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Den Einzelheiten trauen, die letzten Wörter

Wagen ins Gedächtnis sich hinaus. Ein junger

                                                                  Tag erwartet, was wir anzubieten haben, jetzt.

                                                              (aus: H.G. Adler, Die Einsamkeit, Gedicht, 1985)

 

 

 

 

 

 

 

 

H.G. Adler – Die Dichtung der Prager Schule 

von Katja Schickel

 

Vorab: Der Begriff der Prager Schule ist leider ziemlich unglücklich gewählt (und mittlerweile literaturwissenschaftlich wirklich vom Tisch), denn alle Merkmale einer Schule treffen auf die Prager Situation nicht zu: es gibt zwar eine räumliche Begrenzung, aber keine Institution, in der es in einem spezifischen Zeitraum um Vermittlung von literarischer Tradition, Wissen und Können durch Lehrer an Schüler gegangen wäre. Da irrt auch der Herausgeber vieler Werke von H. G. Adler, sein Sohn Jeremy Adler, der in seinem Vorwort sogar eine Analogie zur Wiener Schule bemüht: Die bezieht sich innerhalb der Musikgeschichte allerdings auf die Schule der Atonalität von Zemlinsky, Schönberg, von Webern, Berg, in der es tatsächlich eine Tradition und Weiterführung von Ideen und Gedanken gab, es um Ausführung, Methodik und Prinzipien ging. Fragwürdig wurde dieser Begriff allerdings schon durch die willkürlich vorgeschobene sog. 1. Wiener Schule, der Haydn, Mozart und Beethoven angehört haben sollen.

Es gibt eine Prager Schule der Linguistik, die sich ab Anfang der 1920er Jahre etabliert und die Sprache auffasst als ein System funktioneller formaler Elemente zur Schaffung von Kommunikation. Diese neue Sensibilität ist aufgrund der Erfahrungen innerhalb eines Vielvölkerstaates mit vielen Sprachen nicht wirklich verwunderlich und interessant.

Es gibt aber auch eine andere Prager Schule, auf die der Geiger Jaroslav Svěcený aufmerksam gemacht hat: die Prager Schule des Geigenbaus: Ausgehend vom bayrischen Immigranten Johann Ulrich Eberle entwickelte sich  ab dem 17. Jahrhundert der Instrumentenbau in Prag und Umgebung mit sehr spezifischen Volumina und Klängen. Die Geigen hatten nicht nur einen dunkleren Klang als die später in Mode gekommenen 'helleren' italienischen Instrumente, sie fielen auch durch eine pflaumenfarbene Lasur  auf.

Da also eher von einer rhizomartigen Entwicklung gesprochen werden kann, empfiehlt sich doch der Begriff Prager deutsche Literatur, der die zeitliche Grenze festsetzt (ab ca.1850 bis 1939, in der es nennenswerte deutschsprachige Literatur und Journalismus gibt); der so unterschiedliche Autoren umfasst (und auch zulässt) wie den 1. Prager Kreis um 1900 - also vor Brod: Hugo Salus, Rainer Maria Rilke, Victor Hadwiger, Paul Leppin, auch Camill Hoffmann, Gustav Meyrink und Oskar Wiener - als Generation der in en 1870er Jahren Geborenen; dann die in den 1880er Jahren Geborenen: Max Brod, Franz Werfel, Rudolf Fuchs, Otto Pick, Egon Erwin Kisch, Bruno Adler, Oskar Baum, Willy Haas, Hugo Sonnenschein, Franz und Hans Janowitz, Paul Kornfeld, Oskar Kosta, Georg Mannheimer, Leo Perutz, Ernst Sommer, Ernst Weiß, Ludwig Winder usw. - und Franz Kafka.

Der Aufsatz, bereits 1976 veröffentlicht, ist nicht nur von historischem Interesse. Man kann an ihm gut die Haltung H.G. Adlers ablesen, dem nach wie vor nicht die Aufmerksamkeit geschenkt wird, die er und sein Werk verdienen: sich keinen Moden unterwerfen, noch unbekannte Autoren fördern, andere wieder ins Gedächtnis zurückrufen. In knapper Form, getragen allerdings von tiefer Empathie und Kenntnis, wird hier Prager deutsche Literatur anschaulich mit gut ausgewählten Zitaten vorgestellt. Manche Bücher sind in den letzten Jahren neu aufgelegt, nach 1989 auch ins Tschechische übersetzt worden. Als derEssay erschien, kannten nur wenige die Schriftsteller aus Prag - abgesehen von Rilke, Werfel und Kafka, die im deutschsprachigen Raum auf ein erstes, breiteres Interesse gestoßen waren. Sie kamen ja alle erst durch die Alliierten wieder zu uns zurück, oft erst wieder entdeckt in den bewegten 1960er und -70er Jahren. - oder später. 

