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Die Heimat der Heimatlosen
Jeremy Adler über den bitteren Geschmack des Exils


von
Sandy Scheffler



Jeremy Adler, Das bittere Brot. 
H.G. Adler, Elias Canetti und Franz Baermann Steiner
im Londoner Exil.

120 S., kart., Wallstein Verlag, Göttingen 2015
€ 14,90; ISBN-13: 9783835317536

 








 

 

Wer erfahren will wie eine fremde „Heimat“ schmeckt, in die man nicht freiwillig, sondern notgedrungen gegangen ist, dem erzählt es das Buch Das bittere Brot. H.G. Adler, Elias Canetti und Franz Baermann Steiner im Londoner Exil von Jeremy Adler. Das Exil bietet den Schutzraum, den die Heimat nicht mehr bietet. Doch selbst wenn der äußere Radius noch so viel Bewegungsfreiheit zulässt, findet er doch im Inneren des Heimatlosen keinen Widerhall. Als bedrückend wird die Verbannung von dem Ort, der vertraute, geliebte Heimat war, erfahren. Denn es ist ungewiss, ob und wann es ein Wiedersehen mit ihr geben wird. So bleibt der Schmerz der treueste Gefährte, der als unsichtbarer Akteur in den Riss zwischen dem gegenwärtigen Exil und der verloren gegangenen Heimat tritt. Bitterkeit gräbt sich ein. Wer trotzdem noch atmen will, verschafft sich nicht selten im Denken und Schreiben Luft. Denn Inspiration bedeutet nicht selten neuen Lebensatem.

 

Angst, Moderne und Exil sind Jeremy Adler zufolge Synonyme. Sie fallen in eins mit einer aus den Fugen geratenen Zeit, die lauter Wanderer gebiert. „Vertreibung“, „Verbannung“ und „Ausweisung“ werden zum „Kennzeichen des Menschen“ und das Exil somit zur Identität des modernen Menschen.
So folgt auf das geographische Exil das geistige. Adler erkennt in den neuen modernen Begriffstheorien von Karl Marx, Albert Einstein und Sigmund Freud, in den Begriffen „Revolution“, „Relativität“ und „Unbewusstes“, nicht zufällige Termini, sondern Exempel zur Bezeugung der „Unbehaustheit der Moderne“, der das „heimatlose Denken“ zur Voraussetzung wird. „Isolation“ und „Fremde“ als kulturell-geistiger Katalysator? Die Fremde fordert den Heimatlosen heraus. Erst fern vom Vertrauten und Sicherheit Versprechenden wird er offenbar sowohl als Person als auch als Denker herausgefordert. Der Abstand und der Schmerz zwingen zur intellektuellen Beschäftigung mit dem „bitteren Brot“. Auch der Künstler im Exil findet unter diesem Zwang neue und losgelöste Formen der Ausdrucksfähigkeit. Darin lässt sich auch eine „Freiheit“ erkennen, die aus den abgelegten Fesseln „Gesellschaft, Kirche, Staat“ resultiert, welche die Heimat begrenzten.


 

Nichtsdestotrotz kann in der kleinen, neuen, geistigen Freiheit kein Ersatz für Heimat gefunden werden. Im Gegenteil: Das Leben in der Heimat ist für den Exilanten für immer vergangen, mehr noch – es ist abgestorben. Ein Zurück gibt es nicht mehr, denn jedes Zurück ist von nun an eine Rückkehr in ein „Spannungsfeld“. „Zwei Kräfte“ zerren am modernen Wanderer: Einerseits ist die Heimat fortan „zur Fremde geworden“, andererseits kann die Fremde „nie zur Heimat werden“. Hierin wird buchstäblich der Grenzfall des Menschen evident, der ihn ebenso buchstäblich kennzeichnet. Wie ein Wundmal trägt er den eklatanten Riss zwischen Heimat und Exil in sich, das sich in Ausdruck und Form, in intellektuellem und künstlerischem Denken zeigt. Seine Identität ist eine „gespaltene“. Das Exil stellt ihn als menschlichen Grenzfall in diesen Riss, von wo aus nunmehr die „existentielle Krise“ dauerhaft als Schmerzqualität wirken kann.
Den Exilanten bescheinigt Adler eine spezifische Mentalität, die sich in „ethischem Perfektionismus“ und „weitsichtiger Vielseitigkeit“ zeigt und in dieser Kombination recht erfolgreich auf den Gebieten der Kunst, der Wissenschaft und der Kultur wirkt. Als Beispiel zeichnet Adler den Einfluss zahlreicher Exilanten in England nach, die nachhaltig Eindruck mit ihren Ideen hinterließen. Dies führte nicht zuletzt auch zu einem Schwinden von Widerständen gegen den jüdischen Glauben, der oftmals mit den Heimatlosen ins Land kam.

