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Günter Grass dichtet

von Katja Schickel  

 

 

Günter Grass hat eine Rede geschrieben, die – damit sie in all dem üblichen Wortgeschwalle nicht unterginge, sondern auch Gehör fände – als Gedicht deklariert wurde. Ein echter Kunstgriff, für den man die Zeilen nur mehr oder wenig geschickt umbrechen, ein paar Kommata aussparen und in der Diktion glatt und verschwommen gleichzeitig bleiben musste. So, als Kunstanstrengung getarnt, haben mehrere Zeitungen den Text abgedruckt. Man spekulierte bei dem gewählten Thema offensichtlich auf höhere Auflagen und breiten Zulauf auch in den eigenen Online-Foren. Schließlich müssen Printmedien im öffentlichen Gespräch bleiben. Das über alle Maßen echauffierte Gerede setzte erwartungsgemäß augenblicklich ein und wird uns vermutlich noch eine Zeitlang beschäftigen, bis uns eine neue Empörungswelle erreicht. Grass zeigt mit seinen Zeilen allerdings, dass ihn nicht so sehr der – seiner Meinung nach allein durch Israel - bedrohte Weltfrieden unendlich bekümmert, sondern vor allem, ob er als Antisemit in die Annalen eingehen wird oder nicht. Er will sich die Deutungshoheit darüber jedoch keinesfalls nehmen lassen. Also musste er einfach mal Tacheles reden!

 

Einen Rassisten kümmert es für gewöhnlich nicht, ob er als rassistisch gilt, er spricht schließlich nur seine Wahrheit aus und hat daher immer Recht; gut wenn er sich in irgendeiner Mehrheit weiß. Das Objekt seines Hasses interessiert ihn nur als Müllhalde. Der Sexist ergeht sich in frauenfeindlichen Sprüchen und Handlungen, weil er - außer vielleicht von Frauen – mit keinem oder kaum Widerspruch rechnen muss. Fremdenfeindlichkeit ist weit verbreitet und gedeiht längst nicht mehr nur im Verborgenen. Diesbezügliche Äußerungen speisen sich natürlich aus Vorurteilen und Ressentiments, die wiederum viel mit Verdrängung, Verschiebung und Projektion zu tun haben.

Grass ist nicht irgendwer, und das macht er in aller Verdruckstheit auch deutlich: er hat sich gequält, jahrelang mit sich gerungen, wie das offensichtlich nur Dichter können, nicht um jedes einzelne Wort, die Zeile, den Vers. Mit solchen Kleinigkeiten konnte er sich doch nicht abgeben, wo es ums Große und Ganze, das gesamte Weltgeschehen geht. Man muss die Kritik an seiner Argumentation nicht noch einmal wiederholen: Niemand hat ihn gezwungen, still zu halten, nichts Relevantes mehr zu veröffentlichen. Er war zu keiner Zeit ein bedrohter, mundtot gemachter Autor. Er hat sich früher immer wieder in die Belange der Bundesrepublik Deutschland eingemischt. Man hat ihm auch nie verboten, über seine Vergangenheit zu sprechen. Seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS hat er halt einfach vergessen und/oder jahrzehntelang unter den Teppich gekehrt und so lange verschwiegen, bis sie ihm selbst entfallen war. Dafür war er nicht zimperlich im Urteil über politische Gegner. Die Bewältigung seiner eigenen Vergangenheit hätte ihn vermutlich einige Reputation gekostet, allerdings durchaus auch Wohlwollen und Sympathie eingebracht; Literatur-Nobelpreisträger wäre er wahrscheinlich nicht geworden. Er wollte sich eben nicht durch Erklärungen erniedrigen (lassen). Je weniger Menschen von seiner persönlichen Geschichte wussten, desto einfacher und einträglicher ließ es sich als prominenter deutscher Schriftsteller leben.

