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Hannah Arendt-Preis 2014


Was hier auf dem Spiel steht, ist die faktische Wirklichkeit selbst, und dies ist in der Tat ein politisches Problem allererster Ordnung. Hannah Arendt


 

Wider die Relativierung der Tatsachen

von Ralf Fücks


Die Lüge hinzunehmen ist der Beginn der Selbstaufgabe der liberalen Demokratien. Diese Gefahr droht auch im Konflikt um die Ukraine. Rede zur Verleihung des Hannah Arendt-Preises 2014 an die Pussy-Riot-Aktivistinnen Nadeshda Tolokonnikowa und Maria Aljochina sowie an Juri Andruchowytsch.



Der Hannah-Arendt-Preis war schon immer ein politischer Preis. Sonst würde er seiner Namensgeberin nicht gerecht. In diesem Jahr ist das vielleicht noch mehr als sonst der Fall. Die Preisträger/innen konfrontieren uns mit den dramatischen Entwicklungen im Osten unseres Kontinents: mit der autoritären Wendung der russischen Machtelite nach innen und ihrer expansiven Wendung nach außen und dem schon fast verzweifelten Kampf der Ukraine um ihre territoriale Einheit und politische Souveränität. Zugleich verweist die Auswahl der Jury darauf, dass noch nicht aller Tage Abend ist.
Nadeshda Tolokonnikowa und Marija Aljochina stehen für den ungezähmten, freiheitlichen Geist, der in der russischen Kulturszene, in der Menschenrechtsbewegung und in feministischen Zirkeln weht, allen Repressalien zum Trotz. Und Juri Andruchowytsch steht für den erneuten demokratischen Aufbruch in der Ukraine - den dritten seit 1990/91, als sich die große Mehrheit für die Loslösung von der Sowjetunion entschied. Im Kern geht es darum noch immer: um die doppelte Selbstbefreiung der Ukraine von russischer Dominanz wie von den postsowjetischen politischen und gesellschaftlichen Strukturen – organisierte Verantwortungslosigkeit, kriminelle Bereicherung, staatliche Willkür, eine unselige Verschränkung politischer und wirtschaftlicher Macht, soziale Gleichgültigkeit.
Andruchowytsch ist ein politischer Intellektueller, der öffentlich Partei ergreift. Als Schriftsteller ist er zugleich ein Dolmetscher, der uns die Welt Mitteleuropas erklärt: eine Welt, die uns historisch und geografisch so nah ist und doch von vielen als „nicht zugehörig“ empfunden wird . Und er ist ein wahrer Europäer, der die Idee des freien und einigen Europa verteidigt. Bis vor kurzem hätte ich gesagt: der nicht müde wird, uns zu erklären, dass in der Ukraine um die Zukunft Europas gekämpft wird. Wenn ich nicht irre, ist sein Ton in der letzten Zeit ungeduldiger geworden und mit Bitterkeit gemischt über all den Unverstand, die Ignoranz und die Vorurteile, mit denen die Ukraine im Westen zu kämpfen hat. Umso wichtiger ist dieser Preis - als Signal, dass wir diese Auseinandersetzung als unsere eigene verstehen.
Es führt eine direkte Linie vom Preisträger des letzten Jahres, Timothy Snyder, zu den heutigen Preisträgern. Im Internet kursiert der Videomitschnitt eines Vortrags von Snyder, in dem er den Propagandakrieg des Kremls seziert. Er erwähnt Hannah Arendt nicht explizit, aber sein Vortrag erinnert lebhaft an einen Essay, den sie 1963 unter dem Titel Wahrheit und Politik veröffentlichte. Man findet darin fast alles, was zum Verständnis der heutigen Desinformationspolitik des Kremls erforderlich ist. Im Anschluss an Leibniz unterscheidet Arendt mathematische, wissenschaftliche und philosophische Wahrheiten, die sie im Begriff der Vernunftwahrheit zusammenfasst, von Tatsachenwahrheiten als Grundlage demokratischer Meinungsbildung. Ich zitiere: „Wenn politische Macht sich an Vernunftwahrheiten vergreift, so übertritt sie gleichsam das ihr zugehörige Gebiet, während jeder Angriff auf Tatsachenwahrheiten innerhalb des politischen Bereichs selbst stattfindet. (..) Innerhalb des Bereichs menschlicher Angelegenheiten (legt) jeder Anspruch auf absolute Wahrheit, die von den Meinungen der Menschen unabhängig zu sein vorgibt, die Axt an die Wurzeln aller Politik und der Legitimität aller Staatsformen.“

