden. Ein neben mir stehender Matrose erzählt, es kämen heute abend 45 Männer und 7 Frauen dran!! Auf meine Frage: es wäre doch an und für sich etwas geschmacklos, hier im Angesicht so vieler Soldaten die Exekution zu vollziehen? schüttelt er bloß mit dem Kopf.

Ringsum stehen Soldaten, ich schätze rund 600 – 800 Mann stehen hier um ihre grausame Neugier zu befriedigen. Es werden ja aber auch wohl sicher einige hier sein, die durch die Hand dieser Heckenschützen ihre besten Kameraden verloren haben, und denen kann man ja nachfühlen, daß sie diese Genugtuung mit ansehen möchten.

Schräg vor mir liegt der ominöse Graben, der eine ziemliche Tiefe besitzt, die ich aber nicht feststellen kann. Zigarettenrauchend und schwatzend stehen alle Besucher dieser

„Zirkusvorstellung“ da, als der erste Wagen eintrifft. Ein Lkw; man sieht nur zwei Männer der lettischen Heimwehr4 darauf sitzen.

Der Wagen stoppt. „Raus, raus“, ertönts von einem SS-Mann, und plötzlich sehen wir

5 Mann Köpfe hochkommen. Irrsinnige Angst verzerrt ihr Gesicht. „Los, raus, dalli.“ Wer nicht so schnell hochkommt, dem wird mit dem Gummiknüttel nachgeholfen. Hierbei tut sich in hervorragender Weise gerade die Heimwehr hervor, diese Leute, die vielleicht allen Grund hätten, etwas vorsichtiger zu sein.5

5 Männer stehen jetzt vor dem Wagen. Soweit man erkennen kann sind 2 Juden darunter.

„Vorwärts, laufen“ heißt’s nun und die fünf Mann werden in ihr offenstehendes Grab getrieben. Der letzte, ein alter, ziemlich krummer Jude erhält noch einen Tritt in das Achterteil und landet mit Schwung im Graben. Hier und da ertönt ein rohes Lachen. Hier und dort recken sich Hälse, um nur ja nicht etwas von diesem Schauspiel zu entbehren. Die fünf Delinquenten stehen nun mit dem Kopf Gesicht an der Grabenwand.

Was mag in diesem Moment in den Verurteilten vorgehen?

Inzwischen ist das Exekutivkommando auf den Grabenrand getreten. Es ist zehn Mann, es kommen also zwei Schützen auf jeden.6 Ein SS-Feldwebel gibt das Kommando. „Fertigmachen!“ Zehn Gewehre richten sich auf die Nacken der Verurteilten. „Feuer.“ Wie ein scharfer Peitschenknall hören sich die Schüsse an.

Das Peloton tritt zurück. Man sieht, wie einige der Schützen sich sofort umdrehen, einige andere schauen interessiert in den Graben; in dem die Delinquenten zusammengesunken sind. Nun tritt der Feldwebel heran, in der Hand die Maschinenpistole. Aufmerksam schaut er auf die Toten.

Das Peloton hat anscheinend gut gefeuert, er geht von einem zum anderen. Beim letzten endlich hebt er sein Gewehr, er zögert noch, da, ein ganz kurzer trockener Knall, und die Exekution ist vorbei. Ein Wink, und Heimwehrleute werfen auf, greifen zum Spaten und werfen Sand auf die Leichen.

Alles geht ruckzuck. Die ganze Exekution hat nur wenige Minuten gedauert. Das Peloton steht zusammen, erzählend und rauchend. Ich studiere die Gesichter der Umstehenden. Teilnahmslosigkeit, Gleichgültigkeit oder Befriedigung steht in ihnen geschrieben.

Ein neben mir stehender, etwa 17 – 18jähriger Jüngling gibt seine Meinung zum besten.

„Man müßte diese Banditen mit dem Bajonett totstechen, abstechen wie die Schweine.“

Auf meine Frage, ob er dieses Henkeramt übernehmen wolle, meint er naiv lächelnd: „Ja.“ Sic tibbi terra levi.7 Hinter mir fragt einer, ob nicht bald eine neue Ladung käme!

Es sind ungefähr 10 Minuten vergangen, als daß da kommt der Wagen wieder. Es wiederholt sich alles. Runter vom Wagen, im Laufschritt rein in den Graben, und ein kurzer scharfer Knall. Und wieder sind fünf Leben ausgelöscht.

Auf die Leichen der eben Erschossenen müssen sich die neuen Opfer stellen, ein kurzer scharfer Knall und schon sind wieder fünf Leben vorbei. Die Heimwehrleute werfen wieder Sand in den Graben und nun liegen schon zwei Schichten von Leichen da. Aber auf hierauf kommen noch einmal fünf Leichen, so daß immer drei Mann übereinanderliegen. Massengrab!

Heute abend kommen nun noch so nach und nach kommt der Wagen nun noch dreimal wieder und lädt seine Opfer ab. Immer spielt sich das gleiche ab, eine Sache von Sekunden, so routiniert geht es. Einmal ist ein älterer, dicker Jude dazwischen, anscheinend ein Schlachter, er trägt noch eine weiße Schürze. Er kann nicht vom Wagen hochkommen, anscheinend hat er ein kaputtes oder steifes Bein. Ein Lette stößt ihn vom Auto herunter und wirft ihm seinen Stock hinterher. Rohes Lachen ertönt. Von zwei seiner Mitgefangenen getragen wankt er seinem Schicksal entgegen.

Aus dem letzten Auto springt unter andern auch ein kleiner, schwarzer Jude, mit Backenbart und Gebetskäppi, herunter.8 „Hier, der Rabbi als erster“, ruft der Feldwebel des Pelotons. Im Graben will er sein Käppi noch auf den Rand hinauflegen, aber der Feldwebel herrscht ihn an, er solle sie sich vor die Füße legen. „Feuer“ und auch der Rabbi ist hinüber. Fünfmal war das Auto gekommen, fünfundzwanzig Mann sind heute erschossen worden.

Langsam zerstreut sich alles. Wie mag es in dem Innern der Schützen aussehen? Abend für Abend diese Arbeit, das kann nur etwas sein für Leute, die von Natur Nerven wie Stahltaue besitzen.

Auch wir begeben uns wieder auf den Heimweg, lachend und schwatzend unterhalten sich die Meisten und können sich nicht grausig genug das Erlebte ausmalen. Mir wird wahrscheinlich das Geschene ewig gegenwärtig bleiben. Es gehört zu dem Erlebten, das man nie vergessen wird.9


 

1 BArch, RM 123/2089. Abdruck in: Norbert Haase, „… eine Sportveranstaltung, wenn auch etwas anderer Art …“ Der Mord an den Libauer Juden im Sommer 1941. Aus dem Tagebuch eines Augen- zeugen, in: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 30 (1991), S. 207 f.

2 Karl-Heinz L. (*1919), Seemann; 1937 SA-Eintritt, im Juli 1941 Marinesoldat in Liepāja.

3 Die sprachlichen Eigenheiten und die Rechtschreibung des Originals wurden beibehalten.

4 Gemeint sind lett. Selbstschutzverbände, die häufig in den ersten Tagen nach dem deutschen Über- fall von ehemaligen Angehörigen der lett. Armee gegründet und von den Deutschen als Hilfstrup- pen übernommen wurden.

5 Damit spielt der Autor auf die Kollaboration von Letten mit den sowj. Besatzern in den Jahren

1940/41 an.

6 Die Männer wurden von einem Kommando des am 10. 7. 1941 eingesetzten SSPF Libau, Wolfgang

Kügler (gest. 1959), erschossen; Ezergailis, The Holocaust in Latvia (wie Dok. 24, Anm. 7), S. 295 f.

4 Gemeint sind lett. Selbstschutzverbände, die häufig in den ersten Tagen nach dem deutschen Über- fall von ehemaligen Angehörigen der lett. Armee gegründet und von den Deutschen als Hilfstrup- pen übernommen wurden.

5 Damit spielt der Autor auf die Kollaboration von Letten mit den sowj. Besatzern in den Jahren

1940/41 an.

6 Die Männer wurden von einem Kommando des am 10. 7. 1941 eingesetzten SSPF Libau, Wolfgang

Kügler (gest. 1959), erschossen; Ezergailis, The Holocaust in Latvia (wie Dok. 24, Anm. 7), S. 295 f.

7 Richtig: „Sit tibi terra levis“, lat.: Möge dir die Erde leicht sein; Grabinschrift.

8 Möglicherweise Rabbiner Isser Polonski (*1870), den Küglers Männer am Tag zuvor verhaftet und gezwungen hatten, auf den Tora-Rollen der großen Choral-Synagoge herumzustampfen, bevor sie ihn am 15. 7. 1941 erschossen.

9 Wenige Tage nach dieser Exekution forderte der Kommandant von Libau, Fregattenkapitän Dr. Hans Kawelmacher, 100 weitere SS-Männer und 50 Polizisten an, um die Exekutionen zu beschleuni- gen. Schon am 24.7. traf Viktor Arājs mit seinem lett. Exekutionskommando in Liepāja ein, dessen Angehörige in den folgenden beiden Tagen etwa 1100 jüdische Männer erschossen; siehe Heinz- Ludger Borgert: Die Kriegsmarine und das Unternehmen „Barbarossa“, in: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv, 7 (1999), Heft 1, S. 52 – 66.