 

Bedroht

Man muss die jetzige Politik Israels nicht gutheißen, eine erkleckliche Zahl von Menschen kritisiert sie in Israel selbst, es gehört aber doch schon einige Fehlsichtigkeit dazu, die ständige Drohkulisse vor allem vonseiten Ahmadinedschads als Maulheldentum klein zu reden, der nicht müde wird, die Auslöschung des Staates Israel als wichtigstes Ziel seiner Politik zu nennen, und aus den zugegebenermaßen militaristischen Reden Netanyahus eine allumfassende Bedrohung des Weltfriedens zu destillieren. Das erinnert dann doch sehr an die Nazi-Hetze von der jüdischen Weltverschwörung, die nichts anderes wolle als blutige Kriege anzetteln. Immerhin unterstützt der Iran darüber hinaus militante und radikal-islamische Palästinenser-Organisationen sowie die pro-iranische Hisbollah im Libanon. Eine iranische Atombombe und das vorhersehbare internationale Auf- und Wettrüsten würde nicht nur Israel, sondern die gesamte Region bedrohen. Bisher wurde allerdings nicht, wie Grass behauptet, mit atomaren Angriffen auf den Iran gedroht, sondern mit gezielten Luftangriffen sowie dem Bombardement von Anlagen, die zum iranischen Atomprogramm gehören, dessen Existenz allerdings bisher keine beweisbare Tatsache ist. Diese Themen, ihr Für und Wider wird in und außerhalb Israels seit Jahren heftig diskutiert. Wer der offiziellen israelischen Position nicht zustimmt, wird deshalb nicht gleich des Antisemitismus bezichtigt.

 

An der ständig unsicheren, bedrohlichen Lage in der Region des Nahen und Mittleren Ostens sind viele Staaten mit ihren jeweiligen Interessen beteiligt. Die Instabilität in diesem Teil der Welt macht Kontrolle über Ressourcen, politische, militärische und ökonomische Eingriffe erst möglich. Deutschland liefert – wie einige andere Länder - nicht nur Waffen aller Art an Israel, sondern auch an andere Staaten: zuletzt waren es Panzer nach Saudi-Arabien*. Eine besonders friedensstiftende Maßnahme wird man das nicht nennen können. Grass hätte sich, wenn er auf der Höhe der politischen Einsichten und Notwendigkeiten wäre, hauptsächlich gegen die permanente Heuchelei von Staaten (vor allem aber Deutschland, dessen Staatsbürger er ist) wenden können, die sich gerne moralisch einwandfrei geben und doch nur Geschäfte machen und ihre Einflussbereiche sichern wollen. Wer eine befriedete Region will, kann sich nicht mit Waffengeschäften aus der Verantwortung stehlen. Wer kein Antisemit sein will, sollte den israelischen, den jüdischen Stimmen weltweit zuhören, sie in ihrer Vielfalt erkennen und ernst nehmen, anstatt sich über sie hinweg zu setzen. Er könnte verstehen lernen, dass das Gedächtnis von Opfern und ihren Nachkommen länger und vollkommen anders ist als das der Täter und deren Folgegenerationen. Er sollte die Geschichte nicht vergessen, aber vor allem die jetzige Situation genau, in allen Facetten kennen, bevor er Urteile verhängt. Eine schwierige Aufgabe, voller Zweifel und Befürchtungen, mit dem Eingeständnis von Unwissenheit, fehlendem Überblick und wirkungsvollem Plan, aber vermutlich die einzige, die auf Dauer auskömmliches Leben möglich machen kann. Er sollte aber auf gar keinen Fall die ganze Welt retten wollen. Das hatten wir schon mal.