Systematisch betriebene Verwirrung
Man kann das als Absage an jede Form des Fundamentalismus lesen, bei dem die Politik als Vollstrecker absoluter Wahrheiten auftritt, seien sie religiöser, wissenschaftlicher oder weltanschaulicher Provenienz. Das bedeutet keineswegs, dass der Unterschied von Wahrheit und Lüge im Bereich des Politischen irrelevant wäre. In der politischen Auseinandersetzung geht es um begründete Meinungen. Sie beruhen auf der unterschiedlichen Bewertung tatsächlicher Ereignisse und Sachverhalte, also von Tatsachenwahrheiten. Den Unterschied zwischen Tatsachen und Meinungen zu verwischen hält Arendt für „nicht weniger schockierend als die Resistenz der Menschen gegen die Wahrheit überhaupt“, soweit sie ihnen nicht in den Kram passt.
Genau diese Verwischung betreibt die Kreml-Propaganda mit List und Tücke. Ein Beispiel: Als die malaysische Passagiermaschine über dem Gebiet der „Volksrepublik Donbass“ abgeschossen wurde und 298 Menschen ihr Leben verloren, wurden prompt verschiedene Theorien in die Welt gesetzt, die alle durch das russischen Fernsehen geisterten und im Internet breite Resonanz fanden:
- die Maschine wurde durch ukrainische Artillerie abgeschossen
- es waren ukrainische Jagdflieger (eine entsprechende Fotomontage wurde im russischen Staatsfernsehen gezeigt)
- es waren US-Kampfflugzeuge im Spiel; das Ganze war ein gezieltes Komplott, um einen Kriegsvorwand gegen Russland zu fingieren
- den Vogel schoss die Behauptung ab, das Flugzeug sei schon als fliegender Sarg gestartet, vollgepackt mit Leichen, die gezielt über dem Territorium der Separatisten zum Absturz gebracht wurden.
Dass sich diese Versionen widersprechen, spielt keine Rolle: es geht nicht um Aufklärung, sondern um systematische Verwirrung. Am Ende ist jede Version beliebig, jedes Untersuchungsergebnis steht unter dem Verdacht der Manipulation; jeder Indizienbeweis, der auf die prorussischen Separatisten hindeutet, wird in das Zwielicht einer interessengeleiteten Meinungsäußerung gezogen. Damit das funktioniert, mussten am Boden alle Spuren verwischt werden, so gut es ging, und genau das ist passiert.


Die Herstellung der Lüge
Man kann unterschiedliche Schlüsse aus sozialen Sachverhalten ziehen. Wer aber die empirischen Tatsachen manipuliert und sie zum bloßen Material im politischen Meinungskampf macht, entzieht damit auch der Meinungsfreiheit den Boden. Hannah Arendt: „Meinungsfreiheit ist eine Farce, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist.“ Sie zitiert ein Bonmot des französischen Staatsmanns Clemenceau, der Ende der 1920er Jahre gefragt wurde, was künftige Historiker wohl über die damals (wie heute) strittige Kriegsschuldfrage denken werden. „Das weiß ich nicht“, soll Clemenceau geantwortet haben, „aber eine Sache ist sicher, sie werden nicht sagen: Belgien fiel in Deutschland ein.“ Es wäre schon ein Fortschritt, wenn wir uns in der aktuellen Debatte darauf verständigen können, dass nicht die Ukraine Russland attackierte, sondern umgekehrt.
In der Wissenschaft ist der Gegensatz zur Wahrheit der Irrtum, in der Politik ist es die Lüge, also ein bewusster Akt der Unwahrheit. Wie sonst soll man es bezeichnen, wenn der Kreml zu Beginn der militärischen Intervention in der Krim leugnete, dass es sich um russische Truppen handelte? Das hinderte Putin natürlich nicht, anschließend Orden an die beteiligten Spezialeinheiten zu verteilen. Es geht nicht um Konsistenz des jeweiligen Narrativs, sondern um politische Zweckmäßigkeit. Die Tatsachen sind bloßes Material der politischen Propaganda.
Das gleiche Spiel wiederholt sich jetzt bei der Intervention in der Ostukraine. Auch hier wird die militärische Aggression hinter der löchrigen Fassade eines bewaffneten Aufstands der „russischen Landsleute“ getarnt. Bis heute leugnen die Vertreter der Macht, dass Russland im Donbass mit Waffen und Kämpfern agiert. Die Liste organisierter Verdrehungen, Halbwahrheiten und ganzer Lügen wird täglich länger. Dazu gehört die gebetsmühlenhafte Behauptung, in Kiew habe ein „faschistischer Putsch“ stattgefunden, die Rede vom „Bürgerkrieg“ in der Ukraine, die Beschwörung der antisemitischen Gefahr, die Bezeichnung der ukrainischen Regierung als „faschistische Junta“ etcpp.
Außenminister Lawrow ist ein Großmeister in der Verdrehung der Tatsachen. Wenn er behauptet, dass Russland nicht Kriegspartei sei, weiß jeder, dass er lügt, und er weiß, dass es jeder weiß, aber das kümmert ihn nicht. Er setzt darauf, dass es niemand wagen wird, einen Lügner zu nennen – das wäre ja die Sprache des Kalten Krieges. Stattdessen kumpelt unser Außenminister auf offener Bühne mit seinem „lieben Freund Sergey“. Und wenn die Bundeskanzlerin nach einem langen nächtlichen Gespräch mit Präsident Putin Klartext redet, fehlt es nicht an Stimmen, die vor „rhetorischer Eskalation“ warnen.