 

DOK. 32 Juli 1941

Der Chef der Einsatzgruppe B berichtet dem Oberkommando der Heeresgruppe Mitte im Juli 1941 über Massenmorde an Juden und Kommunisten1

Polizeilicher Tätigkeitsbericht (streng vertraulich) der Einsatzgruppe B, gez. Nebe, für den Zeitraum 9. – 16. 7. 1941 an das Heeresgruppenkommando Mitte, o.D. [vor dem 20. 7. 1941]2

Abt. III (Polizeiliche Angelegenheiten) 3


 

Nach weiteren Berichten aus Bialystok ist es wegen des starken Übergewichts der jüdischen Bevölkerung und wegen der Stumpfheit der Weißrussen nahezu unmöglich, Pogrome gegen die Juden zu veranlassen.4 Die dort befindlichen Unterstützungstrupps5 stellen jedoch ihre Arbeit auf die Provozierung derartiger Pogrome ein, um dadurch eine Entlastung auf dem eigenen Arbeitsgebiet herbeizuführen. Durch Ansetzen von V-Männern und infolge enger Zusammenarbeit mit der Wehrmacht und der GFP konnten in Bialystok weitere 37 Personen festgenommen und auf Grund des gegen sie erstellten Beweismaterials liquidiert werden.6 Es handelte sich um: 4 politische Kommissare der Roten Armee, 7 Russen wegen kommunistischer Agitation und begründeten Verdachts der feindseligen Betätigung im Rücken der deutschen Truppen, 3 Weißrus- sen (KP-Mitglieder) wegen kommunistischer Betätigung, 8 Polen wegen kommuni- stischer Betätigung und Plünderns, 12 Juden wegen kommunistischer Betätigung, deutschfeindlichen Verhaltens und Plünderns, 3 Polen – entsprungene Häftlinge – wegen Plünderns.

Neben diesen Liquidierten erfolgten weitere 15 Exekutionen aus gleichgelagerten Grün- den. Die Kennzeichnung der Juden ist in dem Gebiet von Bialystok nunmehr restlos durchgeführt. Der jüdischen Bevölkerung wurde eine Kontribution in Höhe von 1 Million Rubel, 5 kg Gold und 100 kg Silber auferlegt.

Aus Nowogrodek wird von dem dortigen Unterstützungstrupp gemeldet, daß in der Nacht zum 8. und 9. 7. 41 irreguläres russisches Militär in Stärke von 60 bis 150 Mann den Ort passierte und sich in die ostwärts des Ortes gelegenen großen Waldungen begab, in denen sich noch starke russische Verbände aufhalten, die von Offizieren und roten Kommissaren geführt werden. Ein durch Nowogrodek ziehendes Kommando der Wehrmacht und ebenso die Feldkommandantur erhielten umgehend von dem Unterstützungstrupp die erforderlichen Mitteilungen, um gegen diese Partisanengruppe vorgehen zu können. Nach einer Meldung des z. Zt. in Wilna befindlichen Ek7 fand auf das Dienstgebäude der Polizei in der Nacht vom 12. auf 13. 7. ein Feuerüberfall statt, durch den jedoch niemand verletzt wurde. Als Vergeltungsmaßnahme wurden 408 Juden festgenommen und nach Beschlagnahme ihres Vermögens erschossen. Am 15. 7. wurde in Zusammenarbeit mit dem litauischen Ordnungsdienst eine gleiche Maßnahme gegen weitere 219 Juden durch- geführt. 202 vom litauischen Selbstschutz vor dem Einrücken der deutschen Truppen festgenommene Personen wurden dem Einsatzkommando überstellt, das sie z. Zt. über- prüft. 7 Kommunisten, die bereits vorher von den litauischen Gerichten wegen kommunistischer Agitation zum Tode verurteilt worden waren, wurden nach Übergabe an das Ek liquidiert. Das gleiche geschah mit 6 von der GFP übergebenen russischen Gefangenen, die als bolschewistische Propaganda- und Schulungsleiter festgestellt werden konnten. In Podreczie, 24 km nördlich von Wilna, hatten Überfälle von Soldaten und Juden stattgefunden. Durch einen vom Ek abgestellten Trupp wurden darauf am 14. 7. die um den genannten Ort liegenden Waldungen durchkämmt. Es wurde ein verlassenes Lager von ca. 40 bis 60 Personen aufgefunden. Nach Aussagen von 3 im Verlauf dieser Aktion aufgegriffenen russischen Soldaten waren die Urheber des Überfalls in unbekannter Richtung abgezogen. Obgleich das Kommando oft beschossen worden ist, sind bisher keine Verluste eingetreten.

In Minsk wurden in der Zeit vom 14. bis 16. 7. 41 349 Angehörige der jüdischen Intelligenz als Vergeltungsmaßnahme wegen der täglich von Juden in Minsk vorgenommenen Brandstiftungen liquidiert. Weiter liquidiert wurden in der gleichen Zeit Andrei Kazlowski, sowjetrussischer Gemeindevorsteher in Zazelka, der überführt wurde, Angehörige seiner Gemeinde nach Sibirien verschickt und sich deren Vermögen angeeignet zu haben. K. war Mitglied der KP; ferner die politischen Kommissare Sawarow Formas und Koslow Lew. Auf dem Gute Lachaza, Kreis Minsk, konnten der stellv. Güterdirektor Ilja Hawrylozyk (Weißrusse) und der jüdische Tierarzt Chaja Süßkind auf Grund von Angaben der Gutsangehörigen und eigener Geständnisse überführt werden, daß sie nach Abrücken der russischen Truppen sich 6 Gewehre beschafften und versuchten, eine Gruppe Heckenschützen zu organisieren. Das Unternehmen mißlang jedoch. H. und S. wurden gleichfalls am 16. 7. liquidiert.

Der sich noch im Minsker Zivilgefangenenlager befindliche Rest von 2500 Juden wird laufend weiter aussortiert.8 Jüdische Intelligenz ist nicht mehr darunter, jedoch ist es gelungen, durch jüdische V-Personen ungefähr 100 jüdische Mitglieder der KP, Spitzel usw. festzustellen, die heute exekutiert werden. Soweit die noch im Lager vorhandenen Juden nicht unbedingt zu dringenden wirtschaftlichen Arbeiten benötigt werden, erfolgt weiter eine laufende Liquidierung.

Nach Berichten des in Baranowicze liegenden Ek9 sind die sicherheitspolizeilichen Maßnahmen durch die eingesetzten V-Männer erheblich gefördert worden. Die Fahndungen und Erhebungen leiden aber noch unter dem gänzlichen oder teilweisen Fehlen der Melderegister. Die Aufstellung von Einwohnermeldelisten ist bereits angeordnet worden.

Hemmend wirkt sich bei der Personenfahndung noch die Ansicht der Bevölkerung aus, daß die z. Zt. von der deutschen Wehrmacht besetzten Orte wieder von den Sowjets zurückerobert werden könnten. Die Bevölkerung wird jedoch durch öffentliche Anschläge zur Mitarbeit aufgefordert und ihre Furcht vor der Rückkehr der Sowjets durch entsprechende Hinweise zu zerstreuen versucht. Die bereits einlaufenden Anzeigen beweisen, daß die Weißrussen sich langsam an der Fahndung nach den Funktionären beteiligen. In Baranowicze, Slonim, Lachowicze, Stolpce und in der Umgebung dieser Städte wurden Razzien durchgeführt und 400 Festnahmen vorgenommen. Es wurden vorerst nach Überprüfung 39 Personen in Slonim und 21 in Baranowicze liquidiert.10 Es handelt sich vornehmlich um Angehörige der kommunistischen-jüdischen Intelligenz sowie um Per- sonen, die noch nach dem Rückzug der Sowjettruppen nachweislich versucht haben, mit den Sowjets in Verbindung zu bleiben, Spitzeldienste zu leisten und die Bevölkerung durch Wucher und Drohungen zu terrorisieren. Die Exekution dieser Personen wurde zur Abschreckung durch öffentlichen Anschlag bekanntgegeben. Der Rest der Festgenommenen wird z. Zt. noch überprüft. Im Zuge dieser Aktion wurde ein Pole exekutiert, der zwei Einwohner Slonims fälschlich der Unterstützung sowjetrussischer Truppen beschuldigt hatte.

Ein vom Ek eingerichteter ziviler Ordnungsdienst unterstützt unsere Maßnahmen. Die Bildung eines abgeschlossenen jüdischen Wohnbezirks in den genannten Orten wurde in die Wege geleitet. Der nach Stolpce abgeordnete Sondertrupp konnte feststellen, daß sich in den Wäldern nördlich dieser Ortschaft Partisanengruppen befinden. Die Wehr- macht wurde sofort unterrichtet.

In Grodno wurden von dem dortigen Ek11 weitere 16 Juden festgenommen, die nachweis-

lich während der Sowjetherrschaft für den NKWD gearbeitet haben und nach dem Einmarsch der deutschen Truppen die Bevölkerung zum Widerstand gegen die deutsche Wehrmacht aufreizten. Sie wurden am 15.7. 41 mit weiteren 7 Juden aus Indura (1 komm. Jugendfunktionär und 6 Angehörige einer Räuberbande) liquidiert. Der gleichen Verbrechen wird eine größere Anzahl anderer Juden aus Grodno beschuldigt.12 Ihre Überprüfung, Festnahme und Liquidierung erfolgt laufend. Ferner konnte das Ek 4 NKWD- Dienststellen ermitteln. In mehrfach versiegelten Briefen wurden Aufmarschpläne der russischen Armee für den Mob[ilisierungs]fall vorgefunden, die unverzüglich dem Ic der 87. Division übergeben wurden.


 

1 BStU, RHE 4/85, SU, Bd. 7, Bl. 172 – 175 (das Dokument liegt als Fotokopie aus einem unbekannten Archiv vor, vermutlich aus dem CA MORF). Abdruck in: Johannes Hürter, Auf dem Weg zur Militäropposition. Tresckow, Gersdorff, der Vernichtungskrieg und der Judenmord. Neue Dokumente über das Verhältnis der Heeresgruppe Mitte zur Einsatzgruppe B im Jahr 1941, in: VfZ, 52 (2004), S. 527 – 562.

2 Vermerk von unbekannter Hand am Kopf des Dokuments: „Streng vertraulich. Hptm. Henrici zur persönlichen Information“ und: „O.B., Chef, Ia, Ib“ (Verteiler von Rudolf-Christoph von Gersdorff ). Dort befinden sich außerdem die auf den 20. – 22. 7. datierten Paraphen folgender Personen: Fedor von Bock; Hans von Greiffenberg (1893 – 1951), Chef des Generalstabs der H.Gr.B/Mitte; Henning von Tresckow (1901 – 1944), Ia der H.Gr.B/Mitte; Günther von Gericke, Ib der H.Gr.B/ Mitte; Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff, Leiter der Ic-Abt. H.Gr. Mitte. Laufende Randvermerke Gersdorffs über die Zahl der Liquidierten, mit Gesamtzahl am Ende des Dokuments: 1330. Dort befinden sich auch zwei Paraphen von unbekannter Hand vom 18. 7. und der Vermerk

„z.d.A.”