 

 

 

Die Exilanten zeichnete eine besondere Form von Zeugenschaft aus, in der sich ihre erzwungene Heimatlosigkeit und sensible politisch-soziale Beobachtung durch die ihnen in der Fremde noch verbliebene Sprache spiegelte. Dies gilt auch für die Freunde H. G. Adler, Elias Canetti und Franz Baermann Steiner, wie Jeremy Adler festhält. Gemeinsam war ihnen das Mittel der Dichtung zur „Verwandlung“ des „Bösen“ in der Moderne, namentlich des „Materialismus“, der „Macht“ und der „modernen Sklaverei“. Drei breit angelegte Monographien zielten darauf ab, die Wandlung durch „Verständnis“ herbeizuführen.


Canettis Beobachtungen in Masse und Macht (1960) sind ein Beispiel hierfür: Werte- und Ordnungsverfall prägen die moderne „Massengesellschaft“. An ihre Stelle treten die Identifikationen mit Ideologien. Mit dem Verlust der Individualität in der Masse geht auch jedes geistige Prinzip verloren. Die Masse reagiert mit einer ihr eigenen Dynamik und überrollt den Einzelnen mit ihrer materialistisch vereinnahmenden Tendenz. So stellt sich für H. G. Adler die Masse als „jenseits von menschenliebendem Erkennen und Empfinden“ dar: „Persönlichkeit und Masse sind unvereinbar.“ Durch die Masse, so prognostiziert Jeremy Adler, drohe ein „Kulturzerfall“ im „Wahnsystem“. H. G. Adler setzt bei der „Verwandlung“ des „Bösen“ auf die Betonung des Persönlichen, das zugleich das Humane meint und die menschenverachtenden Gräuel der Vermassung überwinden kann.

 

Die Sprache und das Verfassen einer großen Monographie verschaffen den drei heimatlosen Freunden einen Austausch innerhalb und außerhalb ihres Kreises, den man gleichwohl als eine Art geistige Heimat bezeichnen kann. Der Verstoß ins Exil bindet sie enger und produktiver aneinander. Neben literarischen Ausdrucksformen wenden sie sich auch anthropologischen Beobachtungen zu, die letztlich die Grundlage für ihr Verständnis des „Bösen“ bilden.

Die „Verwandlung“, als Mittel zur Transformation des „Sichtbaren“ ins „Unsichtbare“ und umgekehrt, nimmt Bezug auf den Mythos, der im Dreigestirn eine zentrale Rolle spielt. Erfahrungen aus der unsichtbaren wie auch aus der sichtbaren Welt werden durch dichterische Gestaltung und anthropologische Ausleuchtung über das Mythische hinausgehoben, so dass beide „Erfahrungswelten“ den Wert des Realen zugemessen bekommen: „Wenn Steiner schreibt, ,Kürzer leben heißt nicht: länger tot sein‘, so reißt die dichterische Gestalt den Leser in die Aussage hinein, verwandelt ihn in einen, der das Gesagte in sich erfährt.“


Ähnliches mag dem Leser auch geschehen, wenn er die Briefauszüge H. G. Adlers an die Freunde nach der Rückkehr aus dem KZ liest. Erschütternd wirkt das „Gesagte“, das für diesen Menschen furchtbare Realität gewesen ist. „Verwandelnd“ wirken seine Bekenntnisse: „Verändert habe ich mich nicht, meine Grundsätze sind die gleichen geblieben, nur noch gefestigter, intensiver und vielleicht gereifter“, und: „Es sind die wenigsten geblieben und davon sind die wenigsten sich treu geblieben“. H. G. Adlers Gedichte mit ihrer drastischen Beschreibung des Schauerlichen reihen sich hier insofern ein, als eine spätere Kehrtwende hin zu einer Ästhetik „technischer Virtuosität“ davon zu zeugen scheint, sich gegen die Vereinnahmung des freien, reinen Geistes durch das materiell Grausame zur Wehr zu setzen, wie Jeremy Adler vermutet. Ein unsichtbarer, innerer, geistiger und unberührbarer Ort bietet somit den Raum, das „Gut-Sein zu bewahren“.