 

Frag-würdig

Wer kann denn am ehesten Auskunft darüber geben, was Verachtung, Ausgrenzung und Aussonderung bedeuten, als diejenigen, die davon betroffen sind? Die die Witze, die über sie gemacht werden, aushalten müssen, die Sprüche und Karikaturen, mit denen sie konfrontiert werden? Die mit denen leben müssen, die sie täglich drangsalieren, den Hohn und Spott ertragen sollen, der ihnen begegnet? Welche Auswirkungen haben diese Erfahrungen? Welche Realitäten, welche Wahrheit lassen diejenigen zu, die andere gerne (aber mit schlechtem Gewissen, wie Grass beispielsweise) ausgrenzen – aus dem eigenen Leben, aus dem Haus, in dem sie mit den ihnen Fremden leben, aus der Volksgemeinschaft, aus der Weltgemeinschaft gar? Die nicht sehen können, dass sie nur einen kleinen Ausschnitt von Wirklichkeit wahrnehmen und wiedergeben? Die in ein allgemeines Wir-Gefühl flüchten, um als einzelne Person für nichts verantwortlich sein zu müssen? Wozu solche Verhaltensweisen und Feindbilder führen, können wir unserer eigenen erschreckenden Geschichte entnehmen.

© sueddeutsche.de 

'Mit letzter Tinte' verfasste Grass, quasi als Vermächtnis, ein politisches Statement, dessen Prämissen mangels aktueller politischer Kenntnis schon im Kern falsch sind.

 Ein Text wird nicht dadurch sakrosankt, weil er das Mäntelchen der Kunst trägt. Künstlerisch ist die als Gedicht getarnte Rede keines weiteren Aufhebens wert. Hier wird nichts verdichtet, kein sonderlicher Wert auf Metrik und Rhythmus gelegt, kein einziges Sprachbild entworfen. Hier präsentiert sich jemand in umfassender Selbstgewissheit, im Besitz der Wahrheit zu sein, und stilisiert sich vorab präventiv als das eigentliche Opfer. Wir veröffentlichen – in aller Freiheit – die Rede: (das Original-Gedicht findet sich überall im Netz; was raus muss, muss raus!):

 

Günter Grass – Was gesagt werden muss

Warum schweige ich, verschweige zu lange, was offensichtlich ist und in Planspielen geübt wurde, an deren Ende als Überlebende wir allenfalls Fußnoten sind. Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag, der das von einem Maulhelden unterjochte und zum organisierten Jubel gelenkte
iranische Volk auslöschen könnte, weil in dessen Machtbereich der Bau einer Atombombe vermutet wird.

Doch warum untersage ich mir, jenes andere Land beim Namen zu nennen, in dem seit Jahren - wenn auch geheimgehalten - ein wachsend nukleares Potential verfügbar aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung zugänglich ist? Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes, dem sich mein Schweigen untergeordnet hat, empfinde ich als belastende Lüge und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt, sobald er missachtet wird; das Verdikt 'Antisemitismus' ist geläufig. Jetzt aber, weil aus meinem Land, das von ureigenen Verbrechen, die ohne Vergleich sind, Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird, wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert, ein weiteres U-Boot nach Israel geliefert werden soll, dessen Spezialität darin besteht, alles vernichtende Sprengköpfe dorthin lenken zu können, wo die Existenz
einer einzigen Atombombe unbewiesen ist, doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will, sage ich, was gesagt werden muss.

Warum aber schwieg ich bislang? Weil ich meinte, meine Herkunft, die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist, verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit dem Land Israel, dem ich verbunden bin und bleiben will, zuzumuten. Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte:
Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden?
Weil gesagt werden muss, was schon morgen zu spät sein könnte; auch weil wir - als Deutsche belastet genug - Zulieferer eines Verbrechens werden könnten, das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld durch keine der üblichen Ausreden zu tilgen wäre. Und zugegeben: ich schweige nicht mehr, weil ich der Heuchelei des Westens überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen, es mögen sich viele vom Schweigen befreien, den Verursacher der erkennbaren Gefahr zum Verzicht auf Gewalt auffordern und gleichfalls darauf bestehen, dass eine unbehinderte und permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen durch eine internationale Instanz von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.

Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, mehr noch, allen Menschen, die in dieser vom Wahn okkupierten Region dicht bei dicht verfeindet leben und letztlich auch uns zu helfen.

 

Nach der Aufregung – echt krass

Der Coup. 

Einen Tag lang war in den Feuilletons, den Foren und im Fernsehen richtig was los. Nach dem ziemlich debilen Motto „Wat mutt, dat mutt“ meldete sich jeder, der noch in die Tasten hauen konnte, zu Wort. Günter Grass` Auftritt als Elder Statesman, der mal allen die Leviten lesen und endlich Wahrheiten aussprechen wollte, die sich außer ihm keiner traut zu sagen, ist - wie von ihm selber prognostiziert - ziemlich in die Hose gegangen. Die, deren Zustimmung er wollte, verweigerten sie, all den anderen spricht er jedoch aus der Seele (in zwölf Stunden gab es alleine in der ZEIT mehr als tausend Kommentare, die sich mehrheitlich vollkommen im Gedicht von Grass wiederfanden.) Ein Raunen ging wieder einmal durch die Foren: Endlich.....

Wenn diese einstimmige Genugtuung nicht eine geradezu idealtypische Wiederkehr des Verdrängten markiert.

Geduldig ist Grass nicht, dafür umso urteilsfreudiger: Nach vierundzwanzig Stunden war ihm klar, dass sich alle gegen ihn verschworen hatten und die gesamte deutsche Presse gleichgeschaltet sei.

Gleichschaltung der Presse fällt Günter Grass immer dann ein, wenn er keine Elogen erhält, sondern Kritiken und Verrisse. Nicht zu Wort gemeldet hat er sich bei allen für Deutschland brisanten Themen zur Sozialpolitik, zur Atompolitik, zur Außen- und Europapolitik, zu den virulenten Widersprüchen in der Gesellschaft, zu heftiger werdenden Protesten der Bevölkerung usw. usf. – ein weites Feld, das er da medial hätte beackern können (als Rede, Essay, meinetwegen auch als Prosa-Gedicht).

Merke: Entdeckt der Mann den Dichter in sich, wird er zum Trittbrettfahrer, zum Wiederholungstäter.

Kaum ein Online-Forum, kein einschlägiger Newsletter, in dem sich nicht einer als berufener Künstler outet und „den Juden endlich mal die Meinung geigen“ will. Viele Männer lieben Kriegsspiele von klein auf, Kriegsbemalung und -geschrei. Wer seine Gedanken nicht strukturieren und aufschreiben kann, schreibt ein Gedicht (wem Nachdenken lästig und fremd ist offensichtlich auch!). Das ist das mindeste, das virtuelle Machtwort, die Überlegenheitsgeste, das verbale Gemetzel. Die anderen nehmen reflexartig ihre Rollen ein: sie sind wahlweise Kreuzzügler, nervös lauernde Kampfhunde, stolze wilde Kerle, vorschnell applaudierendes Publikum, das sich nie selbst die Hände schmutzig macht, eilfertige Rechtsverdreher und eifrige Mitläufer in die eine oder andere Richtung, die ihre Anonymität zu schätzen wissen.

 

© SIPRI

Kriegsberichterstattung.