3 Abt. III war die Gestapo.

4 Siehe Dok. 11 vom 29. 6. 1941.

5 Möglicherweise sind damit Trupps des Ek z.b.V. gemeint, die von Polizeidienststellen des General- gouvernements entsandt wurden.

6 Bis zum 9. 7. 1941 hatten Angehörige der Sipo und des Polizeibataillons 309 in Białystok bereits mindestens 2000 Juden ermordet; siehe Dok. 13 vom 1. 7. 1941.

7 Dort operierte seit dem 2. 7. 1941 das Ek 9 unter Albert Filbert.

8 In Minsk waren nach Einmarsch der Wehrmacht alle Männer im wehrfähigen Alter in einem Lager der Wehrmacht interniert worden; siehe Dok. 72 bis 1. 9. 1941.

9 Ek 8 unter Dr. Otto Bradfisch.

10 Am 17. 7. 1941 erschossen Angehörige eines Teilkommandos des Ek 8 und des Polizeibataillons 316 in Slonim 1159 Männer im Alter von 18 bis 50 Jahren, am 18. 7. 1941 ermordeten Angehörige eines andereren Teilkommandos des Ek 8 in Baranowicze 381 Juden; EM Nr. 32 vom 24. 7. 1941, BArch, R 58/214, Bl. 17 – 29, hier Bl. 20 f.

11 Gemeint ist ein Teilkommando des Ek 9.

12 Nebe hatte bereits eine Woche zuvor gemeldet, dass in Grodno „in den ersten Tagen nur 96 Juden exekutiert wurden“ und er befohlen habe,„hier erheblich zu intensivieren“; EM Nr. 21 vom 13. 7. 1941, BArch, R 58/215, Bl. 17 – 30.


 


 

DOK. 94 Anfang Oktober 1941

Irina A. Chorošunova notiert Anfang Oktober 1941,

wie sich die Nachrichten über das Massaker von Babij Jar in Kiew verbreiten1

Tagebuch von Irina A. Chorošunova, 2 Einträge vom 30. 9., 2. 10. und 6. 10. 1941 (Abschrift)

30. September 1941


 

Wir wissen noch immer nicht, was sie mit den Juden gemacht haben. Von Leuten, die auf dem Lukjanovskoe-Friedhof waren, werden grausige Gerüchte verbreitet.3 Aber bislang ist es unmöglich, diesen Gerüchten Glauben zu schenken. Man erzählt, dass die Juden erschossen werden. Diejenigen, die sie bis zu dem Ort begleiteten, wo sie laut Befehl er- scheinen sollten, sahen, dass alle Juden durch eine Formation deutscher Soldaten gehen, alle Sachen fallen lassen. Ihre Begleiter wurden von den Deutschen fortgejagt.

Gestern ist die alte Skrinskaja gestorben. Da sind sie herumgerannt auf der Suche nach einem Sarg und einer Beerdigungserlaubnis. Erst heute haben sie mit großer Mühe einen Sarg bekommen, weil es gestern und heute massenhaft Selbstmorde von Juden gegeben hat und es scheinbar einen Befehl des Stadtkommandanten gibt, sie vorrangig zu beerdigen.4

Gestern ist die Familie Skrinskij auf den Lukjanovskoe-Friedhof gegangen (auf dem Bajkovyj-Friedhof untersagen die Deutschen Beerdigungen). Es ist unmöglich, auf normalem Weg zum Friedhof zu gelangen. Die ganze Straße ist verstopft von Juden, die von deutschen Soldaten eskortiert werden. Zum Friedhof geht es aber am Gefängnis vorbei. Dort wurde ein Loch in die Umzäunung [des Friedhofs] geschlagen, und dann tragen sie die Verstorbenen von der anderen Seite hinüber. Dort, auf der Seite des russischen Friedhofs, war es still. Als sie dort waren, hörten sie vom jüdischen Friedhof her pausen- los Maschinengewehrfeuer. Die einen sagen, dass sie die Juden mit Maschinengewehren erschießen, dass sie alle ohne Ausnahme erschießen. Die anderen sagen, dass sechzehn Eisenbahnzüge für sie vorbereitet worden sind und sie wegbringen sollen. Aber wohin? Darauf weiß niemand eine Antwort. Man weiß nur eins: Alle Papiere, Habseligkeiten und Lebensmittel werden ihnen weggenommen. Dann werden sie nach Babij Jar getrieben und dort… Ich weiß nicht, was dort ist. Ich weiß nur eins, da geht etwas Schreckliches, Grauenhaftes vor sich, etwas Unfassbares, das man nicht verstehen, begreifen oder erklären kann.

2. Oktober 1941

Schon sagen alle, dass die Juden ermordet werden. Nein, nicht ermordet werden, sondern schon ermordet worden sind. Alle, ohne Ausnahme – Greise, Frauen und Kinder. Jene, die am Montag nach Hause zurückgekehrt waren,5 sind auch schon erschossen worden. Das ist noch Gerede, aber es kann keinen Zweifel daran geben, dass es den Tatsachen entspricht. Es sind keine Züge von Lukjanovka abgefahren. Leute haben gesehen, wie Autos warme Kleider und andere Sachen vom Friedhof abtransportiert haben.6 Die deutsche „Sorgfalt“. Sie haben sogar schon die Trophäen sortiert!

Ein russisches Mädchen hat seine Freundin auf den Friedhof begleitet und sich von der anderen Seite durch die Umzäunung [auf den russischen Friedhof ] geschlichen. Sie hat gesehen, wie entkleidete Menschen in die Richtung von Babij Jar geführt wurden, und Gewehrschüsse gehört. Es gibt immer mehr von diesen Gerüchten und Berichten. Ihre Ungeheuerlichkeit will nicht in unsere Köpfe hineingehen. Aber wir sind gezwungen, sie zu glauben, denn die Erschießung der Juden ist eine Tatsache. Eine Tatsache, die anfängt, uns allen den Verstand zu rauben. Es ist unmöglich, diese Tatsache anzuerkennen und einfach weiterzuleben. Die Frauen um uns herum weinen. Und wir? Wir haben auch geweint am 29. September, als wir dachten, dass sie ins Konzentrationslager transportiert werden. Aber jetzt? Ist es etwa möglich zu weinen?

Ich schreibe, und die Haare stehen mir zu Berge. Ich schreibe, aber diese Worte drücken nichts aus. Ich schreibe deswegen, weil es notwendig ist, dass die Menschen der Welt von diesem ungeheuerlichen Verbrechen erfahren und es rächen können. Ich schreibe, und in Babij Jar geht das Massenmorden von wehrlosen und völlig unschuldigen Kindern, Frauen und Greisen weiter, von denen viele, so sagt man, halb lebendig begraben werden, weil die Deutschen ökonomisch denken und es nicht mögen, Kugeln unnötig zu verschwenden. Dieser verfluchte blaue Zettel,7 er lastet wie ein Stein auf der Seele. Und wir sind machtlos, absolut machtlos! … Und in Babij Jar, es ist tatsächlich so, gehen die Erschießungen weiter, dauert die Ermordung unschuldiger Menschen an.

Gab es jemals irgendetwas Vergleichbares in der Geschichte der Menschheit? Niemand hätte sich etwas Vergleichbares auch nur ausdenken können. Ich kann nicht weiter schreiben. Es ist unmöglich zu schreiben, unmöglich zu versuchen, das Geschehene zu verstehen – denn in dem Augenblick, in dem es uns bewusst wird, werden wir den Verstand verlieren. Und niemand profitiert davon,8 absolut niemand … Ohne Unterlass jagen sie Gefangene durch die Stadt.9 Die Juden treiben sie nackt vor sich her. Sie töten sie, wenn sie um Wasser oder Brot bitten. So ist das also. Und wir leben immer noch. Und verstehen nicht, woher wir plötzlich ein größeres Recht auf Leben haben sollen, weil wir keine Ju- den sind. Verfluchtes Jahrhundert, verfluchte grauenhafte Zeit!

6. Oktober 1941

Gestern begann zum ersten Mal seit dem achtzehnten10 eine Sirene irgendeines Werks zu heulen. Heute ist sie deutlich und anhaltend zu hören. Offensichtlich fangen die Deut- schen an, der Bevölkerung ein bisschen Leben einzuhauchen. Seit gestern Abend funk- tioniert die Wasserversorgung. So ist das Leben in der besetzten Stadt ja offensichtlich wieder geregelt. Der Krieg hat sich einige Schritte entfernt, und schon beginnt das Leben wieder von Neuem. Und alles geht irgendwie seinen Gang. Man lebt weiterhin sein Leben, ungeachtet der Tatsache, dass immer noch Juden zum Lukjanovskoe-Friedhof geführt werden. Das Leben geht weiter, obwohl gestern Gefangene durch unsere Straße geführt wurden und danach sechs Leichen auf dem Pflaster liegen geblieben sind.

Ob sie alle Juden sind? Die Gesichter von zweien sind zu sehen. Es ist schwer zu sagen, wer sie sind. Halb nackt, barfuß, die Gesichter durchsichtig, mit Haaren zugewachsen, die Hände schrecklich mager. Keiner von den Verwandten wird je erfahren, wie sie gestorben sind. Eine Stunde lang zogen die Gefangenen an unserem Haus vorbei.11 Dasselbe Bild, das schon in Darnica12 zu sehen war. Mager, schwarz, bärtig, schmutzig, mit hungrigen, abwesenden Augen. Frauen haben Wasser und Zwieback hinausgetragen. Und die Gefangenen stürzten sich auf sie, warfen sich gegenseitig und die Frauen um, rissen ihnen den Zwieback aus den Händen, schlugen sich um den Zwieback. Alle ringsherum weinten. Die deutschen Wachsoldaten schlugen die Gefangenen mit Stöcken und Gummiknüppeln und zogen dabei bestialische Grimassen. Die Gefangenenkolonne war endlos. An jenem Tag waren es mehrere tausend. Und die Frauen hörten gar nicht mehr auf, ihnen Wasser und Zwieback zu bringen, was trotzdem nicht ausreichte, um diese Hungernden auch nur annähernd satt zu machen. Dann endete der Zug der Gefangenen durch unsere Straße. Wir und sechs Leichen blieben zurück. Und das waren nur die Toten in unserer Straße. Aber sie gingen ja noch viele Werst13 weiter. Mir ist gelungen, zu erfahren [welche Gefangenen vorbeigeführt wurden]. Es waren Gefangene, die damals von Darnica nach Brovarov gingen. Gestern drangen schreckliche Nachrichten über die Gefangenen durch. Man sagt, dass sie auch jetzt, während der eisigen Nächte, im Freien bleiben. Sie stehen, dicht aneinander gedrängt, wiegen sich hin und her, um sich aufzuwärmen, und heulen. Von diesem Heulen verlieren die Menschen, die in der Nähe des Lagers wohnen, den Verstand. Morgens werden Hunderte Tote aus dem Lager getragen.