Der kleine Kreis aus H. G. Adler, Elias Canetti und Franz Baermann Steiner formierte sich erstmals fester 1947 in London. Adler floh aus Prag und wurde von den beiden anderen am Flughafen in Empfang genommen. Alle drei mussten erfahren, dass die Anerkennung als Schriftsteller sowohl in Deutschland als auch im Londoner Exil ausblieb. So konnte schließlich eine verwandelte Form von Heimat nur im Geistigen gefunden werden: In ihrer deutschen Sprache richteten sich die Heimatlosen ein, in ihrem Schreiben lebten sie – sich stets des geographischen Risses und dessen Schmerzqualität bewusst. So wird der Grenzfall des Exils zu einem tagtäglichen Ringen um die Muttersprache und um die heimatlichen Bräuche in einer fremden Umgebung; mit Ausnahme Steiners, der sich in seinen wissenschaftlichen Arbeiten auch der englischen Sprache widmete und der nicht zuletzt durch seine Dozententätigkeit in England integriert war.


Jeremy Adler hat die Freundschaft der drei Exildenker in ihren Gegensätzen sensibel beobachtet und geschildert und ist dabei doch in angemessener Distanz geblieben. So folgt man gern seinen Ausführungen über das Oppositionelle und das Vereinigende, woraus die einmalige Kreativität dieses kleinen Kreises erwuchs. Adler zeigt auch die Spannungen in diesem Bündnis auf, die den politischen Verhältnissen, den divergierenden persönlichen Denkweisen sowie den jeweils favorisierten Methoden in Dichtung und Wissenschaft geschuldet sind. All das, die Einbettung in den sozialgeschichtlichen und geisteswissenschaftlichen Kontext, die persönliche Erfahrung des Exils, des Krieges und der Freundschaft, lässt Jeremy Adler in seinem Buch lebendig miteinander in Beziehung treten und erzeugt damit eine ganz spezielle authentische und unaufdringliche Glaubhaftigkeit. Neben dem Gewinn an breitem Detailwissen (nicht nur) über diese Freundschaft bietet sich dem Leser ein Einblick in die Schwierigkeiten des persönlichen Umgangs mit Problemen, die aus den zeitgeschichtlichen Ereignissen resultierten. So ist der schmale Band ein überaus reichhaltiges Zeugnis der geistigen und individuellen Um- und Widerstände jener Exilzeit, die wir durch die Augen dreier Autoren und nicht zuletzt durch Jeremy Adler gespiegelt bekommen.




© Text: Mit freundlicher Genehmigung von Sandy Scheffler, Erstveröffentlichung:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=21927
Fotos: worldvoices.pen.uk; NYTimes; germananthtopology.com



Sandy Scheffler
Literaturwissenschaftlerin; Studium der Germanistik, Politkwissenschaften und Soziologie an der Goethe-Universität zu Frankfurt/Main. 2014 Promotion zum Dr.phil. ebenda mit der Arbeit
Operation Literatur. Zur Interdependenz von literarischem Diskurs und Schmerzdiskurs im "Prager Kreis" im Kontext der Moderne. 440 S. Erschienen im Universitätsverlag Winter Heidelberg.


Zu Franz Baermann Steiner: Jeremy Adler, Nachwort, August 2000
http://www.planetlyrik.de/franz-baermann-steiner-am-sturzenden-pfad/2012/01/


s.a. HG Adler – Romane; HG Adler – Gedichte; H. G. Adler


1945 Flucht – Vertreibung; Interview Goedeking-von Arburg;

aktuell: Gedichte Asyl-Flucht-ilb 2015




Aber es blieb die zeit,
Wann in der heimat der schäfer
Geht durch den blauen abend, aIs wäre er lang unterwegs.
Franz Baermann Steiner
am stürzenden pfad





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