František Listopad
Terra é carvão e limões - Die Erde ist Kohle und Zitronen
František Listopad
Die Erde ist Kohle und Zitronen. Gedichtzyklus
Übersetzung aus dem Tschechischen und
Nachwort von Eduard Schreiber
Titelgrafik: Ludvík Kundera
40 Seiten, kart., Hochroth Berlin 2014
6,00 €, ISBN 978-3-902871-49-7
Ein Zyklus in vier Gesängen: Poesie als Autobiographie, in der sich fast ein ganzes Jahrhundert spiegelt. Auszug
1. Gesang
Die Erde ist Kohle und Zitronen
den tarpejischen Felsen zu umrunden
gingen wir hinaus in die endlose Ebene
uns begleitete Gestank in Lohe gelegter
Häute und der Geographie
schließlich galoppierten wir auf Pferden
die nicht immer Hufeisen trugen
ich liebe diese Garranoponys
wir bewundern uns gegenseitig
wundern uns wie das geschah
vor hundert Jahren und Landschaft
fliegt im Zugfenster vorbei
Amerika war noch nicht entdeckt
aber die Riten gewannen neue Züge
bis zum nächsten Irrtum
auf einer letzten Station
war Italien chiave der Schönheit
ohne Philosophie beunruhigt uns
dass wir ohne Gott leben können
das sind keine Verse das sind Erfahrungen
ihr seid der Tod der zeitig aufsteht
schreib ihm schnell damit er nicht entkommt
ins Gras Neuseelands
Wir möchten dort schlafen
Aber nichts ist endgültig
Jaspers die Türe öffnend
und seinen Hähnen auf dem Mist
Viele Richtungen kein Rat
Bleibt nur sich eine Telefonnummer aufzuschreiben
Zahlendurst noch weit von Mathematik
ach der Jesuskönigin Dreitägigkeit
was sie alles von uns verlangen
Wasser und Minerale eines perfekten Leibes
Sie sind Katholik fragte der Überstundenengel
Natürlich bin ich auch Buddhist Jude
und Jansenist Der Engel war zufrieden
mit der Antwort und begann Stollenwerk
aus Vorkriegsbeständen wie ein Kinderarzt
zu verteilen Hie und da
gab er ein Pistölchen für die Bravsten
oder die Verheultesten dazu
Auf der Schaukel
schaukeln nicht nur Kinder
auch Leben Hörst du mich?
Sie hörte und sie hörte nicht
die Andenken vergaßen sich
versteckte sie im Haseltriebe
wachsen wenig nur aus Liebe
Mein Gott mein Gott war nie mit dir
auf der Orava in Morava
und wer weiß wann wir dorthin zurückkehren werden
wo wir nicht waren Anders der zornige Himmel
lächelt uns zu wir zwei
mischen Wasser mit Wein
und Schatten zu Schattenschein
Kehren wir zur klassischen Form zurück
wollten wir anders anfangen
würden wir sogleich in Musik enden
du hast viele Kinder und doch
besitzt du nur eines ausnahmslos
dir gehört einzig ein Buch
die eine Mutter die dich versprach
dem Leben im Land der Kohle und Früchte
alles im Dasein begleitet uns
gefesselt mit Stricken aus Fabriken
im südlichen Teil des Tals wo Lerchen
in der Weite der Felder schwirren
Dem Namen nach ein Landmann
der morgenfrühe Georgos saugte aus rosiger Brust
Kraft Mut und Furcht
erste Worte lallten von Vergangenheit
Situationen wechselten durch die Eigenheit von Zufällen
und Nächten Es ist drei Uhr sechsunddreißig
ich schreibe im Stehen und schlafe dennoch
horizontal und vertikal mahle ich feines Mehl
was vorbei ist gehört ins Feuer
auch von weitem brennen die Berge
wohin wir einstmals wollten
und uns nicht rechtzeitig entschieden
fragt warum das geschah
warum wir überall die Schritte aufschieben
Würden wir allein ganz allein
die Sonnenuntergänge als einzige Zeugen
der letzten Gnade sehen? Die Tiere
beobachten uns gleichgültig
wie wir aus nichts etwas schaffen
wie wir dem Poem nichts hinzuzufügen haben
wie wir es weder verkaufen noch kaufen
als ob wir einen Kolonialpakt hätten
ohne leitende Organe
Unveränderliche Anarchie? Synonym für Gott?
Überall so viel Blut vertrocknetes Blut
noch pulsierend färbt es Mauern der Städte und Trassen
Reste von Herden schleppen sich dahin
belecken es als wäre es eine Reliquie
oder Ekel Ein Schamane sammelt sie
streut Salz auf die Wunden
bevor sie in Kohlegruben untergehen
Wer würde sagen über ihren Köpfen
blühen Narzissen Flieder duften Zitronenbäume
Ich möchte diese Welt beschreiben
wie Cezanne blaugrüne Bäume
malte Die Lust ins Paradies zu kommen
in Träumen Worte auch in der Schale nicht zu verlieren
nichts ist so tschechisch wie sie
auch wenn dieses stille Morgendeutsch
hinter Krügen, Kesseln, dem hölzernen Besteck
früher da war als das Wort Shoa
als an den Grenzen noch Schnee lag
Krokusse im Schnee Mísečky Volský Důl
es bleibt nicht mehr viel Zeit deshalb ergreife ich
um jeden Preis die Feder dem Chaos zu entkommen
bauen ohne Bauarbeiter
sterben um zu sehen
das Alphabet verlangsamt sich
und dann und danach
Aus dem Tschechischen von Eduard Schreiber
© František Listopad, mit Erlaubnis des Übersetzers Eduard Schreiber - herzlichen Dank dafür!
