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Friedrich Goedeking im Gespräch mit Adrian von Arburg

 

 

Adrian von Arburg setzt mit seiner Dokumentation über die Vertreibung der Deutschen neue Maßstäbe. Bereits seine früheren wissenschaftlichen Arbeiten fanden in den deutschen Medien höchste Anerkennung. Beide trafen sich in Prag.

 

 



 

Wie kommt ausgerechnet ein Schweizer Historiker dazu, sich mit der Geschichte der Vertreibung und der Neubesiedlung der Sudetengebiete zu beschäftigen?

von Arburg: Ich bin mit 17 Jahren zum ersten Mal nach Tschechien gekommen und habe damals in Prag ein nettes Mädchen kennengelernt, die mich alsbald zu ihrer Familie nach Teplitz einlud. Mir fiel sofort der große Unterschied zu Prag auf: einmal die zerstörte Landschaft, vor allem das vom Waldsterben schwer gekennzeichnete Erzgebirge, dazu die Umweltzerstörung durch die Abgase der Kraftwerke. Dann aber auch der Unterschied, was die Menschen betraf: Im Unterschied zu Prag begegnete ich hier auffallend mehr verängstigt, bedrückt, ja verschlossen wirkenden Menschen. Irgendwie eine seltsame Gesellschaft, sagte ich mir damals. Ich wollte verstehen lernen, was hier passiert ist und den zwischenmenschlichen Beziehungen seinen Stempel aufgedrückt hat. Bald darauf wurde mir bewusst, dass in dieser Gegend ein ungeheurer Bevölkerungstransfer stattgefunden hatte: die Vertreibung der Deutschen und die Neubesiedlung der verlassenen Region durch Menschen aus dem Inneren des Landes, aber auch aus der Slowakei und anderen Ländern. Als ich mich dann näher – als angehender Historiker – mit der Geschichte dieser Region beschäftigte, erschrak ich darüber, wie viel Leid vor allem mit der neuesten Epoche verbunden war. Ich erschrak darüber, wie Menschen fähig sein konnten, anderen so viel Elend zuzufügen. Diese Frage bewegt mich noch heute: Welcher Wahn vermag Menschen dazu zu bringen, dass sie sich wünschen, ihre Nachbarn zu verjagen, und dazu noch zu glauben, ein moralisches Recht darauf zu haben? Eine befriedigende Antwort darauf habe ich bis heute nicht gefunden. Deshalb bin ich mit meinen 38 Jahren immer noch hier in Tschechien und möchte mit meiner Forschung dazu beitragen, dass sich solche Schrecken nicht wiederholen. Denn nur wenn wir verstehen, wie so etwas möglich war, können wir es für die Zukunft verhindern.


Welcher Leitgedanke liegt Ihrer Forschung zugrunde?

von Arburg: Es geht eben vor allem darum, dass wir die Motive der Beteiligten auf allen Seiten näher unter die Lupe nehmen und uns fragen, von welchen Vorstellungen, Gefühlen, Zielen oder Verlockungen sie geleitet waren, um auch radikalste Handlungen auszuüben, zu unterstützen oder zumindest zu tolerieren. Es genügt nicht, wenn wir das Ganze mit dem Gedanken abtun, es seien damals zu viele schlechte Menschen am Werk gewesen, die sich nur von ihrem Hass oder ihrer Habgier hätten leiten lassen. Wir müssen da schon mehr in die Tiefe gehen und versuchen, uns in die subjektive Wahrnehmung der damaligen Menschen hineinzuversetzen. Viele derjenigen, die sich an den schrecklichsten Geschehnissen beteiligt haben, waren ernstlich davon überzeugt, eine neue, bessere Welt zu schaffen. Sie fühlten sich nicht als Verbrecher, sondern sahen die Gerechtigkeit auf ihrer Seite. Nur durch diese ideologische Verblendung, die ohne den Bazillus des ethnischen Nationalismus nicht möglich gewesen wäre, waren sie auch blind für das Schicksal der Menschen, die ihnen auf dem Weg zu ihrer vermeintlich besseren Welt im Wege standen