Nun, und das Leben geht seinen Gang. Kiew ist ebenso schön wie früher, insbesondere da ein goldener Herbst angebrochen ist. Und dort, wo die Stadt heil geblieben ist, hat man den Eindruck, dass es überhaupt keinen Krieg gibt und auch nie gegeben hat. Die Herbsttage sind klar, und langsam verbreitet sich der silbrig schimmernde Glanz des Altweibersommers in der Luft. In der Stadt ist es still, ganz wie auf dem Dorf. Nur die deutschen Fahrzeuge lärmen in einigen Straßen. Der Drahtfunk14 ist abgeschaltet, es verkehren weder Straßenbahnen noch Züge, die Fabriken stehen still. Der Lärm der Stadt ist völlig verstummt. Ab und zu fliegt ein deutsches Flugzeug vorüber; sie fliegen nun sehr tief.

Die Deutschen reparieren die Smolensker Brücke. Man sagt, zwei Badehäuser wären wieder in Betrieb. Es gibt nichts zu kaufen. Die Bauern verlangen für ihre Lebensmittel den dreifachen Preis und tauschen sie gegen Stiefel ein. Gestern wurden in irgendwelchen Geschäften angeblich Färbemittel und Streichhölzer verkauft. Die früheren Märkte riechen nach Kölnischwasser. Diese Säufer zahlen 50 Rubel für einen Flakon farbigen Kölnischwassers und trinken es als Wodka-Ersatz. Brot gibt es nicht, der Zucker geht zur Neige. Wir treten in eine Hungerperiode ein. Dieses Problem beunruhigt uns. Aber wie nichtig er- scheint das gegenüber dem, was auf dem Lukjanovskoe-Friedhof geschehen ist!


 

1 Institut Judaiki Kiew. Abdruck auf Russisch in: Die Schoáh von Babij Jar. Das Massaker deutscher Sonderkommandos an der jüdischen Bevölkerung von Kiew 1941 – fünfzig Jahre danach zum Ge- denken, hrsg. von Erhard Roy Wiehn, Konstanz 1991, S. 292 f. Das Dokument wurde aus dem Russi- schen übersetzt.

2 Irina A. Chorošunova (1913 – 1993), Kunstformerin.

3 Der genannte Friedhof liegt direkt neben der sog. Schlucht von Babij Jar.

4 Der Befehl wurde nicht ermittelt. Stadtkommandant war Kurt Eberhard.

5 Der Montag war der 29. 9. 1941; gemeint sind somit die Juden, die am ersten Tag des Massakers am Sammelpunkt umkehrten.

6 Die Kleidung der Ermordeten wurde, zusammen mit der Bekleidung der am 19. 9. 1941 ermordeten Juden von Žitomir’, in insgesamt 137 Lastwagenladungen abtransportiert und z. T. an sog. Volks- deutsche verteilt; EM Nr. 132 vom 12. 11. 1941, BArch, R 58/219, Bl. 54.

7 Damit ist vermutlich der Aushang mit dem Befehl zur Versammlung der Juden vom 28.9.1941 gemeint.

8 Gemeint ist: von den Morden.

9 In den Tagen nach dem 30. 9. 1941 wurden Juden in Babij Jar erschossen, die dem Aufruf vom

28. 9. 1941 nicht gefolgt waren oder sich verborgen hielten. Die Behörden riefen die Bevölkerung auf, versteckte Juden der Polizei zu melden; siehe Dok. 89 von Anfang Okt. 1941.

10 Am 18. 9. 1941 begann der deutsche Angriff auf Kiew. Am 19. 9. nahmen Verbände des XXIX. Armee- korps das Stadtzentrum ein.

11 Es handelte sich um sowjet. Kriegsgefangene; der Wehrmacht waren in der Schlacht von Kiew im

Sept. 1941 nach eigenen Angaben etwa 660 000 Rotarmisten in die Hände gefallen.

12 In Darnica befand sich ein Durchgangslager für sowjet. Kriegsgefangene.

13 Längenmaß im zaristischen Russland; 1 Werst = 1,0668 km.

14 In der Sowjetunion wurde das Radioprogramm in den Städten über Lautsprecher übertragen, die an Laternenpfählen angebracht waren; nur wenige Einheimische besaßen einen Rundfunkempfänger.


 


 

DOK. 241

Der Bildhauer Rudolf Feldberg bittet am 16. Juli 1942, die Steine auf dem jüdischen Friedhof von Riga kaufen zu dürfen1

Gesuch von Rudolf Feldberg, Bildhauer,2 Gr. Königstr. 20–2, Riga, an die deutsche Sicherheitspolizei in Riga, Moltkestr. 1, vom 16. 7. 19423


 

Gesuch

Wende mich an die Deutsche Sicherheitspolizei und SD mit der höfl. Bitte, mir das Recht einzuräumen, die Marmor-, Granit- u. a. Steine, die sich in den Grenzen der Stadt Riga auf den jüdischen Friedhöfen befinden, in meinen Besitz zu erwerben. Benötige solches als Rohmaterial für meine Bildhauerarbeiten, und zwar zur Anfertigung von Andenken- sachen, Standbildern, Postamenten u. a. Kunstwerken in meiner Bildhauerwerkstatt, da es z. Zt. nicht möglich ist, dieses Material einzuführen.

Erlaube mir zu bemerken, daß die jüdischen Friedhöfe in Talsen schon aufgeräumt und der Platz geebnet ist.

Auch in Mitau ist das brauchbare Material schon gemeinnützlich verwendet. Habe mich diesbezüglich an das Rigaer Stadtamt gewandt, jedoch mit dem Schreiben vom 8. Juli Nr. 4340 den Bescheid erhalten,4 daß sie nicht befugt sind, über dieses Material zu ent- scheiden.

Das Kirchen- und Konfessionsdepartement hat auf meine Anfrage mitgeteilt, daß ihre Kompetenz sich nur auf die Pflege und Betreuung der Friedhöfe erstreckt. Auch die Ge- neraldirektion ist nicht befugt, über Liquidationsfragen zu entscheiden.

Darum wende [ich] mich an Sie als die zuständige Behörde in dieser Angelegenheit und bitte höfl., mein Gesuch zu berücksichtigen. Im positiven Entscheidungsfalle bin [ich] bereit, die Stadt Riga von den geschmacklosen jüdischen Denkmälern und Emblemen zu säubern und die jüdischen Friedhöfe mit der Erde zu ebnen.5


 

1 BArch, R 90/449.

2 Rudolf Feldberg hatte in der Zwischenkriegszeit in Riga ein Denkmal für den Unabhängigkeits- kampf nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen.

3 Die Großschreibung des Originals wurde beibehalten; im Original handschriftl. Bearbeitungsver- merke.

4 Liegt nicht in der Akte.

5 Die Sipo leitete das Schreiben an die Treuhandstelle des RKO, z. Hd. Bruns, weiter. Dessen Chef, Hermann Alletag, betonte daraufhin in einem Rundschreiben an die Generalkommissare des RKO vom 30. 9. 1942, beim Verkauf von Grabsteinen jüdischer Friedhöfe sei auf die „Erzielung angemessener Preise“ zu achten, für den Kubikmeter schwarzen Basalts seien 300 Mark zu ent- richten; LCVA, R 614/1/388, Bl. 79.


 


 

DOK. 266 24. März 1943

Der Judenrat des Gettos von Shavl (Šiauliai) diskutiert am 24. März 1943 über erzwungene Abtreibungen1

Handschriftl. Tagebuch von Eliezer Yerushalmi, Shavl, Eintrag vom 24.3.1943, S. 699

Protokoll der Sitzung des Judenrats von Shavl2 vom 24. März 1943

Teilnehmer: Vom Vorstand: M. Leybovitsh, B. Kartun, A. Heller und A. Kats; die Dokto- ren: Burshteyn, Blekher, Goldberg, Direktorovitsh, L. Peysakhovitsh u. a.3


 

Auf der heutigen Tagesordnung: Wie können Geburten im Getto vermieden werden?

