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Günter Kunert, Fortgesetztes Vermächtnis

   

176 S. geb., Hanser Verlag 2014 

14,90 €, ISBN 978-3-446-24530-3









 


Kassiber kurzfristig Verschworener

von Volker Strebel

 


In seinen jüngsten Gedichten erweist Günter Kunert einmal mehr seine Meisterschaft als Mittler genauester Beobachtung und großer Sprachkunst


Der 1929 in Berlin geborene Schriftsteller Günter Kunert ist einer der produktivsten deutschen Autoren. Seit Jahrzehnten legt er in beeindruckender Weise Erzählungen, Romane, Hörspiele, Essays, Filmdrehbücher und immer wieder Gedichtbände vor. Als junger Mann lernt er in Ostberlin den DDR-Kulturminister und Dichter Johannes R. Becher kennen, der sein erstes Büchlein fördert.

Die Bekanntschaft mit Bertolt Brecht ermuntert ihn zum Weiterschreiben. Dem jungen Lyriker imponiert Brechts lakonische Schreibweise in seinen späten Gedichte wie etwa den Buckower Elegien. Bereits 1948 tritt Günter Kunert der SED bei. Das Berlin der Nazizeit übersteht Kunert mehr oder weniger in ständiger Gefahr, es ist, wie er einmal schreibt, „eine staatlich verpfuschte Kindheit“. Als sogenannter Halbjude (seine Mutter ist Jüdin) darf er keine höhere Schule besuchen und wird wegen „Wehrunwürdigkeit“ vom Kriegsdienst in der Deutschen Wehrmacht ausgemustert.

Die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus, den Krieg und das Elend der Nachkriegszeit hofft Kunert, wie viele andere Überlebende dieser Zeit ebenfalls, im Aufbau eines neuen, sozialistischen Deutschlands endgültig zu überwinden. Eines seiner frühesten Gedichte, Über einige Davongekommene, korrespondiert mit dieser Hoffnung und birgt zugleich jene Skepsis, die in Günter Kunerts weiteren Schaffensjahren mehr und mehr die Überhand erhält:

 

Als der Mensch

unter den Trümmern

seines

bombardierten Hauses

hervorgezogen wurde

schüttelte er sich

und sagte

Nie wieder.


Jedenfalls nicht gleich.

 

Kunerts politische Ernüchterung in der DDR tritt früh genug ein, um die misstrauischen Kulturfunktionäre auf sich aufmerksam zu machen. Allerdings gelingt es Kunert bereits seit den 1960er-Jahren, seine Bücher auch in der ehemaligen Bundesrepublik zu veröffentlichen. Der vorliegende Band Fortgesetztes Vermächtnis beinhaltet bislang unveröffentlichte Gedichte, die allesamt nach der Jahrtausendwende entstanden sind. In höchster sprachlicher Präzision präsentiert sich Günter Kunert einmal mehr als Meister der Dichtkunst. Ungebrochen findet sich in diesen Gedichten lebenslanges Nachspüren unscheinbarer Begebenheiten des Alltags. Ob es ein altes Haus ist oder ein Supermarkt, das menschliche Skelett oder Kometen im All, Kunert macht sich seinen eigenen unverwechselbaren Reim darauf. Zudem korrespondieren Kunerts Überlegungen immer wieder mit dem Phänomen der Sprache, ihren Buchstaben und Wörtern sowie den Büchern, die damit geschrieben wurden.

Das Gedicht Im Nachbarsgarten eröffnet einen unfreiwilligen Blick auf eine „ältere Frau“, die sich mit dem Rücken zum Betrachter bückt: „Wiederaufgerichtet / wendet sie sich um und sieht / mich an: die Botschaft der Blicke, / Kassiber kurzfristig Verschworener“. Bruchteile von Sekunden werden hier messerscharf analysiert und zur Sprache gebracht, auch wenn kein Wort zwischen den beiden gefallen war. Nicht von ungefähr endet dieses Gedicht mit den Versen: „Der Zaun wäre überwindbar / mit Aphrodites Gunst / in archaischer Zeit / gewesen“.

