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Aghet - Die Katastrophe



 


Völkermord an den Armenieren

 

Das internationale literaturfestival berlin und das Lepsiushaus Potsdam rufen zu einer weltweiten Lesung anlässlich des 100. Jahrestags des Beginns des Völkermords an den Armeniern am 21. April 2015 auf.  

 

Mehrere Hundert armenische Intellektuelle - Dichter, Musiker, Abgeordnete und Geistliche - wurden am 24. April 1915 in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, verhaftet, ins Innere der Türkei deportiert und die meisten ermordet. Es war der Auftakt zu einem Menschheitsverbrechen: Der Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs war der erste systematisch geplante und durchgeführte Völkermord der Moderne. Ihm fielen im Osmanischen Reich mehr als eine Million Armenier zum Opfer.
Die Ereignisse fanden unter den Augen der Weltöffentlichkeit statt und sind durch deutsche, österreichisch-ungarische, italienische, amerikanische, skandinavische, armenische und osmanische Quellen sowie zahlreiche historische Forschungen eindeutig belegt. Schon im August 1915 sprach die New York Times von einem methodisch geplanten Säuberungs- und Vernichtungsprogramm, das man in der Geschichte bisher noch nicht erlebt hatte. Die mit dem Osmanischen Reich verbündete deutsche Reichsregierung kam zu dem gleichen Ergebnis, ohne etwas dagegen zu unternehmen.
Die türkische Politik leugnet den osmanischen Genozid an den Armeniern bis heute, obwohl die Tatsachen seit nunmehr fast hundert Jahren klar auf der Hand liegen. Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy hat diesen Skandal unter anderem auf dem internationalen literaturfestival berlin 2009 öffentlich thematisiert.
Zahllose armenische Stimmen sind 1915 und in den Jahren danach zum Schweigen gebracht worden. Andere sind seitdem laut geworden und ergriffen das Wort gegen das Vergessen, darunter auch immer mehr Stimmen aus der demokratischen türkischen Zivilgesellschaft. Im Gedenken an die Opfer und verbunden mit der Forderung nach internationaler Anerkennung des Völkermords rufen wir am 21. April 2015 zu einer weltweiten Lesung mit literarischen Texten armenischer Autoren auf, unter anderen von Siamanto, Komitas, Yeghishe Tcharenz, William Saroyan, Hovhannes Shiraz, Paruyr Sevak, Hakop Mntsuri, Silva Kaputikian und Hrant Dink.

 



Armenien und Europa. Eine Anklage-Schrift wider die christlichen Großmächte und ein Aufruf an das christliche Deutschland. Berlin-Westend 1896, 2. Auflage online lesen auf archive.org

Deutschland und Armenien 1914–1918: Sammlung diplomatischer Aktenstücke. Potsdam 1919 online lesen auf archive.org

Der Todesgang des armenischen Volkes: Bericht über das Schicksal des armenischen Volkes in der Türkei während des Weltkrieges. Potsdam 1919; online lesen von google-books (mit us-proxy!)

Die große Politik der europäischen Kabinette 1871–1914. Berlin 1924 mehrere Bände, online lesen auf archive.org


Lepsius-Haus. Große Weinmeisterstraße, Potsdam


Franz Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh. (2006), ISBN 978-3-596-17211-5. 

(Abb.: aus Werfels Tagebuch, verkleinert) 

 

Ein schwarzer Strom ergoss sich nach Süden…
Bei seiner „zweiten orientalischen Reise“ 1929 waren Franz Werfel in Damaskus Waisenkinder mit bleichen „El-Greco-Gesichtern“ und „übergroßen dunklen Augen“ aufgefallen. „Das Jammerbild verstümmelter und verhungerter Flüchtlingskinder, die in einer Teppichfabrik arbeiteten, gab den entscheidenden Anstoß, das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreiche alles Geschehenen zu
entreißen.“ In seinem Roman schildert er den Widerstand einiger tausend Armenier, die sich 1915 in der Gegend von Alexandretta/Iskenderun auf den Mosesberg (armenisch: Musa Ler) retten konnten und dort wochenlang ausharrten, bis sie von einem französischen Schiff gerettet wurden. - Franz Werfels Roman erschien Ende 1933 in Deutschland, wurde aber zwei Monate später auf den Index gesetzt. Im August 1939 untermauerte Hitler seine Absicht eines Überfalls auf Polen mit dem Hinweis: „Wer spricht heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ Werfel selbst geriet aufgrund der Rasse-Gesetze des NS-Regimes in Lebensgefahr und flüchtete 1938 nach Frankreich, 1940 in die USA.