M. Leybovitsh: Wir kommen zurück zu dem Problem der Geburten. Das gegen die Juden verhängte Verbot, Kinder zu gebären, gilt für alle Gettos in seiner ganzen Härte.4 Letztens gab es den Fall einer Geburt in Kovne, wo die ganze Familie erschossen wurde.5 Dessen ungeachtet macht man es sich hier sehr leicht, und es ist schon in einigen Fällen zu Schwangerschaften gekommen, gegen die man nichts unternommen hat. Dr. Blekher fragt, ob man schwangere Frauen zwingen könne, einen Abort vornehmen zu lassen. Ob es eine Statistik schwangerer Frauen gebe? Dr. L. informiert: Seit dem 15. August v[ergangenen] J[ahres] gab es bei uns drei Geburten. Wie sie vonstatten gingen, weiß er nicht, weil er in diesen Fällen keine Geburtshilfe geleistet hat. Momentan gibt es im Getto an die zwanzig schwangere Frauen, die meisten in den ersten Monaten, aber es gibt auch einige im vierten und fünften Monat und sogar eine im achten Monat. Unter allen schwangeren Frauen gibt es nur zwei, die keinen Abort vornehmen lassen wollen: Eine, die befürchtet, kinderlos zu bleiben, weil es für sie schon der dritte Abort wäre, und diejenige, die schon im achten Monat ist. Dr. P.: Man muss Einfluss darauf nehmen, dass sie in einen Abort einwilligen. Man muss ihnen mitteilen, was in Kovne und in Riga geschehen ist. Falls nötig, darf man auch eine Notlüge verwenden und ihnen sagen, dass die Sicherheitspolizei schon nach solchen Fällen sucht. Dr. Burshteyn schlägt vor, dem gesamten medizinischen Personal einschließlich der Hebammen zu verbieten, Geburtshilfe zu leisten. Dr. Bl. schlägt vor, je- den Fall einer Schwangerschaft zu registrieren und die Schwangeren zu beeinflussen, dass sie einen Abort vornehmen lassen. M. L.: Man darf die Propaganda gegen die Geburten nicht öffentlich führen, damit sie nicht auch solche Ohren erreicht, die das nicht hören dürfen. Wir müssen ausschließlich mit den betroffenen Personen verhandeln. Er schlägt vor, die schwangeren Frauen in das Krankenrevier vorzuladen, um sie in Anwesenheit eines Arztes und eines Vorstandsmitglieds zu warnen und über die ganze Gefahr aufzuklären, die ihnen droht. Dr. L.: Wie kann man einen Abort bei einer Frau durchführen, die schon im achten Monat ist? Man muss doch die Gefühle einer Mutter verstehen. Man wird sie bestimmt nicht beeinflussen können. Falls wir eine Frühgeburt provozieren, was geschieht dann mit dem Kind? In einer privaten Wohnung wird man so eine Operation nicht machen können, und im Krankenhaus darf doch das Kind nicht überleben. Was geschieht, wenn das Kind dennoch lebendig geboren wird? Sollen wir es töten? Eine solche Verantwortung kann ich nicht auf mein Gewissen laden. Dr. Bl. fügt hinzu, dass es in diesem Fall wirklich schwer ist, da kein Arzt die Verantwortung auf sich nehmen kann, ein lebendiges Kind zu töten. Das wäre ja ein Mord. Dr. P.: Wäre es möglich, die Geburt zuzulassen und das Kind einem Christen zu übergeben? M. L.: Wir können die Geburt des Kindes nicht zulassen, weil wir verpflichtet sind, jede Geburt zu melden. Schon drei Mal wurden wir gefragt, ob Geburten vorgekommen sind. Jedes Mal haben wir geantwortet, dass dies nicht der Fall sei.

B. K.: Was können wir tun, da das Getto in einer solchen Gefahr ist? Wäre es nur eine Gefahr für die Familie des Neugeborenen, dann könnte man die Verantwortung den Betroffenen überlassen. Aber es kann eine Gefahr für das ganze Getto bedeuten. Es kann die schrecklichsten Konsequenzen haben. Man muss alle Mittel anwenden, damit es nicht zu Geburten kommt. A. K.: Die Aborte dürfen nur von den Ärzten vorgenommen werden. Die Ärzte müssen mit den schwangeren Frauen verhandeln. Sie müssen sie dazu bewegen, einen Abort vornehmen zu lassen. Wenn Reden nicht hilft, sollen sie die Angelegenheit jemandem aus der Verwaltung übergeben, der [dann] Sanktionen gegen die Familie verhängt: die Lebensmittelkarten einziehen, Familienmitglieder auf schlechtere Arbeitsplätze versetzen, keine medizinische Hilfe [leisten] und kein Holz geben usw. Wenn auch das nicht hilft, muss man die Frau vorladen und ihr ein Ultimatum stellen: Lässt sie nicht innerhalb kürzester Zeit einen Abort vornehmen, macht der Vorstand Meldung an die Sicherheitspolizei. Was die Frau im achten Monat betrifft, so darf deren Kind nicht lebendig geboren werden, weil dies ein [falsches] Beispiel für andere wäre. An Verhandlungen mit Betroffenen soll kein Vorstandsmitglied teilnehmen, damit keiner erfährt, dass der Vorstand Kenntnis von den Schwangerschaftsfällen hat.

Dr. Dir.: Nur zu Beginn wird man wissen, dass die Ärzte die Verhandlungen mit der be- treffenden Frau führen, aber später, wenn Sanktionen verhängt werden, ist doch klar, dass auch der Vorstand Bescheid weiß. Was den Fall der Frau im achten Monat betrifft, so ist dies wie ein Fall drohender Gefahr für die Mutter zu bewerten; dann muss man doch das Kind töten. Dr. L.: Ich kann das nicht tun! Dr. P.: Eine Frühgeburt kann in einem Krankenhaus eingeleitet werden, und dort wird ein anderer Arzt anwesend sein. Die Tötung des Kindes wird von einer Krankenschwester mittels einer Spritze durchgeführt, die gar nicht wissen wird, was sie da tut. A. K.: Diese Frühgeburt muss sofort veranlasst werden, da jeder Tag Gefahr bedeutet. In allen Fällen einer Schwangerschaft müssen alle Möglichkeiten der Einflussnahme ausgeschöpft werden: 1. Aufklärung, 2. Sanktionen, 3. Ultima- tum und Drohung mit der Sicherheitspolizei. Die Maßnahmen werden bestätigt. Es wird außerdem beschlossen, diese Maßnahmen dem gesamten medizinischen Personal be- kannt zu geben. Hinsichtlich der im achten Monat schwangeren Frau wird beschlossen, die Frühgeburt unverzüglich einzuleiten.6


 

1 GARF, 8114/1/954, Bl. 301 – 305, Kopie:YVA, JM.3353. Das Dokument wurde aus dem Jiddischen über- setzt. Abdruck in hebr. Übersetzung in: Yerushalmi, Pinkas Shavli (wie Dok 35, Anm. 1), S. 188 – 190.

2 Nicht kursiv: nachträglicher Einschub in anderer Handschrift.

3 Aron Heller (1889 – 1945), Rabbiner und Leiter der Handelsbank in Šiauliai, im Juli 1944 nach Dachau deportiert, dort verstorben; Aron Kats (1904 – 1944), Buchhalter, im Juli 1944 nach Flos- senbürg, im Okt. 1944 nach Dachau, im Nov. 1944 nach Natzweiler deportiert, dort verstorben; Dr. Kalmanas Blecheris, auch Blekher (*1887), Arzt; Jakub Goldberg (*1890), Arzt, Laborant im Gettokrankenhaus, vermutlich im Getto umgekommen; Hirsch Direktorovitsh, auch Giršas Di- rektoravičius (*1889), Arzt, im Juli 1944 über Stutthof nach Dachau deportiert, dort 1945 befreit; Dr. Vulf Peysakhovitsh, auch Pertsikovitch und Peisacharič (*1905), Arzt.

4 Das Geburtenverbot war in Šiauliai erstmals am 5.3.1942 erlassen worden. Die ursprüngliche Frist, zu der alle Schwangerschaften beendet sein mussten, wurde am 13.7.1942 vom 5.8. auf den 15.8.1942 verlängert. In Wilna und Kaunas wurde am 28. 5.1942 ein Geburtenverbot ausgesprochen; zu Wilna siehe Tory, Surviving the Holocaust (wie Dok 254, Anm. 7), S. 114, zu Kaunas siehe Dok. 243 vom 7.8.1942.

5 Nicht ermittelt.

6 Zu den Abtreibungen siehe auch Dok. 274 vom Nov. 1943.



 

DOK. 327

Toni Varticovschi berichtet Anfang 1943 über die Verfolgung der Juden in Bessarabien, der Bukowina und in Transnistrien1

Bericht von T. Varticovschi,2 o. D. [Jan. 1943]3


 

1. Die Vernichtung des Judentums in Bessarabien und Bukowina.

Von T. Varticovschi. – In den Tagen vom 2. 7. bis 6. 7. 1941.

In diesen drei Tage begann die Vernichtung und Ausrottung der Juden von Bessarabien und Bukowina. Nur wenige bessarabische Leute, die zufälligerweise in Czernowitz geblieben sind, wissen Wahres darüber zu berichten, was die rumänischen Mörder in diesen drei Tagen angerichtet haben. Die Mörder waren das rumänische und deutsche Militär sowie die bessarabischen und bukowiner Bauern. In diesen drei Tagen hat das rumänische Militär zurückerobert von den Russen und wieder besetzt diese zwei Provinzen, und als Dank hierfür wurden dem Militär und der Landbevölkerung diese drei Tage freigegeben zu tun und zu lassen was die wollten, u. zw.: zu plündern, morden, [er]schießen alle Judenbolschewiken in diesen zwei Provinzen. Die rumänischen Mörder haben diesen Befehl pünktlich ausgeführt. Alle Bauern aus den Dörfern sind in die großen und kleine- ren Städte gezogen zur Feier von Raub und Mord. Alle Juden wurden aus ihren Häusern in Lager zusammengetrieben. Deren ganzes Vermögen wurde ausgeraubt, was nicht mit- genommen werden konnte, wurde zerbrochen, man erschoß und erschlug, wen man nur vorfand. Es ist in keiner Stadt oder Städtchen ein Haus geblieben, wo keine Tote waren, außer Czernowitz. In vielen Häusern sind ganze Familien sind ausgerottet worden. Von den einzelnen Lagern sind ganze Gruppen auf die Friedhöfe getrieben worden, ihnen [ist] anbefohlen worden, Gräber selbst zu graben, hierauf wurden sie erschossen und die Toten mitsamt den Verwundeten in die Gräber geworfen und verschüttet. In einem Städtchen Nowoselitza, Bezirk Hotin, wurde ein Teil der jüdischen Bevölkerung in den Häusern eingesperrt, um die Häuser herum Maschinengewehre aufgestellt, damit keiner entkommen kann, und hierauf wurden die Häusern mit den Leuten darin verbrannt. Außerdem wurden dort noch 800 Leute erschossen.4 In der Stadt Secureni wurden 1200 Leute ermordet.5 Der Spitalarzt Dr. Süßman [hat], als er das Unglück herannahen sah, vor Gram sich, seiner Frau, seinem Bruder und seiner Schwägerin Gift injiziert, und sich einander um- armend sind alle verschieden. In der Stadt Hotin wurde ca. 3500 Juden ermordet, unter welchen sich der Rabbiner Twerschi mit seinem Sohne befunden hat, alle Rabbiner, Schäch- ter, alle Leute, die mit dem Bolschewismus nie etwas gemein hatten.6 In dem Städtchen Österr. Nowoselitza wurden alle Juden ermordet.7 Im Dorfe Cipleutz, wo 60 Juden lebten, wurden sämtliche 60 in einem einzigem Grabe vergraben. Dasselbe ereignete sich in allen Städten und kleineren Städtchen und Dörfern. Und überhaupt in Bessarabien. Die Stadt Czernowitz, welche weniger als alle andere Städte gelitten hat, besonders was Raub anbetrifft, und doch enthält der jüdische Friedhof ein Massengrab, wo in diesen drei Tagen etwa 2500 Juden verschüttet wurden.8 Außerdem wurden Hunderte Juden beim Prut vergraben und an anderen Stellen vom rumänischen und deutschen Militär erschossen, unter welchen es befindet sich auch der Oberrabbiner Dr. Mark, der Kantor Gurman, Mehel Volstein mit seinem Sohne aus Briseni, und so wurden in diesen drei Tagen etwas mehr als 100 000 Juden umgebracht.9

Der Weg in die Lager und die weitere Vernichtung des Judentums von Bessarabien und Bukowina.