Tatsachenwahrheiten
Was passiert mit uns, wenn wir nicht mehr wagen, die Dinge beim Namen zu nennen? Die Lüge hinzunehmen ist der Beginn der Selbstaufgabe der liberalen Demokratien. Wir rutschen damit auf die schiefe Ebene einer Relativierung der Tatsachen, an deren Ende die Relativierung aller Werte steht. Manchmal ist es schon eine politische Handlung, wenn man ausspricht, was der Fall ist. Noch einmal Hannah Arendt: „Wahrhaftigkeit ist nie zu den politischen Tugenden gerechnet worden, weil sie in der Tat wenig zu dem eigentlich politischen Geschäft, der Veränderung der Welt und der Umstände, unter denen wir leben, beizutragen hat. Dies wird erst anders, wenn ein Gemeinwesen im Prinzip sich der Lüge als einer politischen Waffe bedient, wie es etwa im Falle der totalen Herrschaft der Fall ist; dann allerdings kann Wahrhaftigkeit als solche (..) zu einem politischen Faktor ersten Ranges werden.
Wo prinzipiell und nicht nur gelegentlich gelogen wird, hat derjenige, der einfach sagt, was ist, bereits zu handeln angefangen, auch wenn er dies gar nicht beabsichtigte. In einer Welt, in der man mit Tatsachen nach Belieben umspringt, ist die einfachste Tatsachenfeststellung bereits eine Gefährdung der Machthaber.“ Genau das war das Credo der Dissidenten in der alten Sowjetunion, und an diesem Punkt sind wir heute wieder gegenüber dem autoritären Regime, das Putin in Russland etabliert hat.
Man kann bei Arendt lernen, dass demokratische Gesellschaften einer doppelten Gefahr ausgesetzt sind: die eine ist die systematische Verwischung des Unterschieds von Wahrheit und Lüge, die andere liegt in der Versuchung, Augen und Ohren vor unbequemen Wahrheiten zu schließen. Beides trifft für den Konflikt um die Ukraine zu. Wir wollen nicht wahrhaben, dass Putin längst die Grenze zum Krieg überschritten hat, die wir aus guten Gründen keinesfalls überschreiten wollen. Wir wollen den Zusammenhang zwischen Autoritarismus nach innen und Expansion nach außen nicht sehen, weil er die Illusion auf eine baldige Rückkehr zu guter Nachbarschaft stört. Wir zögern, den nationalreligiösen Ton ernst zu nehmen, den Putin in seiner jüngsten Rede an die Nation angeschlagen hat, als er die Heimholung der Krim zu einer heiligen Sache erklärte. [Genau diese Symbiose von russischer Orthodoxie und politischer Macht wollte Pussy Riot mit ihrer Aktion in der Moskauer Erlöserkirche offenlegen].
Wir wollen nicht wahr haben, dass sich unsere Nachbarn in Polen und im Baltikum wieder von Russland bedroht fühlen, weil wir die NATO gern für eine historisch überholte Veranstaltung halten und mit militärischer Abschreckung nichts mehr zu tun haben wollen.
Ich fürchte nur, dass es nicht hilft, den Kopf in den Sand zu stecken. Jede realistische Politik beginnt mit der Anerkennung der „Tatsachenwahrheiten“, um noch einmal mit Hannah Arendt zu sprechen. Über die politischen Schlussfolgerungen kann und muss diskutiert werden.