[s. Anna Knechtel/Adalbert Stifter Verein, Einladung zum Böhmischen Salon über Die vierzig Tage des Musa Dagh am 16. April 2015]

 

  


Lesetexte: http://www.worldwide-reading.com/archiv/24-april-2015-weltweite-lesung-zum-hundertsten-jahrestag-des-voelkermordes-an-den-armeniern/lesetexte


08II15

 

 

Am 24. April diesen Jahres wird es in der armenischen Hauptstadt Eriwan eine große Gedenkveranstaltung anlässlich des 100. Jahrestages des Völkermordes an den Armeniern geben. Die deutsche Bundesregierung wird, wenn überhaupt, irgendeinen Politiker aus der dritten Reihe senden. Frankreich wird durch Staatspräsident François Hollande vertreten sein. Ist das nicht eine Peinlichkeit sondergleichen?
Warum Peinlichkeit, wird sich mancher nun fragen? Ganz einfach. Deutschland war im Ersten Weltkrieg der engste Verbündete des osmanischen Reichs. Türkische Offiziere wurden von deutschen Offizieren ausgebildet. Mehr noch. Deutsche Offiziere saßen an wichtigen Schaltstellen des türkischen Heeres und hatten Entscheidungsbefugnisse. Sogar der Generalstabschef des osmanischen Heeres war ein Deutscher. Es handelte sich demnach um ein deutsch-osmanisches Heer.
Je mehr man in der Militärhistorie gräbt, desto mehr kommt zutage, welche Rolle Deutschland im Ersten Weltkrieg für die Türkei spielte. Vereint im Kampf gegen das Britische Empire waren die Deutschen im Osmanischen Reich bereit, sämtliche Augen und Ohren zu verschließen. Obwohl das nicht der richtige Ausdruck ist. Deutsche Diplomaten beschrieben in ihren Berichten, was sie von der Deportation mitbekamen (und sie bekamen viel mit) aber unternahmen auf Geheiß der Berliner Regierung nichts. Es habe sogar deutsche Offiziere im osmanischen Heer gegeben, die Befugnisse hatten, Deportationsbefehle auszusprechen.

Ich war die vergangenen eineinhalb Jahre auf vielen Vorträgen und Ausstellungen, die sich mit dem Thema befassen. In Deutschland und in der Türkei. Aber dass die Deutschen nicht nur passiv vor Ort waren, sondern aktiv involviert, war mir neu. Erfahren habe ich es im taz Café bei der Buchvorstellung des Türkei-Korrespondenten der tageszeitung, Jürgen Gottschlich. Für sein Buch Beihilfe zum Völkermord – Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier, erschienen im Christoph Links Verlag, reist er zu verschiedenen Vorträgen und Diskussionen aus Istanbul an und berichtet, was er über die deutsche Beteiligung herausgefunden hat. Am 4. April ist er im Gorki Theater, am 23. April in der Urania [in Berlin]. Ich empfehle allen Menschen, die sich für deutsche Geschichte interessieren, an einer seiner Veranstaltungen teilzunehmen. Alle anderen mögen sein Buch lesen oder zumindest darin blättern. Es ist, das gebe ich zu, wie immer bei akribisch recherchierten und sorgfältig geschriebenen Büchern mitunter eine mühsame Lektüre, weil die Wahrheit immer komplizierter ist als die Propaganda. In diesem Zusammenhang lohnt sich auch die Diskussion über den Begriff „Beihilfe“, mit dem man sich natürlich juristisch auseinandersetzen kann, aber auch politisch oder moralisch.
Ich habe den Kollegen Gottschlich erlebt und mochte seine Art, offen und unabhängig vom herrschenden Diskurs und Vokabular zu denken. Was mir bei all den Vorträgen, die ich in den letzten Jahren hörte, immer sehr gefiel, war, dass die Wissenschaftler oder Autoren en passant scheinbare Nebensächlichkeiten berichteten, die bei näherer Betrachtung ganz und gar nicht unwichtig sind. Gottschlich erzählte beispielsweise, wie er in einem Archiv in Ankara Dokumente auf Deutsch fand, sie aber nicht kopieren durfte, weil die Hüter des Archivs der deutschen Sprache nicht mächtig waren und ungern etwas herausgeben wollten, dessen Inhalt sie nicht verstanden.