Am 7. Juli 1941 begann der Befehl dem Bukarester Zivilmacht und Militärmacht die kom- plette Reinmachung von Bukowina und Bessarabien von den Juden außer Czernowitz.10

Der Befehl wurde pünktlich durchgeführt. Es wurden alle verbliebenen Juden aus der Bukowina und Bessarabien außer der Stadt Czernowitz zu Fuße, nackt und barfuß, hungrig, noch nicht erholt vom gestrigen Gemetzel, in Lager getrieben in einer Entfernung von ca. 250 km. Nicht ein einziger Jude ist in diesen zwei Provinzen verblieben außer in Czer- nowitz. Die Lager waren in dem Städtchen Edinetz, Secureni, Atachi, Moghilev, Jampol, Wertujeni, Reutzel, Balta, Jmerinka, Berschad.11 In der Stadt Chischinou wurde ein Ghetto errichtet und hierauf die Juden von dort in Lager geschickt. Auf allen Straßen und Wegen von ganz Bessarabien lagen herum tote Juden – Alte, Kranke, Frauen und Kinder, die den Transport nicht überdauern konnten, d. h. nicht so lange gehen konnten. Um die Schwachen und Kranken loszuwerden, hat die begleitende Gendarmerie dieselben unterwegs erschossen, damit eben noch einige zurückgelassen. Ganze Haufen Hunde haben von den [Toten] das Fleisch genagt, und deren Wehklagen gingen himmelhoch. Monatelang lagen auf allen Wegen herum die Gebeine der Toten, die von den Hunden verschleppt wurden; vor Hunger haben die Juden unterwegs Gras und Unkraut gegessen bis zur Ankunft in die Lager.

Konzentrationslager

Diese Lager sind errichtet am Ende eines Städtchens oder eine Dorfes, natürlich in den kleinsten Häuschen, in Magazinen oder in Viehstallungen, schmutzig, ohne Türen und Fenster, weil während des Plünderns die Fenster eingeschlagen und die Türen aus den Fugen gestohlen wurden. Ins kleinste Zimmerchen oder Magazinsraum wurde wenigstens 30 – 40 Personen hineingepfercht, und da natürlicherweise kein Raum wenigstens für alle zum Schlafen da war, so mußte abwechselnd geschlafen werden. Geschlafen wurde [auf dem] Fußboden sogar ohne Strohunterlage. Die Lager waren alle umzäunt mit Draht und wurden von [der] Gendarmerie bewacht, damit ja niemand etwas Essen hineinschmuggle. Essen wurde diesen Unglücklichen überhaupt nicht gegeben und [sie] waren daher gezwungen, sich mit Gras, Kräutern und mit Hunger zu ernähren. Ein Teil gab sein Letztes her, was er doch noch hineinschmuggeln konnte (Ehering, Uhr etc.), um für seine Kinder ein Stückchen Brot zu bekommen. Einige verkauften die Schuhe oder Hosen von sich, nur um ein Stückchen Brot zu bekommen, und waren so gezwungen, nackt und barfuß herumzugehen. Überhaupt herrschte zu jener Zeit ein Geldmangel, da das rumänische Geld ja von den Russen umgewechselt wurde,12 während das russische Geld nicht angenommen wurde und aus Czernowitz ihnen Geldmittel zu schicken nicht möglich war, da auch hier kein rumänisches Geld noch nicht war. Aber zu guter Letzt haben mehrere Juden in den Lagern in Edinetz und Secureni Geldunterstützungen erhalten, die von mir und anderen Leuten geschickt wurden durch Vermittlung eines mir bekannten Christen. Aber das war viel zu wenig für deren Existenz, und überdies war das Übersenden von Geld sehr schwer, weil Juden ja nirgends hin von Czernowitz fahren dürfen und die Christen eben nicht den Juden helfen wollten. Mehrere Rumänen haben mitgenommene Gelder und Pakete weggenommen und für sich behalten. Durch das Essen von Graskräutern und Abfällen sind ein Teil der Juden in den Lagern sowie durch Schmutz erkrankt an Typhus, Dysenterie13 und andere Krankheiten, da keine Medikamente da waren. Täglich sind in fast jedem Lager 60 bis 70 Leute verschieden. Außer der Lager Edinetz und Sekureni hatte keiner Verbindung mit Czernowitz. Und am 20. 8. 1941 kam ein Befehl aus Bukarest, daß die verbliebenen Juden aus allen Lagern und auch die Juden aus Stadt Czernowitz, Dorohoi, Dorna Vatra, Campulung, Sudeava, Radautz wie überhaupt aus der ganzen Bukowina in die Ukraine (Transnistrien) in Lager geschickt werden. Unbeschreiblich war die Lage der Juden in den Lagern, und alle Briefe und Schreiben, die die Czernowitzer Juden von dort erhielten, lauteten fast alle gleich: Rettet uns und helfet uns in unserem großem Unglück aus Krankheit und Hungertod.

Die Übersiedlung der Lager in die Ukraine.

Am 20. X. 1941 wurden alle verbliebenen Juden zu Fuß aus den Lagern in die Ukraine getrieben. Es ist selbstverständlich, daß ein größerer Teil von ihnen nach drei Monate langem Hungern krank war, trotz der minimalen Unterstützung, die aus Czernowitz ab und zu hereinkam und daher diese Leute nicht Schritt mit der Gendarmerie halten konnten, die sie unbarmherzig getrieben haben, und ohne irgendwelchen Grund sind eben diese, die nicht gleich rasch mitkonnten, unbarmherzig niedergeknallt worden. Tausende waren es solcher. Viele sind vor Schwäche unterwegs verendet. Die Juden aus dem Lager Sekureni wurden bis zur Station Barnova (Eisenbahnlinie Oknitza – Ataki) geführt, dort wurden Maschinengewehre aufgestellt und den Juden anbefohlen, selber Graben zu graben und der größte Teil von ihnen erschossen, wobei die Verwundeten zusammen mit den Toten verschüttet wurden. Ähnliche Fälle sind mit den Juden aus anderen bessarabischen Lagern sowie mit den Juden, die aus dem Kischinau-Ghetto in die Ukraine geschickt wurden, passiert. In diesem Falle ist es selbstverständlich, daß in die Ukraine bloß ein kleiner Teil der verbliebenen Juden angekommen sind. Sämtliche bessarabischen Lager wurden umbestellt in die Lager: Mogilev, Kupaigorod, Sarigrad, Berschad, Balta, Jam- pol, Imerinka und ebenda in Dörfer, wo ukrainische Kolchosen da waren.

Die Bereinigung der Stadt Czernowitz von den Juden.

Um die Stadt Czernowitz leichter judenrein zu machen, wurden alle Juden in einem Ghetto gebracht. Ohne Publikationen und ohne schriftliche Befehle und nur infolge mündlichen Auftrags an einem Tage von zehn Uhr vormittag bis sechs Uhr vorabends am 20. X. 1941, müssen alle Juden ins Ghetto gehen. Jeder war laut Auftrag verpflichtet, bis sechs Uhr vorabends seine Wohnung zu verlassen und durfte nach sechs Uhr abends sich nicht mehr in der Stadt befinden. Das Ghetto war der untere Stadtteil (Judengassenenge), schmutzige Gassen, schlechte Zimmer und überhaupt ein sehr kleiner Raum für 60 000 Menschen. Je 15 – 20 Menschen müßten in ein Zimmer hinein, um nicht draußen bleiben zu müssen. Sie können sich ein Bild darüber machen, wie diese 60 000 Menschen innerhalb [von] acht Stunden mit Gepäck durch die Stadt gezogen sind ohne Fuhrwerke. Jeder Jude nahm eben nur so viel wie viel er mittragen konnte. Für [das] deutsche Kommando in Czernowitz war dieser Tag ein Freudentag, da sah man an allen Ecken deutsche Offiziere herumstehen und Filmaufnahmen machen, während sich die Rumänen darüber freuten, daß sie schon morgen das jüdische Erbe antreten werden.