© Ralf Fücks, Erstveröffentlichung:
www.perlentaucher.de/essay/wider-die-relativierung-der-tatsachen.html


Begründung der Jury

Die Jury des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken hat sich entschieden, den Preis in diesem Jahr jeweils zur Hälfte an den ukrainischen Lyriker, Essayisten, Romanautor, Übersetzer und Theatermacher Juri Andruchowytsch und an die russischen Aktionskünstlerinnen Nadeshda Tolokonnikowa und Marija Aljochina (ehemals Teil von Pussy Riot) zu vergeben. Die Preisträgerinnen und der Preisträger leben und arbeiten im postimperialen Raum der aufgelösten Sowjetunion und wenden sich gegen den Versuch, in derUkraine und in Russland alte Herrschaftsverhältnisse wiederherzustellen und die politischen Freiheiten abzuschaffen. Dabei sind freilich die Bedingungen in der unabhängigen Ukraine andere als in Russland, das unter Putin dabei ist, in die Fußstapfen der vorangegangenen zaristischen und sowjetischen Gewaltregime zu treten.


Juri Andruchowytsch ist seit Jahren eine wichtige literarische Stimme der demokratischen Bewegung der Ukraine. Andruchowytsch ist ein Schriftsteller in der Tradition der Einmischung in die öffentlichen Angelegenheiten. In seinen Büchern erzählt er von den vielfältigen Kulturen Mitteleuropas. In diesem Jahr erschien die von ihm herausgegebene Textsammlung „Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht“. Mit der Verleihung des Preises an Andruchowytsch drückt die Jury zugleich ihre Achtung für die Mitstreiterinnen und Mitstreiter einer unabhängigen und demokratischen Ukraine aus. Der Preis soll auch eine Ermutigung sein, denn der Streit um die Erringung der Freiheit ist nicht vorbei.
Die Aktionskünstlerinnen von Pussy Riot trugen auf dem Höhepunkt der Demonstrationen gegen die Wiederwahl Putins als weiteren Schritt einer autoritären Wende den Widerstand ins geistige Zentrum des neuen großrussischen Machtgebildes. Bei ihrem Auftritt in der Moskauer Erlöserkathedrale riefen sie in ihrem „Punkgebet“ Mutter Maria als feministischen Beistand an, um das Bündnis zwischen der orthodoxen Kirche und dem Kreml zu bekämpfen. In dem Prozess, der gegen die Aktionsgruppe geführt wurde, verteidigten sie sich mutig. Aus der Lagerhaft heraus setzten Nadeshda Tolokonnikowa und Marija Aljochina ihren Widerstand fort. Nach ihrer Entlassung stellten sie sich als Aufgabe, über das System der russischen Straflager aufzuklären und Solidarität für die Gefangenen zu organisieren. Mit den mutigen Aktionskünstlerinnen möchte die Jury auch all jene würdigen, die trotz Verfolgung an ihrem Widerstand gegen die reaktionäre Wende in Russland festhalten.
Der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken will ein Denken ermutigen, das in politisches Handeln mündet. Die Verknüpfung von politischem Denken und politischem Handeln ist die öffentliche Rede. Als öffentliche Rede verstehen wir die Aktionskunst von Pussy Riot nicht weniger als die Essays, Bücher und Romane von Juri Andruchowytsch.
 
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 Marija Wladimirowna Aljochina

 

 Nadeshda Andrejewna Tolokonnikow 

 

Über die Preisträger

Nadeshda Andrejewna Tolokonnikowa, *7. November 1989, stammt aus Sibirien, studierte in Moskau Philosophie und lernte dort ihren späteren Mann Pjotr Wersilow kennen. Gemeinsam waren sie Mitbegründerinnen der Künstlergruppe „Woina“ (Krieg), die mit Straßenkunst politische Provokation betrieb und durch Protestaktionen gegen die Staatsmacht bekannt wurde.

Marija Wladimirowna Aljochina, *6. Juni 1988, studierte in Moskau Journalistik, engagierte sich für Umweltprojekte und psychisch kranke Kinder.

