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von Katharina Hacker

 

 

Geht es um Phantasien vom eigenen Leben und von der eigenen Arbeit, wenn wir Autoren über Urheberrecht und geistiges Eigentum nachdenken, geht es um unser Überleben? Geht es, wie Thierry Chervel mutmaßt, um das Bild, das wir uns von uns machen wollen, dürfen?
Sind wir schier eingezwängt zwischen zwei bedrohlichen Machtgefügen, den kostenlosen, undifferenzierten Textgebrauch, die massenhafte, beklemmende Textproduktion einerseits und die Konzerne andererseits, die schamlos und bloß kommerziell unsere Arbeit an sich reißen und uns ausbeuten?
Und wer rettet uns?
Mit sehr gemischten Empfindungen habe ich festgestellt, dass ich die Meinung so vieler geschätzter, mir naher Autoren gar nicht teile. Und es fällt mir nicht ein zu denken, dass sie sich alle irren.
Trotzdem sind meine Fragen andere, und mich interessieren weniger meine Befürchtungen als die Hoffnungen und Freuden, die sich mit dem Netz für mich verknüpfen.
Den Begriff Geistiges Eigentum halte ich für tendenziös und wenig fruchtbar.
Geschriebenes und Gedachtes ist zum Gebrauch da, wie es immer aus Gebrauch entsteht. Ich habe kein Bedürfnis mich als Riesin oder Zwergin auf den Schultern von Riesen zu imaginieren. Meine Imagination speist sich aus Sätzen, Gedanken, Formen, die andere gefunden und sich ausgedacht haben, wiederum aus dem, was ihnen gegenwärtig war.
Mittels einer Kausalkette die Herkunft jeweils ermitteln zu wollen, ist für mich so abwegig wie einen Satz abzuschreiben, ohne die Autorin zu nennen. Wem gehört, was ich schreibe und lese? Der Besitz interessiert mich nicht (vermutlich neige ich zu der ernüchternden Perspektive, dass sich Eigentum dadurch auszeichnet, dass es man es straflos sinnvollem Gebrauch entziehen oder zerstören darf), sondern dass ich etwas finden kann, weil es existiert.
Das heißt, ich bin leidenschaftlich daran interessiert, dass Menschen die Produktion von Texten ermöglicht wird. De facto ist das bei vielen Autoren eher so, als dass sie vom Verkauf ihrer Produkte lebten - was immer die dann wären: der Text bloß? das Buch?