Was wir brauchen, und zwar auch und gerade wir Historiker, ist die Fähigkeit zu mehr Empathie. Auch für ehemalige Kontrahenten. Wir sind verpflichtet, uns in deren Handlungsbezüge hineinzufühlen. Es genügt nicht, wenn wir uns als Historiker nur auf die Fakten und Realien der sattsam bekannten politischen Ereignisgeschichte beschränken. Das hat die Geschichtswissenschaft bei der Erforschung des Katastrophenjahrzehnts von 1938 bis 1948 auch in den Jahren nach der Wende vor über zwanzig Jahren noch immer nicht zufriedenstellend hinbekommen. So konzentriert man sich in Deutschland überwiegend auf die Vertreibung und die Leiden der deutschen Vertriebenen – was natürlich auch für die breitere gesellschaftliche Wahrnehmung gilt. In Tschechien dominieren, vereinfacht gesagt, vor allem im publizistischen Diskurs zwei Hauptrichtungen. Die eine Gruppe, das sind die sogenannten Moralisten, die die Vertreibung als ein Unrecht per se betrachten und versucht sind, die damaligen Vorgänge mit heutigen Maßstäben zu messen. Ihre Sichtweise geht von Diskursen aus, die seit Ende der 1970er Jahre im tschechischen Dissens geführt worden sind. In dieses Lager würde ich tendenziell auch jene Stimmen einordnen, die geradezu darauf erpicht sind, immer neue besonders krasse Fälle von Mordaktionen und Misshandlungen an Deutschen aufs Tapet zu bringen. Es fällt schwer, dies nicht als eine in gewisser Weise etwas einseitige Antireaktion auf die jahrzehntelange Tabuisierung dieser sogenannten Exzesse zu interpretieren.

 

Und die andere Gruppe? 

von Arburg: Auf der entgegensetzten Seite stehen die Vertreter der traditionellen nationalistischen Geschichtsdeutung, die seit František Palacký hauptsächlich vom Antagonismus gegenüber den Deutschen ausgeht und diese vor allem seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhundert zusehends öfter als eigentlich Fremde und daher minder heimatberechtigt wahrnimmt. Was im Tschechischen ja zumindest sprachlich auch seine suggestive Logik findet, wenn es im possessiven Sinne heißt „Česká země, naše země“ („Das tschechische/böhmische Land, unser Land“). Damals wie heute vergisst man hierzulande allzu oft, dass das Adjektiv „český“ zwei Bedeutungen hat – einmal die ethnische („tschechisch“), die heute auch für das ganze Land steht, daneben aber auch eine territoriale in Form von „böhmisch“, wobei man die Einwohner von Böhmen ethnisch-sprachlich mehrere Jahrhunderte lang nicht strikt voneinander unterschieden hat. Zwischen beiden Lagern werden seit langem verbitterte Grabenkämpfe ausgetragen. Beide Seiten sind von „ihrer Wahrheit“ felsenfest überzeugt, sie reden meist frontal aneinander vorbei. So ist es sehr schwierig, vermittelnde Positionen zu etablieren.

 

Welchen Neuansatz vertreten Sie? Wie kann ein Umdenken erfolgen?

von Arburg: Ich vertrete die These: Diese Jahre waren für alle Beteiligten ein traumatisches Erlebnis. Für die vertriebenen Deutschen und die wenigen unter ihnen, die bleiben konnten oder bleiben mussten. Für die Tschechen, die der Vertreibung zugestimmt und sie organisiert haben, aber auch für die Neusiedler, die nach 1945 neu in die Sudetengebiete kamen. Diese Jahre, sie brachten auf allen Seiten vor allem Verluste und Verlierer. Und hier sollte man ansetzen, wenn es einem heute um eine bessere Verständigung geht, bei der Frage: Was hat der Andere in dieser Zeit erlebt? Den Geschichts- und Weltbildern, an die sich beide Seiten noch immer klammern, fehlt es jämmerlich an mehr Empathie für den Anderen. An Empathie wohlgemerkt, die weiter geht als bloße Floskeln im Interesse der politischen Korrektheit.