H.G. Adler, deutschsprachiger Jude aus Prag, der 1939 nicht mehr rechtzeitig emigrieren konnte, Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und andere Konzentrationslager jedoch überlebt hatte, fühlte sich 1947 nicht mehr heimisch in seinem Heimatland und ging nach England. Als einer der ersten beschrieb er die Zwangssysteme der Lager und ihrer Bürokratie (vor allem Theresienstadt), allesamt wissenschaftliche Analysen, die die Lagerwelt auch in Verbindung bringen mit der allgemeinen Welt, somit Aufschluss geben über das, was wir gewohnt sind, normal zu nennen und deshalb immer noch (erschreckend) aktuell ist. Eines der eindringlichsten erzählerischen Werke ist H.G. Adlers Die Reise. Wie Kafkas Statement, dass die Lüge zur Weltordnung wird, ist die Erkenntnis seiner ProtagonistInnen, dass sie auf Verboten aufgebaut ist, mörderischen Verboten, die die eigene Existenzberechtigung mit einschließen. Sie sind in der Welt aus der Welt gefallen. In Panorama versucht er eine Gesellschaftsanalyse, die in zehn Bildern ein Individuum zum Mittelpunkt macht, seine Entwicklung und Sichtweisen darstellt - am Ende ein (historischer) Scherbenhaufen, aber doch viel mehr: ein Mosaik, Kaleidoskop, ein Gesellschafts- und Bildungsroman entsteht - und ist vor allem gegen jeden Dogmatismus gerichtet. Eine Wahrheit gibt es nicht, verstörend genug widersprechen sich auch die gewonnenen Erkenntnisse beim Lesen.

 

Ein Verdienst des vom ARCO Verlag wieder aufgelegten Essays ist die ausführliche Betrachtung des Pragerdeutsch. Von den einen als „bestes Deutsch“ gepriesen, von anderen herabgewürdigt, versucht H. G. Adler, das Spezifische dieser Sprache herauszuarbeiten, deren Grundtönung österreichisch mit tschechischen Einsprengseln war. Prag und die böhmischen Länder waren Teil der österreichischen k.u.k.- Monarchie, eines Vielvölkerstaates, in dem neben dem österreichischen Deutsch auch die Sprachen der jeweiligen, im Einzugsgebiet lebenden Volksgruppen gesprochen und wechselseitig in den jeweiligen (umgangssprachlichen) Sprachgebrauch integriert wurden. Sie waren eben nicht Teil des Deutschen Reiches, in dem das Hochdeutsche schließlich auch nur von sehr wenigen gesprochen wurde, das also schon deshalb als Maßstab und Qualitätsmerkmal nicht viel taugt. Noch (oder schon wieder!?)1966, anlässlich einer Kafka-Tagung und -Ausstellung in Berlin wurde die Sprache des Schriftstellers – laut Adler - als kuchelböhmisch, als Diaspora-Dialekt bzw. judendeutsch diffamiert, und keiner nahm offensichtlich Anstoß daran. Noch heute ergehen sich Kafka-Experten gerne in Interpretationen, die in seinem spezifischen Gebrauch der deutschen Sprache sensationelle neue Inhalte zu entdecken glauben, die bei näherem Betrachten jedoch nur dem Umstand zu verdanken sind, dass er - wie die anderen Prager Schriftsteller - ein österreichisch gefärbtes Deutsch mit einigen Tschechismen schrieb (Das Vorüberkommen eines Arabers beispielsweise ist deutlich weniger geheimnisvoll und irritierend, wenn man es als vorübergehen, vorbeikommen liest – s. Kafkas Sätze, S. 91, S. Fischer, Frankfurt/Main 2009). Abgesehen davon ist sein Stil und die Art, wie er sich und sein Schreiben sah, natürlich außergewöhnlich und sensationell.

Egon Erwin Kisch zählt eine Reihe dieser Tschechismen auf, die sich in Österreich, vor allem in Wien, verbreitet hatten: „darauf denken, daran vergessen, es steht dafür (es lohnt sich), auf was (wofür) brauchst du das? [...] , auf ein Nachtmahl gehen, [...]. zu Fleiß (absichtlich) sagen [] Ferner die Übernahme reflexiver Verben: Er hat sich das sehr gelobt. [...] Kisch kolportiert ganze Sätze, z. B.: 'Ich hätte eine Wohnung in der Weinberge (Stadtviertel, ks) haben können, aber es wollte sich mir nicht so weit.'“

Dazu gehört auch die etwas umständliche Umschreibung des Relativpronomens; „... die Frau Syrovatka, die, was die Witwe ist...“ (bei Gustav Meyrink), die Kisch für das 'markanteste Kennzeichen des Prager Deutsch' hält. Adler kann nicht viel entdecken, „was nicht in Wien oder überhaupt in Österreich verbreitet war und noch immer ist, sich also nur vom Hochdeutschen, namentlich vom Reichsdeutschen, unterscheidet.“ Anders als in Deutschland gab es auch genuin deutsche Begriffe: Durchhaus statt Passage, Ringelspiel statt Karussell. Typisch pragerisch war auch die Anwendung von treffen in der Bedeutung von können.