Juri Andruchowytsch, *13. März 1960, ist Schriftsteller, Dichter, Essayist, Aktionskünstler und Übersetzer. Er ist eine der wichtigsten kulturellen und intellektuellen Stimmen der Ukraine. Andruchowytschs Werke sind international übersetzt und verlegt.

 

Zur Erinnerung: Hannah Arendt
Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft


In dem Wunsch, ein eindeutiges Weltbild, eine in sich stimmige Weltanschauung zu haben, der aus der Erfahrungsunfähigkeit der modernen Massen stammt und der eigentliche Motor aller Ideologien ist, „liegt bereits jene Verachtung für Wirklichkeit und Tatsächlichkeit in ihrer unendlich variierenden und nie einheitlich zu fassenden reinen Gegebenheit, die eines der hervorstechenden Merkmale der totalitären fiktiven Welt bildet.“


Massenbewegung
In dem Bestreben, den Beweis dafür zu erbringen, dass alles möglich ist, hat die totale Herrschaft schließlich entdeckt, dass es ein radikal Böses wirklich gibt und dass es in dem besteht, was Menschen weder bestrafen noch vergeben können. „Als das Unmögliche möglich wurde, stellte sich heraus, dass es identisch ist mit dem unbestrafbaren, unverzeihlichen radikal Bösen, das man weder verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit oder was es sonst noch geben mag und demgegenüber daher alle menschlichen Reaktionen gleich machtlos sind; dies konnte kein Zorn rächen, keine Liebe ertragen, keine Freundschaft verziehen, kein Gesetz bestrafen.

Totalitäre Bewegungen sind überall möglich, wo Massen existieren, die „aus gleich welchen Gründen“ nach politischer Organisation verlangen. Das Entscheidende ist, dass die Massen nicht von gemeinsamen Interessen zusammengehalten werden, sie also kein spezifisches Bewusstsein (sozialer Status, Herkunft etc.) verbindet, das sie bestimmt und klar definierte Ziele setzt.

Der Begriff Masse ist „überall da zutreffend, und nur da, wo wir es mit Gruppen zu tun haben, die sich, entweder, weil sie zu zahlreich oder weil sie zu gleichgültig für öffentliche Angelegenheiten sind, in keiner Organisation strukturieren lassen, die auf gemeinsamen Interessen an einer gemein erfahrenen und verwalteten Welt beruht, als in keinen Parteien, keinen Interessenverbänden, keinen lokalen Selbstverwaltungen, keinen Gewerkschaften, keinen Berufsvereinen“ (667f).

Die apathischen Mehrheiten [heute in Zeiten des anonymisierten Internet-Stammtischs nicht mehr ganz zutreffend „schweigende Mehrheit“ genannt], die hinter den Parteien stehen,


verwandeln sich nach Arendt in „eine unorganisierte, unstrukturierte Masse verzweifelter und hasserfüllter Individuen, die nichts [verbindet] außer der allen gemeinsamen Einsicht, dass die Hoffnungen auf die Wiederkehr der guten alten Zeit sich nicht erfüllen und dass sie jedenfalls diese Wiederkehr schwerlich erleben [werden] und dass daher diejenigen, welche bisher die Gemeinschaft vertreten […] in Wahrheit Narren [sind], die sich mit den bestehenden Mächten [verbünden], um alle übrigen entweder aus schierer Dummheit oder aus schwindelhafter Gemeinheit in den Abgrund zu führen“ (678).


In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1955 auf Deutsch erschienen, beschreibt Hannah Arendt einerseits die Entwicklung des Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert sowie das Aufkommen des Rassismus und des Imperialismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, andererseits entwirft sie eine umfassende Theorie des Totalitarismus, aufbauend auf den beiden historischen Formen totaler Herrschaft, dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus.

Arendt geht davon aus, dass totalitäre Herrschaft ohne Unterstützung durch eine Massenbewegung nicht möglich ist: „Totalitäre Bewegungen sind Massenbewegungen, und sie sind bis heute die einzige Organisationsform, welche die modernen Massen gefunden haben und die ihnen adäquat scheint.“ (663)


Totale Herrschaft setzt die allmähliche Zerstörung des politischen Raums und die Entfremdung des Individuums in der Massengesellschaft voraus.