Die Juden hingegen verließen ihre Wohnungen und pferchten sich in dem engen Ghetto so zusammen, wie es eben halt ging. Nach drei Tage langem Herumcampieren wurden Eisenbahnwaggons herbeigeschafft, und rumänische Soldaten begannen gassenweise die Juden aus die Häusern zu treiben und das Ghetto rein zu machen. Es entstand ein Rennen nach erreichbaren Fuhrwerken, die Fuhrwerkbesitzer nahmen soviel, wie sie wollten für einen Wagen zur Bahn, weil jeder ein paar Pakete Bagaj14 mit sich nehmen wollte. An jedem Tage wurden 40 Waggons mit Juden verladen unter Zurücklassung deren Fabriken, Blockhäuser, Güter, Möbel und überhaupt alles, was nur denkbar ist, wofür sie und deren Eltern schwer arbeiteten, fahrend nach der Ukraine (Transnistrien), wohin sie geschickt wurden einem sicheren Tode entgegen. Bei der Eisenbahnstation in Czernowitz haben die Eisenbahn- und Finanzbeamte die Leute auf d[as] Wüs[te]s[t]e beraubt, indem [sie ihnen] befahlen, die Pakete in einen separaten Wagen hineinzulegen, und bevor der Zug die Station verließ, wurde dieser Waggon abgekoppelt und die Leute [wurden] ohne deren Gepäck weggeschickt. Und auf diese Weise sind die unglücklichen Juden in die Ukraine gekommen, ohne ein Hemd zum Wechseln zu besitzen, ohne irgendwelche Bekleidung, und da es Winterzeit war, so sind bereits unterwegs viele erfroren. Unzählige kleine Kinder sind auf den Händen ihrer Mutter erfroren. Endlich nach paar Tagen langen Verschicken gelang es dem Städtischen Bürgermeister Dr. Traian Popovici in Bukarest zu erwirken, daß 18 – 20 000 Juden doch noch bleiben sollen und zwar nur solche Leute, die dringend benötigt werden u. zw.: Fachleute, Spezialisten, Ärzte, von den Obengenannten nur zeitweilige Autorisationen erhielten.15 Der verbliebene Rest wurde erbarmungslos aus Wohnungen hinausgejagt und zum Bahnhof getrieben, [um] in den Tod geschickt zu werden. Nach Ablauf sechs Monate begann an jedem Sonnabend vorabend bis Sonntag sechs Uhr abends die weitere teilweise Bereinigung der Stadt von Juden und zw.: Sonnabend zwölf Uhr nachts wurden alle Stadtbeamte zusammengenommen, und am Sonntag um vier Uhr vor [Anbruch des] Tages begann die Reinigung, wobei die Leute auf Grund von Listen aus ihren Betten geholt wurden.16 Alle diese wurden auf dem Makkabiplatz gebracht, und dort wurde die Schlußrevision vorgenommen, wobei alles mitgenommene Hab und Gut abgenommen wurde, und sie wurden nackt und barfuß in die Ukraine geschickt. Jede Woche andere Opfer, andere Deportierungen, jeden Sonntag andere Un- glückliche auf dem Makkabiplatz bis es endlich in Czernowitz ist im Monat August 1942 nur 12 000 Juden geblieben.

Die Bestialitäten waren derart, daß die jüdische Kranken an dem Spitälern und die Verrückten an der Irrenanstalt weggeschickt und unterwegs sämtlich erschossen wurden.17

Die Juden in der Ukraine (Transnistrien) 1941 – 1942.

Die ersten Ankömmlinge der bessarabischen Juden in die Ukraine trafen dort auf zerstörte Städte und Dörfer ohne Juden, alle waren mit den Russen mitgegangen, geblieben waren nur alte, kranke Menschen, die keinem irgendeine Hilfe geben konnte.18 Die bessarabischen [Juden] waren ebenfalls nackt und barfuß, hungrig. Zu 40 Leute in einem Zimmer wohnen mußten, ohne Schlafgelegenheit, ohne Bettzeug. Es begannen Krankheiten auszubrechen wie Flecktyphus; die Kranken mußten mit den Gesunden zusammen wohnen. Es begann ein Massensterben. An jedem Tage in den Monat[en] Dezember 1941 und Januar, Februar, März, April 1942 sind täglich ca. 130 Menschen gestorben und das nur in der Stadt Moghilev; viele weitere starben in den anderen Städten.

Vielen sind infolge der starken Fröste ihre Füße, Hände, Ohren und Nasen abgefroren, so daß sie zu Krüppel wurden. Die Leute hungerten und froren überhaupt in der Stadt Berschad, Bezirk Balta. Zehntausende von Juden sind dort in Folge Hunger gestorben.19

Diese Stadt erhielt den Namen „Friedhof der bessarabischen Juden“. Den Juden in Mogilev war es doch etwas leichter, denn trotz des Verbotes, daß man keine Post und kein Geld den Unglücklichen schicken darf, wurde ihnen doch geheim etwas Geld geschickt. Am ärgsten war es mit dem Städtchen Berşad und Jampol, da man erst im Monat Mai 1942 erfahren konnte, daß dort überhaupt Juden da waren und man von dort überhaupt keine Post bekommen hat. Die letzte drei Transporte wurden in Lager am Bug geschickt, und von ihnen konnte man überhaupt kein Lebenszeichen erhalten. Auf solche Art und Weise sind die Juden dieser zwei Provinzen mit einem Federstrich vernichtet worden, wo bisher 450 000 Juden lebten,20 von welchen ca. 70–80 % ermordet, gestorben sind, während noch die paar Zurückgebliebene nur schwer den Hunger und Kälte überleben werden.21 Und das sind die unschuldigen jüdischen Opfer, die Bestien [zum] Opfer gefallen sind.

Meine Hilfe und Eure Pflicht

Nach drei Tage langen Morden und Plündern und nach dem alle verbliebenen Juden in Lager geschickt wurden, nach alle dieser Greueltaten, wo auf allen Straßen tote Juden herumlagen und Hunde sogar von den Verwundeten das Fleisch gefressen haben und wo Verwundete, noch bevor sie verendeten, begraben wurden, und auf allen Wegen Juden herumlagen, die nach einem bißchen Wasser lechzten, verblieb in Czernowitz kein bessarabischer Jude […]22 in die Lager und nachher in die Ukraine […]23 strenge Strafe wie Deportation darauf ausgesetzt waren. An fast jedem Tage waren in der Czernowitzer Zeitung neue Befehle für die Juden wie: 1. Die Juden müßten gelbe Abzeichen tragen,

2. Juden dürfen nur während zwei Stunden am Marktplatz einkaufen, 3. Juden dürften auf den Straßen nur zwischen 10–13 Uhr mittags gehen, 4. Christen dürften zu Juden nicht kommen, Juden dürften keine Post und Gold in die Lager Hilfe schicken,24 und als Strafe wurde mit Deportierung gedroht. Sehend, daß alle Bekannte und Freunde in den Lagern zugrunde gehen und keiner außer mir ihnen helfen konnte, habe ich mit meinem Leben sowie mit dem Leben meiner Familie riskiert und den [mir] bekannten Unglücklichen aus Bessarabien geholfen. Ich war mit einem Christen in Verbindung, der allein in die Lager von Elinetz und Sekureni fahren konnte. Durch ihn wurde das Geld überschickt, das alle Czernowitzer und Bessarabier, die in Czernowitz wohnten, ihren Verwandten in die Lager geschickt haben. Diejenigen bessarabischen Juden, die keine Verwandten in Czernowitz hatten, habe ich aus meinen eigenen Mitteln Hilfe zukommen lassen. Überhaupt habe ich meistens Leuten aus Briceni, Nowoselitza, Sekureni, Hotin und Edinetz mit Geld geholfen, weil ich diesen Städtchen die meisten Bekannte hätte und von [ihnen] unzählige Briefe um Hilfe erhielt. Durch den obgenannten [Christen] habe ich alle Auskünfte über die bessarabischen Lager [erhalten]. Auch schriftliche Bestätigungen über alles Geschehene wurde hier[durch] gebracht. Ich habe den obgenannten [Christen] speziell nach Bukarest zu den dort lebenden bessarabischen Juden geschickt, damit diese ihren Verwandten helfen. Für jeden Weg, den er machte, habe je 20 000 Lei bezahlt. Durch einen anderen [Christen] habe ich Verbindung nach Moghilev gehabt; ich habe Hilfe geschickt und Auskünfte so erhalten. Nur an [einem einzigen] Tage, [am] 12. Mai

1942, habe [ich] 14 Geldsendungen à 3000 Lei durch die Nationalbank geschickt. Solche Sendungen hatte ich mehrere, aber die gemeine rumänische Nationalbank hat das Geld weggeraubt, ohne es den Unglücklichen abzuführen. Den größten Teil meines Vermögens habe ich zur Hilfesendung verwendet.

Euere Pflicht ist jede nur mögliche Art & Weise durch Roten Kreuz oder auf diplomati- schen Wege den noch zurückgebliebenen Juden zu helfen mit Geld, Kleidern, Eßwaren, weil sie schon im zweiten Winter frieren und hungern.

Hilfe ist dringend, da jeder Tag wichtig ist, und vergesset nicht, daß 70 – 80 % bereits gestorben [sind] oder ermordet wurden.

Rettet die restlichen 20 %.


 

1 AJA, The World Jewish Congress Collection, Series C: Institute of Jewish Affairs, 1918 – 1979, Subseries 3: War Crimes and Retribution, 1918 – 1979, Box C 161, File 6, Soldiers’ Letters and Eyewitness Reports, 1941 – 1949.

2 Toni Varticovschi war im Mai 1941 nach Czernowitz übergesiedelt, konnte Anfang Okt. 1942 mit einem Schiff über das Schwarze Meer fliehen und erreichte Ende Okt. 1942 Zypern, wo er den vorliegenden Bericht verfasste.

3 Grammatik, Interpunktion und sprachliche Eigenheiten wie im Original, wo zum Verständnis nötig, behutsam ergänzt; die Rechtschreibung wurde korrigiert.

4 Die Verbrennung ist sonst nicht überliefert; die Erschießung von mindestens 800 Juden in Novoselicija (Noua Suliţa) führten Anfang Juli 1941 Angehörige der 7. Infanteriedivision unter General Olimpiu Stavrat durch; Ancel (Hrsg.), Documents (wie Dok. 287, Anm. 1), Bd. 6, S. 424 – 440. Der überlebende Vorsteher der örtlichen jüdischen Gemeinde hatte bei dem Begraben der Leichen helfen müssen und dabei 975 Tote gezählt; Jean Ancel, Contribuţii la istoria României. Problema evreiască, 1933 – 1944, Bd. 1/II, Bucureşti 2001, S. 122, Anm. 44.

5 Zum Schicksal der einheimischen Juden in Secureni während der ersten Tage der rumän. Wieder- eroberung liegen keine Quellen vor. 1930 hatte Secureni 4693 jüdische Einwohner.