Wenn die Idee des Geistigen Eigentums, wenn das Urheberrecht als historische Errungenschaft aufgerufen wird, gleichzeitig die Vorstellung von künstlerischer Tätigkeit der Zeit oder Zeitgenossenschaft entzogen und enthoben scheinen - die Schöpfung eines Kunstwerkes durch einen Einzelnen -, gerät mir der Witz von historischer Gebundenheit und Zeitlichkeit aus dem Blick.
Dagegen möchte ich eine mittelalterliche Perspektive stellen, eine, die mir zu Fragen des Internets deshalb zu passen scheint, weil es womöglich ein Geschwister des Gedächtnisses ist (vielleicht ein weniger ehrenwertes, vielleicht ein untaugliches, vielleicht gerade das, das dem Erstgeborenen das Erstgeburtsrecht mit einem Linsengericht abkauft) - ich meine die Gedächtniskunst, die ars memoria, und die ihr zugesellte Rhetorik.
Die bekannteste Forscherin ist wohl Frances A. Yates, die das grundlegende Buch Gedächtnis und Erinnern - Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare geschrieben hat. Frances Yates beschreibt und diskutiert die Anfänge der Gedächtniskunst bei Cicero und Quintillian als Aspekte der Rhetorik: wie behält man, was man in einer freien Rede vortragen will? Und wie trägt man es so vor, dass es sich dem Gedächtnis der Zuhörer lebhaft einprägt? Yates schildert, wie die griechischen und römischen Theorien zum Gedächtnis sich im Bild der Seele bei Augustinus widerspiegeln, auf unterschiedlichen Weisen wirksam werden für das Mittelalter (etwa für Thomas von Aquin) und ihren Niederschlag finden in Gedächtnistheatern, Wunderkammern, im Lullismus und bei Giordano Bruno.
DieWissenschaftlerin Mary Carruthers, die Yates' Arbeiten kritisch beleuchtet und weitergeführt hat in ihren großartigen Büchern The Book of Memory (Cambridge 1990) und The Craft of Thought (Cambridge 1998), beschäftigt sich im Schwerpunkt mit dem Mittelalter, nicht ohne zeitgenössische Formen der Gedächtniskunst (etwa anhand des Vietnam Veterans Memorial) zu diskutieren. Es geht ihr unter anderem um die Frage, was der Zusammenhang von Gedächtnis, Imagination, Schriftlichkeit und Bildlichkeit ist. Was, fragt sie, ist ein Text in seiner Materialität, warum spielt die Bildlichkeit in Texten eine Rolle, wie wurde und wird gelesen, was ist eine Ethik des Lesens?
In dem Buch The Book of Memory gibt es ein Kapitel mit dem Titel Memory and Authority.
Aus diesem Kapitel möchte ich zweierlei berichten, das mir anregend und hilfreich bei den Debatten um Urheberrecht scheint.
Im mittelalterlichen Denken gibt es die Figur der Jederzeitlichkeit, wie Auerbach formuliert. Carruthers argumentiert, diese Zeitauffassung sei nicht nur dem Glauben an die Ewigkeit (und damit Überzeitlichkeit) Gottes geschuldet, sondern ebenso sehr der mittelalterlichen Instituition des Gedächtnisses, der Praxis also, Texte präsent zu halten, indem sie memoriert werden als Grundlagen eigener Invention und Textproduktion. Die Auffassung von Zeitlichkeit scheint gerade aktuell zu werden, etwa in Hans Ulrich Gumbrechts Idee von Latenz oder Maurice Blochs (Website) Verdickung der Zeit, indem also nicht der Ablauf, die Flüchtigkeit und Linearität der Zeit betont werden, sondern eine Akkumulation von Zeit in Gesellschaft, Geschichte, Religion.
Naheliegend ist dann die Idee der Autorschaft, wie Carruthers sie darlegt. Jemand ist ein Autor mit Autorität (das Wort auctoritas fasst es zusammen), dessen Text kommentiert wird und weitere Texte generiert.
Carruthers belegt ihre Auffassung unter anderem anhand von Anselms Proslogion (lateinisch und englisch), so wie es seinem Biographen Eadmer zufolge entstanden ist. Anselm schrieb auf Wachstafeln, die er einem Mönch zur Aufbewahrung übergab, doch die Tafeln verschwanden. Er schrieb ein zweites Mal: diesmal ließ der Mönch die Tafeln fallen, sie zerbrachen, und mühevoll setzte Anselm sie wieder zusammen. Schließlich übergab er sie einem Sekretär, damit die Tafeln auf Pergament übertragen würden. Damit, so Carruthers, wurde der Text öffentlich. Die Entscheidung, so Eadmer, habe Anselm "livore carens" getroffen, und Carruthers erläutert: auf großzügige und bescheidene Weise, frei von Neid. Ein Autor, der sein Werk nicht einspeise in den Strom der Literatur, mache sich der Sünde des Neides schuldig, einer Sünde gegen die Gemeinschaft. Das Werk müsse den Lesern, den Kommentatoren übergeben werden.
Tatsächlich wurde ein kritischer Kommentar bald angefügt, nämlich ans Ende von Anselms Abhandlung. Ein Freund, in dessen Hände diese erweiterte Fassung geriet, schickte es Anselm zu, der sich bei seinem Kritiker erfreut bedankte und seinerseits eine Erwiderung schrieb.

Zweierlei heißt das: es gibt eine Auffassung von Autorschaft, die sich darauf stützt, dass ein Text genutzt wird, und diese Auffassung besagt auch, dass Autorität sich durch den Kommentar von anderen erweist oder durch ihren Gebrauch, dass ein Werk folglich nicht ein für allem abgeschlossen ist durch den Autor. Konsequenter Weise wird die Autorität dann auch dem Text eher zugeschrieben als dem Verfasser. Eine Idee, die sich von dem "Tod des Autors" fruchtbar unterscheidet.
Hinter einen Text zurückzutreten, um dann auch noch bescheiden darauf zu warten, dass der Text erst durch andere überhaupt öffentlich wird, durch deren Kommentar und Gebrauch, ist vielleicht wirklich konträr zu einem Künstler-Bild, an das wir uns nicht nur gewöhnt haben, sondern das auch finanzträchtig ist. Denn offenkundig gibt es ein Interesse daran, die "echten" Schriftsteller zu hören, die "wahren" Künstler zu sehen, zu erfahren, was sie mit Ernst mitzuteilen haben. Man muss ziemlich berühmt sein, um sich den Gestus der Bescheidenheit leisten zu können.
 

