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Magdalena Marszalek/Sylvia Sasse (Hg.): Geopoetiken. Geographische Entwürfe in den mittel- und osteuropäischen Literaturen.
Kadmos Kulturverlag, Berlin 2010
303 Seiten, 24,90 EUR,  ISBN-13: 9783865991065

Mit Beiträgen von Susi K. Frank, Miranda Jakiša, Kristin Kopp, Renata Makarska, Magdalena Marszałek, Torben Philipp, Harsha Ram, Michail Ryklin, Sylvia Sasse, Matthias Schwartz, Zaza Shatirishvili, Annette Werberger und Sandro Zanetti

Der Begriff Geopoetik erlebt zurzeit eine interessante Konjunktur, vor allem in den mittel- und osteuropäischen Literaturen. Ein entscheidende Rolle spielt hierbei das verstärkte Interesse der Literatur am Entwerfen geographischer Räume nach der Neuordnung der politischen Geographie Europas seit 1989. Geographisch gilt das Augenmerk dem mittleren und östlichen Europa, das als Gegenstand literarischer Geopoetik sowohl aus historischer Perspektive als auch im Hinblick auf die gegenwärtige literarische Neukartierung interessant wird.

 

 

Zwischen Machtambition und Rettungsversuch

Von Christian Luckscheiter

 

Lange schon hat man sich ein Buch gewünscht, das sich vollkommen und bereits im Titel dem Begriff Geopoetik und seiner literatur- und kulturwissenschaftlichen Anwendbarkeit verschreibt. Dieser Band ist nun endlich von Magdalena Marszałek und Sylvia Sasse herausgegeben worden – angesichts des nunmehr vor fast einem Jahrzehnt ausgerufenen topographical turn der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaften längst überfällig. Bisher gespensterte die Geopoetik wenig definiert und unscharf durch den Raum und schien irgendwie auf alles anwendbar zu sein, was mit Literatur, in der Orte und Landschaften eine Rolle spielen, zu tun hat.

Meistens fielen in diesem Zusammenhang auch zwei Namen: Kenneth White und Juri Andruchowytsch. White ist der ‚Erfinder’ des Begriffs, doch aus seinen von Arthur Rimbaud und Gilles Deleuze angehauchten, eklektizistisch-esoterisch delirierenden Nomadenwegen und Zitatmontagen – von den meisten Begriffs-Adepten ungefähr so häufig gelesen wie auf Seiten der Topografen die Ausführungen Henri Lefèbvres zur Produktion des Raums – war keine greifbare Theorie der Geopoetik herauszulesen. Andruchowytsch wiederum musste erst einmal – über die Vermittlung Igor Sids und dessen Krimklubs – mit der Geopoetik in Verbindung gebracht werden, damit er sie in den Mund nahm; mittlerweile habe er, wie es heißt, allerdings schon die Nase voll von ihr. Die Wissenschaft hinkt der Literatur wieder einmal hinterher.

Höchste Zeit also, „die vielfältigen Beziehungen zwischen Geographie und Poetik anhand einzelner literarischer Konzepte sowohl aus historischer als auch aus gegenwärtiger Perspektive“ auszuloten und Fragen zu beantworten, konzentrierte Untersuchungen zu starten: Was ist Geopoetik? Ist der Begriff auf konkrete Literaturen anwendbar? Und vor allem: Wie ist er von angrenzenden Begriffen und Konzepten abgrenzbar, vor allem von der Topografie?

Dabei ist eine ganze Reihe von ungemein faszinierenden Lektüren entstanden, so zu Sergej Tretjakows Reiseskizzen, zum russischen Realismus in Literatur und Malerei, zu den Jules Verne-Verfilmungen Vladimir Vajnstoks, Gustav Freytags Soll und Haben, ethnografischen Erzählweisen in der westukrainischen Literatur oder – besonders beeindruckend – zum Umgang mit der „Trichotomie“ Georgien, Russland und Nordkaukasus in zwei Gedichten von Alexandre Chavchavadze und Nikoloz Baratashvili.