Damit sind wir beim Thema der Archive und der Sprache der Dokumente. In der Türkei gibt es seit Jahren eine nervtötende Diskussion darüber, dass man endlich „alle Archive“ bezüglich des Völkermordes öffnen solle. Alle Wissenschaftler, die ich kennenlernte, viele sind es leider nicht, teilten mir mit, dass das Problem nicht darin bestünde, dass sie keinen Zugang zu Archiven haben, sondern kein Osmanisch sprechen. Osmanisch ist die türkische Sprache des Osmanischen Reiches, geschrieben mit Buchstaben des arabischen Alphabets. Es fehlt an Wissenschaftlern, Lehrstühlen, Geld für die Forschung. Dass man das Geld in der Türkei für die Erforschung des Völkermordes nicht locker machen will, ist nachvollziehbar. Aber dass beispielsweise Armenien kaum Geld für Forschung ausgibt, ist ebenfalls ärgerlich. Es kann doch nicht sein, dass der Staat Armenien oder die armenischen Gemeinden es bei Gedenkveranstaltungen und Mahnungen belassen, aber nicht das Wichtigste tun, nämlich Forschungsgelder rauszurücken. Geöffnete Archive nützen gar nichts, wenn wir nicht ausgebildete Historiker haben, die des Osmanischen mächtig sind. Das gilt auch für Deutschland. Nun, da wir gelernt haben, dass Deutschland Mitverantwortung trägt, müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, ob wir nicht Lehrstühle einrichten, die sich mit der Erforschung weiterer Aspekte des Völkermordes an den Armeniern beschäftigen, nämlich aus Sicht der deutschen Beteiligung.
Noch etwas passierte ganz nebenbei. Am Rande der Veranstaltung im taz Café ergriff ein sehr alter Herr das Wort. Er sagte: „In der Schule hatte ich einen deutschen Lehrer, der im osmanischen Heer diente. Er amüsierte uns manchmal mit Anekdoten von der Vertreibung der Armenier“. Er wollte damit sagen, dass er als Deutscher sehr wohl von der Vertreibung der Armenier in der Türkei und der Rolle des deutschen Militärs wusste.
Bei diesen Geschichten schalte ich im Kopf sofort um und tausche das Wort „Deutscher“ gegen „Kurden“ aus. Welche Rolle spielten eigentlich meine Vorfahren während der Vertreibung? Was vielen Menschen nicht bewusst ist, ist die Tatsache, dass die Deportation unter den Augen der kurdischen Nachbarn geschah. Der größte Teil der vertriebenen Armenier lebte in den kurdischsprachigen Gebieten. Darüber müssen wir endlich anfangen zu reden. In der Westtürkei war der Völkermord unter den Türken stets ein Tabuthema. In meiner kurdischen Familie war das Thema allgegenwärtig, weil meine Familie historisch, geografisch und persönlich verwoben ist mit den Armeniern. Das trifft nicht nur auf meine Familie zu, sondern auf fast alle Kurden, die aus dem ostanatolischen Raum stammen. Mein Großvater Ali Haydar hat über den Völkermord viel zu berichten gewusst. Er hat es meinem Vater erzählt. Und mein Vater hat es mir erzählt. In meiner Familie leben Armenier. Sie wurden als Kinder 1915 einfach vom Deportationszug genommen und versteckt. Doch das ist nur eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist, dass es während der Deportationen Plünderungen, Vergewaltigungen und Zeugenschaft gab. Irgendjemand muss das doch auch getan haben.

Ich weiß nicht, wann es geschehen wird, aber ich weiß, dass eines Tages eine kurdische Generation aufstehen und nach ihrer eigenen Verantwortung fragen wird und muss. Denn es handeln nicht nur Systeme und Apparate, sondern Menschen. Oder sie handeln nicht. Von dieser stillschweigenden Zustimmung muss erzählt, geschrieben und berichtet werden. Wir, die Nachfahren, sollten es klüger anstellen als die türkischen Nationalisten und Faschisten. Uns sollte es nicht um das Ansehen einer Nation oder einer Fahne gehen, sondern um das Ansehen der Opfer. Ich wünschte, meine Familie wäre ausschließlich eine Ansammlung mutiger Helden und Retter gewesen. Waren sie aber vermutlich nicht. Es ist ganz einfach, das auszusprechen!

Mely Kiyak


 

 

noch bis 25.04.2015 im Maxim Gorki Theater, Am Festungsgraben 2, Mitte, s. Termine


25III15



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