Auch wenn Organisation und Propaganda letztlich zwei Seiten der gleichen Medaille seien, so sind die Organisationsformen totalitärer Bewegungen im Gegensatz zu den ideologischen Gehalten und den Propagandaschlagworten „von einer beispiellosen Originalität. Sie haben die Aufgabe, die zentrale ideologische Fiktion [in der Jetztzeit von Deutschland und anderen Ländern: die Verschwörung der Juden, der Islam/Islamismus, die Zuwanderung, der Sozialbetrug durch Flüchtlinge bzw. Ausländer; in Russland: die Faschisten, der Westen, red.], um die das Lügengespinst der Propaganda jeweils neu gewoben wird, in die Wirklichkeit umzusetzen und in der noch nicht totalitären Welt Menschen so zu organisieren, dass sie sich nach den Gesetzen dieser fiktiven Wirklichkeit bewegen“ (766).

Aus der Geschichte können wir lernen, dass es den Nationalsozialisten und ihrer Anhängerschaft vor der sog. Machtergreifung zuallererst um „die Schaffung von Frontorganisationen und die Unterscheidung zwischen Parteimitgliedern und Sympathisierenden als wesentlich neues und originales Organisationsmittel auf. Dieser Erfindung gegenüber sind andere Phänomene, die wir heute gewöhnlich als typisch totalitär ansehen, wie die Ernennung aller Funktionäre von oben und die schließliche Monopolisierung aller Ernennungen durch einen Mann – das sogenannte Führerprinzip -, von sekundärer Bedeutung“ (767).


Gleichschaltung

Bereits in Mein Kampf schlug Hitler vor, die durch Propaganda gewonnenen Massen in Sympathisierende und Mitglieder aufzuteilen. Dabei kam es ihm darauf an, „in die Sympathisierendengruppen möglichst so viele Mitläufer wie möglich aufzunehmen, während die Parteimitgliedschaft als solche nach Möglichkeiten begrenzt wurde“ (769). [Auf diesen Mitläufer-Status beriefen sich dann nach 1945 alle., red.]

Die Frontorganisationen dienen als „Schutzwall, der die Mitgliedschaft, ihren fanatischen Glauben an die ideologische Fiktion und ihre `revolutionäre´ Moral gegen den Schock einer noch intakten Außenwelt schützt.“ Zugleich dient die Frontorganisation der Mitgliedschaft „als eine genau überwachte Brücke in die Normalität zurück“ (770). Die deutliche Differenz zwischen seiner eigenen Haltung und der eines Sympathisierenden wird den Parteinazi wie den Parteibolschewisten „in seinem Glauben an die ideologisch-fiktive Erklärung von Welt und Geschichte gerade darum bestärken, weil der Sympathisierende ähnliche Meinungen in einer noch `normalen´ Form hegt“ (ebd.). Weil durch die Frontorganisationen der Sympathisierenden hindurch die Welt als voll von geheimen Verbündeten erscheint, sind die Frontorganisationen die von den totalitären Bewegungen eigens errichtete Fassade einer nicht-totalitären Außenwelt.


Es ist „der Ersatz der Wirklichkeit, der am wirksamsten vor der Wirklichkeit schützt“ (ebd.).


Der Gleichschaltungsprozess nach Hitlers Machtergreifung ist „ein Schulbeispiel der eminenten Bedeutung der paraprofessionellen Frontorganisationen.“ Dass die Nazis sofort imstande waren, nicht nur die politische Macht zu übernehmen, sondern das gesamte Gesicht der Gesellschaft buchstäblich von einem Tag zum anderen zu verändern, ist letztlich den Frontorganisationen zu verdanken: „Die im Schoße der nichttotalitären Gesellschaft gebildete totalitäre Gegengesellschaft war so genau dem Model der Wirklichkeit nachgebildet, dass es nicht eine Berufs-oder Standesgruppe in Deutschland gab, die nicht von einem Tag zum anderen übernommen und gleichgeschaltete werden konnte. Die einzige Organisation, die nicht direkt zu übernehmen war, war die Armee“ (781). Die Technik der Gleichschaltung war „erfinderisch neu und unwiderstehlich, wie der Verfall der beruflichen Standards in allen Gruppen rapid und radikal war, ein Verfall, der sich naturgemäß auf dem Gebiet der Kriegsführung unmittelbarer zeigte als in anderen Gebieten“ (ebd.).


Organisationsformen

Ein weiteres Merkmal der totalitären Organisationsformen besteht Arendt zufolge darin, dass die totalitäre Bewegung als Ganzes bereits vor der Machtergreifung so etwas wie eine eigene geschlossene Welt darstellen kann, in welcher Abstufungen und Differenzierungen die von den Eliteformationen gesicherte radikale Folgerichtigkeit der zentralen Fiktion nicht nur mildern, sondern auch gewissermaßen echte Meinungsverschiedenheiten ersetzen.