Mit ihrem Namen zeigt Geopoetik im Unterschied zu Topographie die Herkunft des Raum-Diskurses sofort an: Der Name verweist auf die Geopolitik – und auf ihre Auswüchse in der NS-Zeit, erinnert an den „Lebensraum im Osten“ und daran, dass „Raum“ nach 1945 lange Zeit ein Unwort war, das als „vergötztes Zauberwort“ der Nazis im „Wörterbuch des Unmenschen“ stand.

Leider behält der Sammelband den Begriff Geopoetik den mittel- und osteuropäischen Literaturen und Künsten vor; einen Grund hierfür liefert Magdalena Marszałek in ihrem Beitrag Anderes Europa. Zur (ost)mitteleuropäischen Geopoetik; sie zeigt, wie Igor Sids und Juri Andruchowytschs „Projekt einer kulturellen Selbstbestimmung der Territorien durch eine ästhetische Vernetzung zu einer Topographie des Anti-Politischen“, ihr – zumindest bei Andruchowytsch – „stets in einem oszillierenden Verhältnis“ schillernder Gegendiskurs zur politischen Geographie, zur Geopolitik, an die Antipolitik György Konrads, an seinen „poetisch-politische[n] Mitteleuropa-Entwurf als eine die Aufteilung Europas in West und Ost subvertierende ‚kulturelle Metapher‘ und ‚kulturpolitische Antihypothese‘“ anknüpft. Wenn Andruchowytsch Whites Begriff also nach Mitteleuropa transferiert, wenn für seine geopoetischen Entwürfe der Mitteleuropa-Diskurs der 1980er-Jahre als Bezugspunkt und Prätext auszumachen ist, dann ist es nur folgerichtig, das Untersuchungsfeld für einen Sammelband auf die Literaturen des mittel- und osteuropäischen Raums zu beschränken.

Wo bleibt dann aber Kenneth White? Bei White, so Igor Sid, geht die Geopoetik eher nach Norden, in die Arktis, hat mit einem fremden, unbekannten Raum zu tun; und für White sind vor allem die Wege, die Routen, das Gehen wichtig, die Bewegungen im Raum, also genau: la production de l’espace. Bei Sid selbst geht es eher um den gewohnten, bekannten Raum, der nicht erweitert werden soll. Sids Geopoetik hat keine Expansions-Gelüste, der Raum soll hier „künstlerisch aus dem Inneren strukturiert“ werden. Vor allem aber möchte er den gewohnten Raum anders ausrichten: und zwar eben nicht nach Osten, sondern nach „Westen, Westen, Westen“ – „Des-Orientierung vor Ort“, wie Sid es nennt, eine Abkehr von der traditionellen Ausrichtung der Ukraine gen Orient.

White und Sid – und in ihrer Folge die meisten Geopoetiker und Geopoetikerinnen – setzen Geopoetik also gegen Geopolitik; Geopoetik pocht auf die kulturelle Selbstbestimmung der Territorien und soll die Politik durch die Kunst ersetzen, geopolitische Setzungen, ethisch-nationale oder staatspolitische Interessen unterlaufen. Die Geopoetik-Version von Sids Krim-Klub „bestätigt“, so Sid pathetisch, „den Übergang der Menschheit von der Epoche der Machtambitionen zur Epoche der schöpferischen Ambitionen“.

Der Band Geopoetiken macht allerdings deutlich, dass Geopoetiken ihre behauptete Entgegensetzung zu Geopolitiken nicht immer durchhalten, dass auch ihnen Machtambitionen und Potentiale geopolitischer Kartografie nachzuweisen sind – insbesondere dann, wenn sich die historisch-politische Existenz von Räumen als äußerst prekär darstellt, wie es etwa Miranda Jakiša in ihrem Aufsatz Bosnientexte beschreibt. Matthias Schwartz zeigt, dass die Geopoetik der Abenteuerliteratur insbesondere der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (in den USA bei Autoren wie Edgar Allan Poe, James Fenimore Cooper oder Jack London, in Westeuropa bei Jules Verne oder Robert Stevenson) untrennbar mit kolonialer Geopolitik verbunden war und „mehr als Landkarten oder seriöse akademische Publikationen die imperialen und kolonialen Vorstellungen der kulturellen und natürlichen Gegebenheiten außerhalb Europas“ formte.