Ironie und Melancholie paaren sich oft in Kunerts Gedichten. Die Thematik des Alterns wie auch das unaufhaltsame Verstreichen der Zeit findet sich in auffällig vielen dieser versammelten Texte. Ein Winteranfang inspirierte das Gedicht Zeitlupenleben und kommt in aller Nüchternheit zur unmissverständlichen Schlussfolgerung: „Mit zögernden grauen Stunden / schläfert der Norden dich ein, / der unerbittliche Regisseur / verhängt langsam Fenster / mit urgründiger / Schwärze, als wäre / die Generalprobe fällig“.

 

Zeitlupenleben 

Zum Winteranfang

die sanfte Hand der Dämmerung

bedeckt deine Augen.

Alle dramatischen Wunder

der Natur verschwimmen,

verschwinden im dunkelen Dunst.

Mit zögernden grauen Stunden

schläfert der Norden dich ein,

der unerbittliche Regisseur

verhängt langsam die Fenster

mit urgründiger

Schwärze, als wäre

die Generalprobe fällig.

22.11.2005 

 

Im Nachbargarten 

Sie beugt sich über ein Beet,

jene ältere Frau von nebenan

mit dem Rücken zu mir. Ihr Kittel

ist kurz.

Ein lange vordem gelesener Satz

»der mächtigen Schenkel weißen Fleisches«

ward Wirklichkeit »und wölbt sich

über die Ränder dunkler Strümpfe..«

Ich erkenne die Richtigkeit

von Herrn Messmers Entdeckung

des tierischen Magnetismus.

Wiederaufgerichtet

wendet sie sich um und sieht

mich an: die Botschaft der Blicke,

Kassiber kurzfristig Verschworener.

Der Zaun wäre überwindbar

Mit Aphrodites Gunst

in archaischer Zeit

gewesen.

5.7.2013 

Günter Kunert, Selbstporträt, 2010  

 

Im Zuge der Ausbürgerung des kritischen Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR im November 1976 wechselten viele KünstlerInnen, SchauspielerInnen und SchriftstellerInnen ihre Wohnsitze in die Bundesrepublik. Es mag Zufall sein, dass sich Günter Kunert wie auch die weg geekelte Lyrikerin Sarah Kirsch, die vor zwei Jahren starb, in ehemaligen Dorfschulhäusern auf dem schleswig-holsteinischen Lande niedergelassen haben. Ganz offensichtlich ist diese Entscheidung eine gute Wahl gewesen. Die sich anschließenden Jahrzehnte haben beide jedenfalls produktiv zu nutzen gewusst. Günter Kunert ist mit internationaler Anerkennung und zahlreichen Preisen bedacht worden. Der wortgewandte Erzähler, Katzenliebhaber, Sammler von Blechspielzeug und Teetrinker hat sich überdies als Maler, Graphiker und Zeichner mit einer charakteristischen Bildwelt etablieren können.

 

© mit freundlicher Genehmigung von Volker Strebel; Erstveröffentlichung ohne Gedichte: www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=20427

Zum vielfältigen Schaffen Günter Kunerts: http://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%BCnter_Kunert



Anderswo

rasen Stürme, steigt

die See, sinken Schiffe,

rinnt Blut wie Wasser,

findet Untergang statt. Der Kaffee

plätschert in unsere Tassen.

Die Katze räkelt sich

schläfrig. Blätter fallen

still vor sich hin. Im Windschatten

der Schicksale:

das deine und das meine

mühsam und sinnlos

eingeheimste Ich.

13.8.2009


 

Günter Kunert über die Anfänge seines Schreibens
Eines Tages, nach dem Krieg, lieh ich mir eine Schreibmaschine, um einen Brief zu schreiben. Da fiel mein Blick auf die große Kastanie im Hof, und ich stellte mir vor, dass die Äste bedrohlich wachsen und in die Zimmer ringsum eindringen. Plötzlich fing ich an, Zeile für Zeile untereinander zu schreiben, wie in Trance. Die Worte verführten mich! Von da an schrieb ich fast täglich.