Auf diese Weise ist die Einfügung immer neuer Schichten mit erneuten Radikalitätsabstufungen in unendlicher Wiederholbarkeit möglich und verhindert das Erstarren des Parteiapparats durch Bürokratisierung. So war die SA, 1922 gegründet, die erste Formation, „die bestimmt war, radikaler zu sein als die Partei selbst. Die SS wurde im Jahre 1926 als Eliteformation, das heißt als der militante Flügel der SA, gegründet. Drei Jahre später wurde die SS unter Himmlers Kommando von der SA getrennt, und in wenigen Jahren begann das gleiche Spiel, nun innerhalb der SS. Nacheinander, und sich an Radikalität ständig überbietend, traten aus der Allgemeinen SS, deren Mitglieder bis auf das höhere Führerkorps in ihren zivilen Berufen blieben, erst die Verfügungstruppen heraus, dann die Totenkopfverbände, die `Bewachungsmannschaften der Konzentrationslager´, schließlich der Sicherheitsdienst, der `weltanschauliche Nachrichtendienst der Partei´, dem die Ausführung der `negativen Bevölkerungspolitik´ unterstand, und das Rasse- und Siedlungswesen, dessen Aufgaben `positiver Art´ waren“ (774).

Der rein militärische Wert totalitärer Eliteformationen ist natürlich höchst zweifelhafter Natur, selbst wenn sie so militärisch organisiert werden, wie es bei der SA und SS der Fall war. Wichtiger war, dass die SA, wie andere paramilitärische faschistische Verbände, ein Instrument zur Vertretung und Stärkung des 'Weltanschauungskampfes des Bewegung' war: „Für totalitäre Zwecke war es viel wichtiger, eine Scheinarmee auf die Beine zu stellen, die eine `kämpferische Haltung´ ausdrückte, als eine Truppe gut ausgebildeter Soldaten zur Verfügung zu haben“ (776f).

Vor allem aber handelte es sich darum, „das Recht zum Morden sichtbar darzustellen, um die Abschaffung aller sittlichen und moralischen Standards, die gewöhnlich auch im Kriege gelten und die nun als `unkämpferisch´ denunziert wurden. Für Mordpropaganda brauchte man Mord- und Gewalttaten, aber keine militärischen Übungen“ (777).


Führerprinzip

Die Aufgabe der Eliteformationen und ihrer Morde ist es, die Bewegung in ihrer Gesamtheit schärfer von der Umwelt zu isolieren und jedem ihrer Mitglieder den Rückweg in die Normalität nach Möglichkeit zu versperren: „Hitler hat schon sehr früh, 1923, gemeint, es gäbe nur zwei Dinge, welche Menschen fest verbinden, `gemeinsame Verbrechen und gemeinsame Ideale´“ (783, Anm. 67).Im Zentrum der Bewegung, als der Motor gleichsam, der sie in Bewegung setzt, sitzt natürlich der Führer. „Er lebt innerhalb eines intimen Kreises von Eingeweihten, die ihn von den Eliteformationen trennen und um ihn eine undurchdringliche Aura des Geheimnisses verbreiten“ (784). Seine oberste Aufgabe ist es, „jene Doppelfunktionen zu personifizieren, die für jede Schichte der Bewegung charakteristisch ist: Er dient als der magische Schutzwall, aber die Bewegung gegen die Außenwelt verteidigt, und er ist gleichzeitig eine Brücke, durch die sie wenigstens scheinbar mit ihre verbunden ist und bleibt“ (787).

Es ist die gleichzeitige Übernahme eines totalen Verantwortungs- und eines totalen Erklärungsmonopols, die es dem totalitären Führer ermöglicht, „innerhalb seiner Bewegung der Radikalste der Radikalen zu sein und nach außen trotzdem in der Maskerade des ehrenwert-naiven Sympathisierenden zu erscheinen“ (789).