 

Haben Sie den Eindruck, dass man in Deutschland damit beginnt, sich auf den Weg zur Empathie zu begeben, zum Beispiel bei der Sudetendeutschen Landsmannschaft?

von Arburg: Zunächst sollte man festhalten, dass die Sudetendeutsche Landsmannschaft und die Standpunkte ihrer Funktionsträger nicht immer repräsentativ sein müssen für alle heute in Deutschland lebenden Vertriebenen und ihre Nachkommen. Hinzukommt, dass es auch unter den Spitzenfunktionären heute ein recht breites Meinungsspektrum gibt. Ich schätze zum Beispiel den Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Bernd Posselt, obwohl wir so manches etwas anders sehen mögen. Doch es verdient Anerkennung, welche Entwicklung er durchgemacht hat und dass er auch dazu steht. Posselt hat viel dazugelernt und ist mutig, auch gegenüber den eigenen Reihen. So hat er etwa auf dem letztjährigen Sudetendeutschen Tag gesagt: „München war von Anfang an ein Fehler.“ Er wurde dafür von seinen eigenen Leuten kritisiert, für die das Münchener Abkommen 1938 immer noch die Befreiung von der angeblichen tschechischen Unterdrückung bedeutet. Wenn Posselt letztes Jahr zusammen mit dem bayerischen Ministerpräsidenten in Lidice war und sich vor den Opfern verneigte, dann hat das eine Symbolik, die für mich glaubwürdig ist und genau in die richtige Richtung weist – in die der Empathie für die andere Seite.

 

Ihre insgesamt achtbändige Dokumentation zur Vertreibung der Sudetendeutschen und der Umbruchszeit in den Sudetengebieten nach 1945 macht vor allem bisher unbekanntes Archivmaterial zugänglich. Unterstützt wurden Sie dabei in den vergangenen Jahren von einem Team aus über 50 Mitarbeitern.

von Arburg: Wir haben in Rahmen dieses Großprojekts in 60 tschechischen Archiven systematisch die Materialien über die Zeit der Vertreibung und Neubesiedlung gesichtet. Insgesamt war das ein Aktenberg von mehreren Tausend Kartons. Im Rahmen der Dokumentation werden etwa 3000 besonders repräsentative Dokumente publiziert, dazu über 1000 Beiträge aus der damaligen Presse, die heute größtenteils vergessen sind, aber zusammen mit den Primärquellen aus den Archiven ein faszinierendes Spektrum von Interpretationen, Plänen und übrigens auch mehr oder weniger unverhüllten Eingeständnissen beinhalten. Das Ganze erscheint zusammen mit ausführlichen Einleitungen, die den aktuellen Forschungsstand zusammenfassen. Begleitet wird das Werk von CD-ROMs, die zusätzliches Material wie Karten, mehrere Hundert Fotografien und weitere Dokumente enthalten.

 

Es gibt wohl keine Publikation zu einem europäischen Vertreibungsgebiet, die mit Ihrem Werk zu vergleichen wäre. Warum hat es bis jetzt gedauert, dass jemand so systematisch an die Sache herangegangen ist?

von Arburg: Nun, in Tschechien haben die beiden Lager, von denen ich ja gesprochen habe, gebetsmühlenhaft ihre Standpunkte wiederholt. Es gab nur wenige Historiker, die sich nicht von dieser Frontstellung beeinflussen ließen und sich des Themas in gesamtstaatlicher Perspektive annahmen. Zu ihnen gehört der Doyen der tschechischen Vertreibungsforschung, Dozent Tomáš Staněk, ohne dessen grundlegende Vorarbeiten die Dokumentation nicht hätte realisiert werden können.

 

Welches sind die konkreten Ergebnisse, die Sie mit Ihren Archivfunden gemacht haben und die ein neues Licht auf die Ereignisse von 1938 bis 1948 werfen?

 

von Arburg: Unser wichtigstes Motiv war es, den Facettenreichtum und die Komplexität des Geschehens aufzuzeigen. Es geht uns nicht nur um die Sudetendeutschen, es geht uns auch nicht nur um Deutsche und Tschechen allein, sondern ebenso um die zahlreichen weiteren Identitätengruppen, die nach dem Krieg zumindest vorübergehend eine neue Heimat in den Grenzgebieten fanden. Wir wollen dokumentieren, wie viele verschiedene Schicksale die Menschen in dieser Zeit erlebt und erlitten haben. Ich bin überzeugt, dass wir in diesem Sinne eine breitere Optik brauchen. Aber auch einen tiefer gehenden Blick. Indem wir neue Zeugnisse der damaligen Zeit zugänglich machen, die das Potential in sich tragen, die verengten etablierten Geschichtsbilder zu durchbrechen.