František Listopad, *1921 in Prag als Jiří Synek (am 26. November, daher später: Listopad) , tschechischer und portugiesischer Dichter und Prosa-Autor, Hochschulprofessor, Direktor der Theater- und Filmhochschule Escola Superior de Teatro a Cinema, Theater-, Opern- und Filmregisseur, stammt aus einer böhmisch-jüdischen Familie und macht 1939 das Abitur, die Matura. Die deutsche Besatzung der Tschechoslowakei überlebt er in der Illegalität. Großvater und Onkel werden deportiert und kommen im KZ um, der Vater endet in einem Dresdener Gestapo-Gefängnis. Im Mai 1945 ist er Mitgründer der Tageszeitung Mladá fronta / Junge Front, deren Kulturteil er übernimmt. Bis 1947 veröffentlicht er vier eigene Gedicht- und zwei Prosabände. Für eine Zeitschrift des tschechischen Außenministeriums wird er Korrespondent in Paris. Nach der Machtergreifung der Kommunisten 1948 arbeitet er weiter als freier Journalist, kehrt aber nicht mehr in die Tschechoslowakei zurück. 1959 übersiedelt er nach Porto, seit 1962 lebt er in Lissabon. Seine Bücher erscheinen nur noch in Exilverlagen, im Dezember 1989 erstmals wieder in seinem Geburtsland. Er schreibt portugiesisch (Pseudonym Jorge Listopad) und tschechisch. Zuletzt Soukromý západy slunce / Privater Sonnenuntergang, Gedichte, Praha, 2012, aus dem der Zyklus „Terra é carvão e limões“ entnommen ist; Andělské schody / Engelstufen, Prosa, Praha, 2012; Remington, Prosa, Lisboa 2013.
František Listopads Texte in Übersetzungen Eduard Schreibers
- Kaninchen, Corvinus Presse Berlin 2007, mit Linolschnitten von Zoppe Voskuhl, ISBN 978-3-910172-98-2.
- Jahrmarkt. Böhmen. Gedichte. Hrsg. und mit einem Nachwort von Eduard Schreiber, 146 S., Edition Thanhäuser, Ottensheim/Donau 2008, ISBN 978-3-900986-66-7
- Tristan oder Der Verrat des Intellektuellen. Essays. 2010, Original: Tristan z města do města, 1997. Nachwort von Eduard Schreiber (Radonitzer), Matthes & Seitz Berlin, ISBN 978-3-88221-546-5.
- Arma virumque cano, Lachen und Weinen. Erzählungen, in: Ostragehege, Dresden 64/2011
- Die Erde ist Kohle und Zitronen - Terra é carvão e limões, Zyklus. Mit einem Nachwort von Radonitzer hochroth Berlin 2014.
- Für 2015 bereitet hochroth Berlin, Listopads Zyklus Curricula, Praha 2011, vor.
Der Verlag Dauphin, Praha arbeitet an einer tschechischen Gesamtausgabe.
Eduard Schreiber (Radonitzer), *1939 in Obrnice, Böhmen. Autor, Filmregisseur, Übersetzer. Studium der Literatur und Publizistik in Leipzig, Promotion, bis 1990 Regisseur bei der DEFA, bekannt für seine rund fünfzig Dokumentarfilme für Kino und Fernsehen. Arbeiten zur Filmtheorie und Filmgeschichte. Übersetzer und Herausgeber aus dem Tschechischen. Mehrere Bände tschechischer Poesie und Prosa (Kundera, Juliš, Listopad, Součková - s. hier: Milada Souckova), Nach-Dichtungen in Anthologien und Zeitschriften u.a. von Biebl, Blatný, Halas, Mahen, Mikulášek, Milota, Nezval, Seifert, Součková, Suda, Štyrský, Theer, Vančura, Voskovec. Gemeinsam mit Ludvík Kundera zwei Bände tschechischer Dichtung innerhalb der Tschechischen Bibliothek und eine Brünn-Anthologie. Mitglied der tschechischen Künstlervereinigung Q. Lebt in Wilhelmshorst.
Werkauswahl
Ludvik Kundera, Eduard Schreiber (Hg.) – Süß ist es zu leben. Tschechische Dichtung von den Anfängen bis 1920, 485 S., geb., Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München 2006, 22,90 €, ISBN 9783421052629;
Eduard Goldstücker, Eduard Schreiber – Von der Stunde der Hoffnung zur Stunde des Nichts. Gespräche, mit einem Vorwort von Antonín J. Liehm, 230 S., Paperback, 25 Abb., Arco Verlag 2009, 32,00 €, ISBN 978-3-938375-07-5;
Ludvík Kundera – EL DO RA DA(DA). Gedichte, Erzählungen, Erinnerungen, Bilder. Übersetzung aus dem Tschechischen, Nachwort und Herausgeber: Eduard Schreiber, Bibliothek der Böhmischen Länder, 416 S.. geb., Arco Verlag 2007, 32,00 €, ISBN 978-3-938375-10-5;
Eduard Schreiber (Hg.) - Zur bewegten Geschichte des 22. März – Ludvík Kundera zum Neunzigsten. 48 S., geb.. 9 Abb., Coll'Arco 2010, 16,00 €, ISBN 978-3-938375-37-2; Wilhelm Droste, Éva Zádor (Hg.), Pécs - Ein Reise- und Lesebuch, 388 S., Paperback, 40 Abb., Arco Verlag 2010, 22,00 €, ISBN 978-3-938375-35-8
Dokfilm: http://www.zeit.de/video/2014-10/3856625710001/25-jahre-mauerfall-oestliche-landschaft
s. hier auch: Milada Souckova, Poetismus, Empfehlungen
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