Man kann sich allerdings fragen, ob das Widerstandspotential der Künste, der Literatur nicht vorschnell verschenkt wird, wenn man Geopoetik lediglich als literarische Geopolitik definiert. Den untrennbaren Bezug sowie die starke Entgegensetzung der Geopoetik zur Geopolitik zeigt besonders Sandro Zanettis Text über Paul Celans Geopoetik. Celan ist mit dem Verlust von geografischen Bezugspunkten als Folge der nationalsozialistischen Vernichtungs- beziehungsweise Geopolitik konfrontiert; in vielen Gegenden war „die Möglichkeit jeglichen Bezugs zu einer Tradition und ihrer jeweils möglichen Zukunft“ hoch problematisch oder geradezu unmöglich geworden. Deshalb, so Zanetti, suchte Celan „im Schreiben seiner Gedichte und in seinen Kommentaren dazu ein Modell von Sprache, Zeitlichkeit und Räumlichkeit zu erarbeiten, das es ihm ermöglichen sollte, das Problem eines solchen Bezugs in der Auseinandersetzung mit bestimmten – aber auch mit unbestimmt gebliebenen und bleibenden – vergangenen Ereignissen und Orten zu markieren und über die Markierungen gleichzeitig Möglichkeiten eines künftigen Zurück-kommens auf die Spuren seiner eigenen Erörterungen zu eröffnen.“

Die Orte, die es nicht mehr gibt, kann es nur noch als Orte der Sprache geben, als Worte; es sind Zeichen, deren „Referenz- und Präsenzsuggestion“ immer wieder unterbrochen wird, „um zu artikulieren, dass sich der Verlust der Orte in Worten nicht aufheben läßt“. Celans Geopoetik, die dort schreibt, wo nichts mehr zu lesen ist, ist von Grund auf „einer verheerenden Politik geschuldet, die auch eine Geopolitik war“; sie versucht in die Poetik zu retten, was von der Politik vernichtet wurde.

„Die Geopoetik“, schreibt Zanetti gegen Ende seines Beitrags, „hat es stets mit Vergegenwärtigungen von Territorien zu tun, wobei der Akt der Vergegenwärtigung zwischen dem Anspruch auf Beschreibung und dem Anspruch auf sprachliche Hervorbringung (und Schöpfung in diesem Sinne) pendeln kann“. Könnten die Aufsätze des Sammelbands dann nicht auch mit dem Titel Literarische Topographien überschrieben werden?

Susi K. Frank plädiert bei ihrem Versuch, Geopoetik und Geokulturologie als kultur- beziehungsweise literaturwissenschaftliche Analysekategorien zu umreißen, „mit deren Hilfe die Verfahren und Strategien der symbolischen Konstruktion des Erdraums und seiner einzelnen Teile kulturhistorisch differenziert analysiert werden können“, dafür, Geopoetik als jenen Teilbereich des Forschungsfelds literarische Topografie aufzufassen, „der alles, was mit dem Geo-Raum zusammenhängt (egal wie sehr dieser kulturell überformt ist), abdeckt“, wobei Geopoetik gegenüber der Topografie noch stärker den Aspekt des Herstellens, des Erschaffens betone. Diesen Aspekt betont jedoch auch J. Hillis Miller in seinem Buch Topographies.

Ist es letztlich Begriffshuberei? Oder eine Frage von Nähe und Distanz? Für Sergej Tretjakov, so stellt Sasse heraus, ist Geopoetik jedenfalls nur durch „Partizipation“ möglich, „nicht durch Rezeption allein“. Sein Schreiben „wendet sich gegen jede Form des fingere oder einer poiesis von Territorien und Landschaften aus der Distanz, aus der Vorstellung oder aus zweiter Hand“. Womöglich ließe sich mit dieser Wendung topographisches Schreiben von geopoetischem unterscheiden.


Erstveröffentlichung: literaturkritik.de; mit freundlicher Genehmigung des Autors


 

 

 



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