 

Über den Schreibprozess

Eher in einem Zuge herunter, das heißt also Prosatexte, deren auslösendes Moment ähnlich ist wie bei Gedichten, zwar etwas anders, aber ähnlich. Der Text entsteht meist im Fortschreiten, Schritt für Schritt von Assoziation zu Assoziation, von einem Bild zum nächsten sich vorarbeitend. Ich speichere keine Ideen und bin auch ohne meinen Schreibtisch, ohne das Papier und einen Stift ein ganz schlechter Schreiber, ich benötige also auch die direkte Schreibsituation zum Schreiben. Ich kann mich nicht irgendwo hin bewegen, spazieren gehen, wie man das von Uwe Johnson weiß, der wochenlang umhergeht und seinen Text dann fast fertig hat und ihn nur noch aufschreiben muß – dies ist mir leider unmöglich. Nach diesem ersten Aufschreiben, Hinschreiben, das ein sehr lockeres ist, beginnt dann die Arbeit. Der technische Prozess ist einfach der, ich schreibe mit der Hand, übertrage es in die Maschine, das ist eigentlich der größte Sprung: die Maschinenversion. Die unterscheidet sich am stärksten von der handgeschriebenen. Diese erste Maschinenversion wird dann korrigiert und noch einmal abgeschrieben, dann kommen noch kleinere Korrekturen und meist ist es dann in der gewünschten Form.

 

Über Einflüsse anderer Schriftsteller

Am Anfang meines Schreibens stehen zwei amerikanische Patenväter, Edgar L. Masters und Carl Sandburg, die mich sehr beeindruckt haben, zwei amerikanische Lyriker, die eigentlich gänzlich vergessen sind, auch in Amerika nahezu; Edgar L. Masters ohnehin. Über seine Vergessenheit kann ich rasch noch etwas ganz Konkretes sagen: Er gehörte zu den Lyrikern, die auch unter ganz trostlosen Umständen gestorben sind, nach dem Kriege in einem New Yorker Altersheim. Brecht kannte ihn brieflich und hätte ihn auch gern gesprochen, nur konnte Masters ihn nicht besuchen, weil er kein Geld hatte und frug bei Brecht an, ob der ihm nicht das Fahrgeld schicken könne und Brecht, der selber auch kein Geld hatte, mußte dann auf diese Begegnung verzichten. Sandburg war zu seiner Zeit ein berühmter Mann, der durchs ganze Land zog und, so eine Art Ur- und Vor-Biermann, überall seine Lieder sang, wenn auch diese Lieder weniger direkt politisch waren, der außerdem eine sechsbändige Lincoln-Biographie geschrieben hat. Sehr beeindruckt hat mich auch ein Autor, der ganz wichtig für mich war, wie für viele andere Leute auch: Proust. Das ist ja ein Buch,Die Suche nach der verlorenen Zeit, aus dem man anders herauskommt, als man hineingegangen ist. Ein weiterer wesentlicher Autor war für mich Italo Svevo, den man leider auch viel zu wenig kennt, der immer als Vorläufer von Joyce bezeichnet wird, was er eigentlich gar nicht ist, wie ich finde. Die deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts – da müsste ich vielleicht etwas besitzergreifend Kafka nennen, der aber mit der Bezeichnung „deutscher Schriftsteller“ gar nicht gefasst ist, da kommt sehr vieles zusammen. Und Tucholsky selbstverständlich. Und auch ein Autor wie Ringelnatz – muss ich sagen, zu seiner Ehrenrettung, der als ein Trivialdichter gilt, der er eigentlich nicht war: ein stiller Vorläufer, bei dem die Groteske, das schwarze Gedicht sich noch freundlich und verbindlich zeigt, obwohl sich darin vieles abzeichnet, was später Unmenschlichkeit wird. – Aus einem Interview mit Günter Kunert von Monika Ammermann-Estermann und Alfred Estermann: www.planetlyrik.de/gunter-kunert-notizen-in-kreide/2014/04/


 

Der Rezensent Volker Strebel, *1962 in Waldsassen/Oberpfalz, studierte Evangelische Religionspädagogik, sowie Germanistik, slawische Philologie und Deutsch als Fremdsprache.
Zahlreiche Veröffentlichungen vor allem über russische und tschechische Literatur.
Zuletzt: Im Vertrautsein zuhause - Reiner Kunze und die tschechische Literatur, in: Matthias Buth / Günter Kunert (Hg.) Dichter dulden keine Diktatoren neben sich, Weilerswirst 2013 sowie Verzeichnis von Übersetzern aus dem Tschechischen ins Deutsche zwischen 1900 und 1945, in: Jozo Dzambo (Hg.) Praha - Prag 1900 - 1945. Literaturstadt zweier Sprachen, vieler Mittler, Passau 2010  

 


 

Günter Kunert, Für Marianne, 19971

 

 

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