Ein unterscheidbares Merkmal der Prager deutschen Literatur sieht Adler allerdings doch: „Den Pragern gemeinsam scheint vor allem ein Hervorheben der Melancholie des Vergänglichen, wie es sich auf alles Geschaffene ebenso wie auf die eigene Lage, auf die Stadt Prag, diesen 'schönen steinernen Leichnam' [...] und auf das ganze kaiserliche Österreich bezieht.“ Es ließe sich hinzufügen, dass oft Sujets gewählt werden, die prekäre Situationen durch gesellschaftliche Ausgrenzung und aus ihr folgendes Außenseiter-Dasein thematisieren, Gefühle der Verlorenheit, vertrackte zwischenmenschliche und sexuelle Beziehungen. Die Stellung des Individuums ist nie sicher, auch der Ort kann sich als fremd, gar feindlich erweisen. Auf nichts, scheint es, kann man sich selbstverständlich berufen und/oder verlassen. Als deutschsprachige Autoren stehen sie sprachlich und kulturell der deutschen Tradition nahe, umgeben von einer tschechischen Mehrheit, mit der sie täglich zu tun haben, als Juden sitzen sie immer wieder zwischen allen Stühlen, in einem österreichischen Staatenverbund, der einen großen Teil Europas umfasst und sie ebenfalls prägt.

Zur Prager deutschen Literatur zählt H. G. Adler im Zeitraum von ca. 1850 – 1939 rund 140 Schriftsteller, von denen er die wichtigsten erwähnt und zitiert, sie jeweils kurz im historischen Kontext vorstellt und würdigt, um sich dann den 'Jungen' zu widmen: Er erinnert an eine Dichterin, die Lektorin Grete Fischer, deren Gedichte erst in den 1970er Jahren zum ersten Mal veröffentlicht wurden (da war sie bereits 84 Jahre), an Georg Kafka, Hans Kolben und Peter Kien, der 1941 in einen sog. Vortransport nach Theresienstadt kam (junge Männer waren da ausgesucht worden, die Baracken bauen sollten, für die, die ab Dezember 1941 nach Theresienstadt 'transportiert' wurden): Dichter, Zeichner und Maler, Freund von Peter Weiss, der ins schwedische Exil entkam. Alle wurden ermordet – nicht mal 25-jährig! Adler erinnert an Hermann Grab, Pianist und Schriftsteller, der mit Im Stadtpark und Hochzeit in Brooklyn Erzählungen geschrieben hat, die stilistisch überzeugend - und unter die Haut gehend - die existenzielle Situation von Menschen in ausweglosen Situationen und das Exilleben beschreiben; an Franz Baermann-Steiner und an Franz Wurm, den großen Lyriker, der sein Außenseiter-Dasein irgendwann einmal angenommen zu haben scheint. Er lebt bis heute in der Schweiz und veröffentlicht noch: Antwort//Vor deiner Zunge treibt/die Lippe, allein. Reiche,/reiche mir./Es reicht kein Wort von Mund zu Mund.

 

 

 

H. G. Adler – Die Dichtung der Prager Schule, ARCO Verlag, Wuppertal 2010, www.arco-verlag.de

 

Auswahl aus dem Werk von H.G. Adler:

         Theresienstadt. 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Tübingen: Mohr 1955

         und: Wallstein Verlag, Göttingen 2005

         Der verwaltete Mensch - Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland, Tübingen 1974  

 

          Fenster, Gedichte, 1974

          Viele Jahreszeiten, Gedichte, 1975

          Die Freiheit des Menschen, Essays, 1976

          Spuren und Pfeiler, Gedichte, 1978

          Transsubstantations, Gedichte, 1978

          Zeiten auf der Spur, Gedichte, 1978

          Blicke, Gedichte, 1979

          Stimme und Zuruf, Gedichte, 1980

          Der Wahrheit verpflichtet. Interviews, Gedichte, Essays Hg. Jeremy Adler, Gerlingen, 1998

          Eine Reise, Roman, mit einem Nachwort von Jeremy Adler, Zsolnay Verlag, Wien 1999

          Panorama. Roman in 10 Bildern, Zsolnay Verlag, Wien 2010      

 

 

© Katja Schickel/www.letnapark-prager-kleine-seiten.com

 



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