Es gibt aktuell rund achtzig Kriege auf der Welt, wovon einige eine größere Region bedrohen als die im Nahen Osten. Europa-zentriert und westlich orientiert wie unser Denken ist, sieht man diese Kriege kaum im Fernsehen, sind sie keine Berichterstattung wert. Die Bilder, die ab und zu doch über den Bildschirm flimmern, zeigen schreiende und drohende Männer, die ihre profitablen Geschäfte sichern wollen, denen die Zivilbevölkerung vollkommen egal ist (wir sehen sie als blutverschmierte Leichen oder davon gekommene, verzweifelte Flüchtlinge), die lediglich mit allen Mitteln um ihren Machterhalt kämpfen. Atommacht ist ein Staat, der über Kernwaffen verfügt und Trägersysteme besitzt, um die Raketen auch einsetzen zu können; zurzeit sind dies, das ist schon lange kein Geheimnis mehr, folgende Länder: Russland, Großbritannien, Frankreich, China und die USA, darüber hinaus - ohne Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrages - Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea. Iran und Saudi-Arabien gelten als potentielle Atommächte. Im Februar 2010 erklärte Irans Präsident das Land offiziell zum „Atomstaat“. Zusätzlich gibt es Staaten, die Nuklearwaffen besaßen oder an eigener Kernenergie-Produktion Interesse zeig(t)en. Dazu gehören: Ägypten, Algerien, Argentinien, Australien, Brasilien, Ex-Jugoslawien, Irak, Libyen, Polen, Rumänien, Schweden, Schweiz, Südafrika, Taiwan, Weißrussland, Kasachstan und Ukraine. Einige der Staaten traten dem Atomwaffensperrvertrag bei, verzichteten auf die Weiterentwicklung ihrer Atomprogramme, manche der Kernwaffen wurden zerstört, mit anderen wurden vor allem nach 1989 illegale Geschäfte gemacht und Nuklearmaterial in Umlauf gebracht.

 

Vicious Circle

Seit es Atomwaffen gibt, herrscht Unsicherheit darüber, welcher Staat zum Erst- bzw. Zweitschlag ausholen könnte. Wer selbst die Fähigkeit und Option zum Angriff und zur Zerstörung des gegnerischen Waffenarsenals hat, muss einen Feind aufbauen, ihm misstrauen und ständig an der Spirale drehen. Kaum eine andere militärische Strategie wird gleichzeitig als Drohung der eigenen Überlegenheit an den jeweiligen Feind gesendet und in seiner tatsächlichen Schlagkraft dermaßen geheimgehalten. Einerseits wird ein Feld vermeintlichen Unwissens aufgebaut, das die wildesten Spekulationen fördert und damit gezielt Verwirrung stiften soll, obwohl andererseits die Unwägbarkeiten längst offen auf den diversen Tischen liegen. Nur mit der Produktion von Angst lassen sich ungeniert und relativ widerspruchsfrei weitere Nuklearwaffen produzieren und kann mit ihrem potentiellen Einsatz gedroht werden. Der Kalte Krieg gab den Supermächten die Möglichkeit, die Weltbevölkerung in Schach zu halten und über vierzig Jahre lang zu manipulieren. Mit dem Mantra des Gleichgewichts der Kräfte (auch: Gleichgewicht des Schreckens) setzte die Massenproduktion von Nuklearmaterial erst richtig ein. Selbst wenn Kernwaffen zerstört werden, bleiben sie der Welt als atomarer Müll erhalten. Seit Hiroshima und Nagasaki weiß die Menschheit um die Auswirkungen, die eine einzige Bombe hat. Heutzutage leben wir mit dem Hunderttausendfachen der damaligen Sprengkraft.

 

© RIA Novosti

Das Bedrohungspotential hat begrenzte geopolitische Areale längst überschritten. Der Weltfrieden wird durch staatliche und nicht-staatliche Waffenproduzenten und Waffenhändler bedroht, durch Politiker, die offen und scheinbar legitimiert bei jeder Gelegenheit die Auslöschung und Vernichtung von Menschen propagieren, planen und durchführen wollen.

 

Dichtung und Wahrheit

Grass sagt nun, er habe kein Gedicht schreiben wollen mit schon bekannten Tatsachen, deshalb komme beispielsweise der verbale Kriegstreiber Ahmadinedschad nicht vor. Aber was sollen Zeilen, die mindestens die Hälfte des Problems ausblenden? Wer die wichtigsten neuralgischen Punkte des Konflikts unterschlägt, bleibt intellektuell unredlich und handelt im höchsten Maße fahrlässig. Grass präsentiert einen unguten Mix aus Schuld, Schuldgefühl und Schuldzuweisung, den Israel ihm bereitet.  