6 Die genannte Opferzahl ist vermutlich zu hoch. In den ersten Tagen nach der Wiedereroberung der Stadt erschossen rumän. Soldaten mindestens 54 Juden, die Misshandlung des Rabbiners kam in einem Nachkriegsprozess zur Sprache; Ancel (Hrsg.), Documents (wie Dok. 287, Anm. 1), Bd. 6, S. 432 – 435. Weitere Verbrechen begingen Angehörige der Einsatzgruppe D; siehe auch Dok. 285 vom 9. 7. 1941, Anm. 8.

7 Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war Novoselicija eine geteilte Grenzstadt, es gab einen österr. und einen russ. Ortsteil. Ob die jüdischen Einwohner des österr. Ortsteils ein anderes Schicksal erlitten als die des russ., lässt sich anhand der Quellen nicht beurteilen.

8 In Czernowitz ermordeten Rumänen und Ukrainer in den ersten Tagen etwa 3000 Juden.

9 Rumän. und deutsche Soldaten und Polizisten ermordeten in den ersten Wochen der Besetzung

45 000 bis 60 000 Juden in den wiedereroberten Gebieten.

10 Gemeint ist die von Mihai Antonescu geforderte „ethnische Säuberung“ der wiedereroberten Gebiete; siehe Dok. 284 vom 8. 7. 1941.

11 Siehe Dok. 286 vom 9. 7. 1941 und Dok. 292 vom 17. 8. 1941.

12 Die sowjet. Behörden hatten im Sommer 1940 einen Zwangsumtausch durchgeführt.

13 Dysenterie ist eine veraltete Bezeichnung für Ruhr.

14 Rumän.: Gepäck.

15 Aufenthaltsgenehmigungen wurden nur befristet erteilt.

16 Diese zweite Deportationswelle fand im Juni 1942 statt; siehe Dok. 324 vom 1. 7. 1942.

17 Die SS erschoss im Juni 1942 mindestens 200 jüdische Geisteskranke, die aus Czernowitz deportiert worden waren.

18 In diesem nördlichen Teil Transnistriens lebten zu diesem Zeitpunkt noch etwa 45 000 ukrainische Juden.

19 Im Dez. 1941 brach im Kreis Balta eine Typhusepidemie aus, die sich auch im Getto von Berşad ausbreitete und viele der Insassen hinwegraffte. Lebten Ende 1941 dort noch etwa 25 000 Menschen (etwa 5000 einheimische Juden und 20 000 Deportierte aus der Bukowina und Bessarabien), wa- ren es nach einer Zählung der örtlichen Mediziner im Frühjahr 1942 nur noch 8014.

20 Laut Volkszählung von 1930 lebten in der Bukowina 93 101 und in Bessarabien 206 958 Juden; Breviarul Statistic al populaţiei evreeşti, Bucureşti 1943, S. 22 – 25. Eine rumän. Zählung im Sept. 1941 ergab für die wiedereroberte Nordbukowina 71 950 und für Bessarabien 72 625 jüdische Einwohner; Ancel, Contribuţii (wie Anm. 4), S. 340.

21 Nach den Berichten der Gouverneure wurden 1941 insgesamt 147 712 Juden deportiert; Elie Wiesel (Hrsg.), Final Report of the International Commission on the Holocaust in Romania. Presented to Romanian President Ion Iliescu, November 11, 2004, Bucharest 2004, S. 86. Am 15. 11. 1943 waren einer Statistik der rumän. Verwaltung Transnistriens zufolge noch 34 141 Deportierte aus der Bukowina und 11 683 aus Bessarabien am Leben; Ancel, Contribuţii la istoria României. Problema evreiască 1933 – 1944, Bd. 2/II, Bucureşti 2003, S. 369.

22 Eine Zeile unleserlich.

23 Eine Zeile unleserlich.


 


 

DOK. 331

Der Schriftsteller Emil Dorian hält am 14. April 1944 seine Begegnung mit einem aus

Transnistrien repatriierten Waisenkind in seinem Tagebuch fest1

Tagebuch von Emil Dorian,2 Eintrag vom 14. 4. 1944

14. April

Vielleicht wird Claruţa einmal ihre Erinnerungen schreiben. Zweifellos in hebräischer Sprache. Vorerst versorgt sie ihre Umgebung mit Schilderungen tragischer Begebenheiten ihrer jungen Existenz, die von einer erschütternden Bildhaftigkeit sind.

Claruţa ist neun Jahre alt und gehört einer bestimmten Gruppe von Waisenkindern an – jenen wenigen hundert, die aus Transnistrien zurückgekehrt sind und nach Palästina geschickt werden sollen. Ihr kleiner Körper, dessen Entwicklung zum Stillstand gekommen zu sein scheint, ist gezeichnet von den Verheerungen der Unterernährung: aufgedunsener Bauch, dünne Beine. Ihre Haare sind wie die eines Jungen geschnitten. Große, lebendige Augen, voller Intelligenz und ständig in fiebriger Bewegung, um alles in ihrer Umgebung zu beobachten, spiegeln das durchlebte Elend, lebenskluge Weisheit und die Duldsamkeit einer Heiligen wider. Sie ist Bukaresterin. Als sie sechs Jahre alt war, haben die Eltern sie nach Czernowitz mitgenommen, zum Besuch eines Onkels. Dort wurden sie von der Deportation nach Transnistrien überrascht, wo sie drei Jahre gelebt haben. Jetzt befindet sie sich im Haus unserer Freunde, die ihr Kleidung gegeben haben und sie bis zum Augenblick ihrer Abfahrt nach Palästina mit Liebe umsorgen. Sie nahmen sie zu uns mit, und wir haben einen ganzen Nachmittag mit ihr verbracht und ihren Erinnerungen und Kommentaren zugehört. Claruţa ist ein alter Mensch, in dem das Leid jeglichen kindlichen Überschwang vernichtet, alle Gefühlsregungen zum Absterben gebracht hat. Ihr Bericht über die geografischen Gegebenheiten und die politischen und sozialen As- pekte der Deportation war wie allerobjektivste Geschichtsschreibung.

„Und verließen alle Juden Czernowitz?“

„Nein. Die, die Geld hatten und bezahlt haben, blieben. Aber es war nur eine Illusion. Sie haben sich das Recht auf den dritten Transport erkauft.“

„Und wie habt ihr in Mogilev3 gelebt?“

„Die Reichen haben gut gelebt, die Armen sind verreckt!“

Über den Tod spricht sie so distanziert, dass es einen fröstelt. „Was bedeutet das schon, der Tod, das Leben? Jeden Tag, wenn ich aufstand, sah ich tote Jungen und tote Mädchen. Trat auf Leichen. Ich weiß nicht, wie ich davongekommen bin.“

Sie hat sich von roten Rüben und Kartoffelschalen ernährt, Borschtsch oder Kartoffelgerichte verursachen ihr jetzt Ekel. Sie kennt sich aus mit Medizin und Hygiene, weiß über die Psychologie der Menschen Bescheid und erteilt allen Ratschläge. Erschreckend ist ihr Hass auf Christen, vor denen sie körperliche Angst verspürt. Ein Freund war zu Besuch zu Margareta4 gekommen. Sie sah, wie er in ihr Zimmer ging, und plötzlich brach sie neben uns schreiend in Panik aus: „Dort ist ein Christ. Schnell! … Werft ihn raus!“

„Er ist kein Christ, Mädchen! Woher willst du das wissen?“

„Er redet rumänisch!“

Sie will unter keinen Umständen rumänisch sprechen, obwohl sie sowohl in Bukarest als auch in Transnistrien die rumänische Schule besucht hat. Sie hat extra jiddisch gelernt, um das Rumänische vermeiden zu können.

„Ich will nicht, ich muss nicht! Ich bin Jüdin, und kein Jude darf zu einem Rumänen oder zu einem Deutschen Kontakt haben. Er muss nach Palästina ziehen!“

Ihr Bild von Palästina ist geprägt von dem Hunger, gegen den sie kämpfen musste: „Dort gibt es Datteln und Feigen und Orangen, und man kann viel und gut essen!“

Manchmal verstummt sie abrupt inmitten eines lebhaften Gesprächs, blickt gedanken- verloren ins Leere. Sie hat Sehnsucht nach den Eltern. Sie tröstet sich selbst, indem sie einfach sagt, ihre Mutter werde kommen und sie zu sich holen, obwohl sie weiß, dass ihre Mutter tot ist. Ein anderes Mal beginnt sie allein zu singen: ein herzzerreißend trauriges Lied, in dem das Kind seine tote Mutter auffordert, es zu sich zu holen. Sie singt es ohne die geringste Gefühlsregung, und mit großem Interesse beobachtet sie an den Gesichtern der Zuhörer, wie sehr es alle quält. Als sie dann einen Leuchter sieht, verlangt sie plötzlich ganz ungestüm eine Kerze: „Wofür?“ „Ich will sie für Hitler anzünden und ein Totenlied für ihn singen!“ Und wieder beginnt sie auf Jiddisch zu erzählen. Czernowitz, die Brücke über den Pruth, wo der Zug heruntergefallen ist,5 das Getto, das Waisenhaus, die Krankheit und der Tod. Claruţa weiß viel. Wie all ihre Kameraden, denen das Leid die Intelligenz geschärft und die Empfindsamkeit weggehobelt hat. Mit einem verhaltenen Lächeln sagte sie über zwei 13-jährige Mädchen, dass „sie einen dicken Bauch hatten, weil sie Bohnen gegessen hatten … Die Offiziere waren nett zu ihnen“, ergänzt sie mit erloschener, tonloser Stimme …


 

1 Original Familienarchiv Margareta Dorian. Abdruck in: Emil Dorian, Jurnal din vremuri de pri- goană 1937 – 1944, Bucureşti 1996, S. 325 – 327, und in engl. Übersetzung in: Emi Dorian, The Qua- lity of Witness. A Romanian Diary 1937 – 44, Philadelphia 1982. Das Dokument wurde aus dem Rumänischen übersetzt.

2 Emil Dorian (1892 – 1956), Arzt; Schriftsteller und Übersetzer deutscher Literatur; 1945 – 1948 Ge- neralsekretär der Jüdischen Gemeinde Bukarest.

3 Mogilëv-Podol’skij.

4 Margareta Dorian, Tochter von Emil Dorian.

 

© Oldenbourg Verlag, Leseprobe  



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