Allerdings wird nur von den Sympathisierenden erwartet, buchstäblich an des Führers Worte zu glauben. „Ihre Aufgabe ist es, die Bewegung in einen Nebel einfältiger Treuherzigkeit zu hüllen und dem Führer bei der einen Hälfte seiner Funktion, nämlich der, in der Umwelt Vertrauen zu erwecken, zu helfen. Von Parteimitgliedern wird nicht erwartet, dass sie öffentlichen Erklärungen Glauben schenken (…) Als Hitler seinen Legalitätseid vor dem Reichsgerichtshof der Weimarer Republik schwor, glaubten ihm nur die Sympathisierenden; die Parteimitglieder wussten, dass es sich um eine Meineid handelte, und vertrauten ihm desto mehr, weil er offenbar fähig war, die öffentliche Meinung und die höchsten Instanzen des Staates zu nasführen“ (803f).


Geheimgesellschaften

Man hat totalitäre Bewegungen mit `Geheimgesellschaften´ verglichen, die sich im vollen Licht der Öffentlichkeit etablieren. Und nach Arendt weisen totalitäre Bewegungen „in der Tat auffallende Ähnlichkeit mit gewissen bekannten Charakteristiken von Geheimgesellschaften auf“: Auch hier gibt es Eingeweihte, „deren Leben nach den Vorschriften einer geheim gehaltenen Lebenssicht reguliert werden, derzufolge jede Tatsache und jedes Ereignis etwas anderes `bedeutet´, als was es in Wirklichkeit ist“ (790f).

Vor allem aber ist die Rolle des Rituals in den Bewegungen für ihre Affinität mit Geheimgesellschaften bezeichnend: „Die Umzüge auf dem Roten Platz in Moskau sind nicht weniger charakteristisch als die pompösen Feierlichkeiten der Nürnberger Parteitage. Im Zentrum des bolschewistischen Rituals ist die mumifizierte Leiche Lenins, wie im Zentrum des nazistischen Rituals die `Blutfahne´ war (…) Was produziert wird, ist das Erlebnis einer mysteriösen Handlung, das offenbar als solches Menschen besser und sicherer aneinander kettet als das nüchterne Bewusstsein, ein Geheimnis miteinander zu teilen“ (793f).

Es ist wirklich verblüffend, in dieser wie in so vielen anderen Beziehungen die Ähnlichkeit zwischen der Nazi- und der bolschewistischen Bewegung feststellen zu können, vor allem, weil sie von so außerordentlich verschiedenen geschichtlichen Voraussetzungen ausgehend zu den gleichen Endresultaten gelangten.

„Die Selbstlosigkeit, ja Selbstauslöschung, auf die totalitäre Bewegungen bei ihren Anhängern rechnen können, hat wiederum ihresgleichen nur in Geheimgesellschaften, aber in keinerlei sonstigen politischen Parteien oder Formationen (…): Selbst vor den berühmten Moskauer Prozessen war Beobachtern aufgefallen, dass Todesurteile von ehemaligen Angehörigen der Partei und besonders von Mitgliedern der Tscheka mit merkwürdigem Gleichmut entgegengenommen wurden. Hier bewährt sich eine Organisationsform, die dafür sorgt, dass keines ihrer Mitglieder sich mehr ein Leben außerhalb ihrer vorstellen kann, so dass selbst der zum Tode Verurteilte das Spiel weiterspielt und nicht verrät, im Bewusstsein, noch im Tode zu der auserwählten Schar der `Eingeweihten´ zu gehören“ (800f).


Was diese Menschen wirklich miteinander verbindet und was weit über den engstirnigen Fanatismus jeder einzelnen Ideologie oder Weltanschauung hinausgeht, ist, so Arendt, „die Überzeugung von der Allmacht des Menschen. Dem moralischen Nihilismus des `Alles ist erlaubt´ haben sie durch den sehr viel radikaleren Nihilismus eines `Alles ist möglich´ erst seine wirkliche Grundlage gegeben. Für sie handelt es sich nicht um Wahnideen der Rasselehre oder der Klassentheoreme, und sie haben es nicht nötig, an die Verschwörung der Weisen von Zion oder der Wallstreet zu glauben. Ihnen genügt die Hybris, wirklich zu meinen, dass alles gemacht werden kann, dass alles Gegebene nur ein zeitweiliges Hindernis ist, das durch überlegene Organisation überkommen werden kann“ (811).

In einer fiktiven Welt gibt es eben keine Instanz, die Misserfolge als solche verbuchen könnte.


© Fotos: ap; Susanne Schleyer -Autorenarchiv; 2 x Reuters

s. www.diepaideia.blogspot.com/

s. hier auch: Kurz und gutSlavoj Zizek; betr.: Ukraine; Pussy Riot-Frauen

 

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