Grass spricht von geplanter Vernichtung des iranischen Volkes durch Israel und imaginiert sich und andere schon als die letzten Überlebenden eines fürchterlichen Vorgangs, dem er bisher nur schweigend zugesehen habe und den er – trotz aller Sympathie - nur den Juden anlasten könne. Das aber ist – mit wenigen Worten skizziert – die Verkehrung der heutigen wie der historischen Verhältnisse. Dass jemand wie Grass offenbar so wenig begriffen hat, so dürftig informiert ist, so verstrickt ist in alte Denkweisen, ist die ernüchternde Quintessenz seiner Zeilen. Schließlich - wird deutlich - hätte er kein Unbehagen, wenn es nicht diese schreckliche Vergangenheit gäbe, nicht die jetzige politische Lage, für die er hauptsächlich Israel verantwortlich macht, nicht das Wissen, dass er immer Objekt, also Opfer, öffentlicher und medial gesteuerter Kampagnen würde. Grass dreht sich immerzu nur um sich selber. Alleine ist er damit allerdings nicht.

04XII12 

 

© Foto Grass: DPA/Maurizio Gambarini

 

*Nachtrag und Kriegsgeschäft

Der größte deutsche Panzerhersteller Krauss-Maffei Wegmann befindet sich im Besitz von Personen, die sich zumeist einen schöngeistigen und bildungsbürgerlichen Anstrich geben; insgesamt leben (und profitieren) 38 GesellschafterInnen aus sieben Familien von den lukrativen Waffengeschäften. Das Zentrum für politische Schönheit (ZPS) möchte diese äußerst diskreten Waffenhändler ins Gefängnis bringen, nicht nur für den Milliardendeal mit Saudi-Arabien (270 Kriegspanzer zur Aufstandsbekämpfung), den es als den schlimmsten Waffendeal der jüngeren bundesdeutschen Geschichte verhindern will.

Freedom House stuft Saudi-Arabien auf einer Skala der politischen Rechte und Freiheitsrechte von 1 (größte Freiheit) bis 7 (geringste Freiheit) als nicht frei (7) bezüglich politischer Rechte und nicht frei (7) bezüglich Freiheitsrechte ein. Im Demokratie-Ranking des Economist landete Saudi-Arabien auf Platz 161 (von 167 Ländern). Demnach gehört Saudi-Arabien zu den zehn autoritärsten Staaten der Erde. Im vergangenen Jahr hat die saudische Führung im In- und Ausland zahllose Menschenrechtsverbrechen begangen, viele davon mit Waffengewalt. Einige der schlimmsten ereigneten sich im Nachbarinselstaat Bahrain bei der Niederschlagung der demokratischen Bewegungen.

Vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings sprach Angela Merkel im Mai 2011 von einer "historischen europäischen Verpflichtung, den Menschen, die heute in Nordafrika und in Teilen der arabischen Welt für Freiheit und Selbstbestimmung auf die Straße gehen, zur Seite zu stehen". Das ist Deutschlands Beitrag zum Arabischen Frühling: 270 High-Tech-Panzer für Saudi-Arabien. Der Leopard 2A7+ ist nicht irgendein Kriegsgerät. Er wurde speziell entwickelt für den Einsatz in Städten. Nach Herstellerangaben ist er für die "asymmetrische Kriegsführung" und die "Bekämpfung von Einzelpersonen" konzipiert. Die Liste der Features klingt wie Musik in den Ohren von Diktatoren, die Aufstandsbekämpfung betreiben wollen: Räumschild, geringer Wendekreis ("So wendig und schnell wie eine Wildkatze"), verkürztes Kanonenrohr, Klimaanlage und ferngesteuerte Waffenstation.

 


© www.politcalbeauty.de; www.25000-euro.de

 

06/2012 

© Foto der Altstadt von Homs, die Soldaten Assads im März 2012 zerstört haben. Shaam News Network/Reuters



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