Nun stelle ich mir - und ich finde es traurig, fahrlässig, das nicht zu tun - trotzdem utopisch vor, wie es wäre, wenn Texte ein lebendiger, beweglicher Reflex der Schreibenden wäre, nicht Gebilde, in denen ich in einer geschlossenen Form fest bei der Hand genommen werde, sonst eher Räume (man möchte sagen: Gedächtnisräume), in denen ich mich aufhalte, um mir das Gelesene zu vergegenwärtigen, um es vielleicht zum Anlass eigener inventio zu nehmen, Texte, deren Einfälle und Bilder so drastisch sind (das ist wieder eine kleine Verbeugung zur Gedächtniskunst hin), so witzig und blutig und kitschig, dass ich sie mir gut merken kann und mir ihren Inhalt einverleibe. Die Ethik des Lesens im Mittelalter war streng: was man sich nicht zu eigen gemacht hat, was man nicht verdaut, sich einverleibt hat, hat man nicht wirklich gelesen.
In diesen Räumen wiederum könnte man sich begegnen, nicht, indem man auf konträren Meinungen beharrt, sondern indem man ergänzt, hinzufügt, abweicht, ausschmückt.
Meine Utopie besagte auch, dass Autoren leben können, weil es Menschen und Institutionen gibt, die ein Interesse daran haben, dass die Autoren produzieren können. Das heißt, man würde als Autorin gar nicht für den Verkauf eines Textes bezahlt, sondern es würden die Lebensbedingungen finanziert, in denen man schreiben kann.
Verlage (um ein Beispiel zu nennen) würden die Texte nun in Gegenstände verwandeln, die so ansprechend und klug gestaltet sind (sei es als gebundenes Buch oder als E-Buch), dass die, die vielleicht auf einem Bildschirm etwas gelesen haben, den Gegenstand besitzen wollen (sie dürften ihn dann sogar kaputt machen, würden es hoffentlich aber nicht tun).
So weit ist das von der Realität nun nicht entfernt: die meisten Autoren leben ja nicht vom Buchverkauf, sondern von Lesungen, Vorträgen, Stipendien, Preisen, von dem großzügigen Interesse des Verlags daran, dass sie ein nächstes Buch schreiben können.
Und mir scheint, das Netz kann der Ort sein, der Gedanken lebendig werden lässt, Kommentar und Phantasie fördert.
Dass das Netz zerstörerisch sei für das Gedächtnis, scheint mir so falsch wie die Ansicht, Bücher unterlägen durch ihre Herstellung einer bekömmlichen Kontrolle - zumindest habe ich, dringlich ein Buch für die sehr lange Zugfahrt suchend, unlängst in einer Bahnhofsbuchhandlung keines gefunden, das ich haben wollte. Und mir sehr gewünscht, ich hätte ein Kindle oder IPad dabei. Vielleicht hätte ich dann ja ein Gedicht auswendig gelernt. Wer sich mit Lyrik beschäftigt, hat im Netz ja jedenfalls einen glücklichen Ort.
Mit Sorge sehe ich, wenn Leute sich um die Qualität jedweden Produkts kümmern, ohne mit zu bedenken, ob die, die es hergestellt haben, angemessen leben. Das heißt, es gilt die Weisen des Zahlungsverkehrs zu erweitern und einen zivilisierten Umgang mit Gütern befördern, der schlicht besagt: wenn ich etwas nutze, zahle ich gern dafür, für Lyrikseiten, Perlentaucher, Wikipedia wie für Fair-Trade-Produkte. Ist das eine Utopie?
Ist es utopischer, als im Netz ein bestimmtes Konzept des Eigentums drakonisch durchzusetzen?

 

© Katharina Hacker, Erstveröffentlichung des Essays: Perlentaucher, 21.05.2012

 

 


Zwei erfolgreiche Produktionsformen; anlässlich der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2006 für Die Habenichste, © Anne Detert/boersenverein.de

 

 

 

 

 

 


 

Katharina Hacker, *1967 in Frankfurt/Main, Studium der Philosophie, Geschichte und Judaistik in Freiburg und Jerusalem, lebte einige Jahre in Israel und arbeitet seit 1996 als freie Schriftstellerin in Berlin.

 

 

 

Bücher von Katharina Hacker:

Eine Dorfgeschichte, 125 S., geb., S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, ISBN 3100300661, 17,95 EUR

Die Erdbeeren von Antons Mutter, 174 S., S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010, ISBN 3100300645, 17,95 EUR

Alix, Anton und die anderen, 125 S. geb.,

Überlandleitung, 105 S., kartoniert, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007, ISBN 3518419099, 12,80 EUR

Die Habenichtse, 308 S., geb., Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3518417398, 17,80 EUR


s. unter Spots: Aufruf: Wir sind die Urheber und das Statement der Mitunterzeichnerin und frisch gekürten Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe

 


 


04/2012 


 


 


 

 


 

 



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