 

Sind Sie bei der Durchsicht Ihrer Dokumente zu einer anderen Bewertung zum Beispiel der Person Edvard Benešs gekommen, der ja bis heute von den Sudetendeutschen als der alleinige Verantwortliche für die Vertreibung der 3 Millionen Deutschen angesehen wird?

von Arburg: Beneš ist eine der ambivalentesten Persönlichkeiten der mitteleuropäischen Zeitgeschichte. Er entzieht sich einer eindeutigen Bewertung, insofern wird er auch zu Unrecht dämonisiert. Natürlich ist Beneš als Präsident verantwortlich für die Vertreibung der 3 Millionen Deutschen. Aber das nicht als einziger. Die Initiative zu der radikalen „Lösung“, wie sie nach 1945 praktiziert wurde, ging vor allem von einheimischen tschechischen Widerstandsgruppen aus, die Beneš unter Druck setzten. Beneš hat in den ersten Jahren seines Londoner Exils zunächst andere Vorstellungen bezüglich der deutschen Minderheit nach dem Krieg verfolgt: Er erwog zum Beispiel einen Gebiets- und Bevölkerungsaustauch, die Errichtung von mehrheitlich deutschen Gauen innerhalb der neu errichteten Republik. Er dachte außerdem daran, nur die Deutschen abzuschieben, die sich mitschuldig an den Verbrechen in der Zeit der Okkupation gemacht hatten. In diesem Punkt wurde er zunächst von den Briten unterstützt, danach aber bedrängt: Denn entscheidend für die politische Durchsetzung des integralen Vertreibungskonzepts auf ethnischer Grundlage war, dass sich auch die Briten, dann auch die Amerikaner und Sowjets damit identifizierten.

 

Vielfach wird heute die Ansicht vertreten, es sei der Volkszorn der Tschechen gewesen, der zur radikalen Vertreibung der Deutschen geführt habe.

von Arburg: Natürlich hat die Zeit der Okkupation Hass und Zorn bei der tschechischen Bevölkerung ausgelöst. Aber nach den uns vorliegenden Dokumenten trifft es nicht zu, dass der Volkszorn die treibende Kraft war, die zur Vertreibung führte. Vielmehr waren es die Spitzenpolitiker, die dieses Projekt praktisch um jeden Preis durchführen wollten. Viele unserer Dokumente zeigen, dass zwischen den alteingesessenen Tschechen und ihren deutschen Nachbarn sehr oft, vielleicht sogar überwiegend, gute Beziehungen bestanden. Die Haupttendenz war nicht, dass die einheimischen Tschechen nach der Befreiung hasserfüllt auf ihre deutschen Nachbarn losgingen, obwohl es auch das allzu oft gab. Wir dokumentieren zahlreiche Fälle, in denen die tschechischen Nachbarn bei den Ämtern und beim Militär gegen die unmenschliche Behandlung der deutschen Bewohner protestiert haben. Solche Zeugnisse geben uns Hinweise darauf, dass nach dem Krieg ein Zusammenleben von Tschechen und Deutschen vielleicht doch möglich gewesen wäre und dass man sich auf die Vertreibung jener Deutschen, die Helfershelfer des Naziregimes gewesen sind, hätte beschränken können. Es sind für mich solche, bisher unbekannt gebliebene Dokumente, die für eine wirkliche Versöhnung zwischen Tschechen und Deutschen von großer Bedeutung sein können. Eine Versöhnung, die auf einem schärferen Blick und mehr Kenntnissen beruht.

  

© Text: mit freundlicher Genehmigung von Friedrich Goedeking; Erstveröffentlichung 06.06.2012, Prager Zeitung; Fotos: Adrian von Arburg, Tomáš Staněk: vnpcp.cz

 

Adrian von Arburg, Tomáš Staněk (Hrsg.): Edice VNPČP - Vysídlení Němců a proměny českého

pohraničí 1945–1951; Dokumenty z českých archivů, Verlag Zdenek Susa, Stredokluky 2010ff
In tschechischer Sprache, eine deutsche Übersetzung liegt noch nicht vor:
Die Aussiedlung der Deutschen und Wandlungen der tschechischen Grenzgebiete von 1945 bis 1951. Info:
http://www.vnpcp.cz

 

 

s. hier auch: Flucht - Vertreibung 



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