LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
info@letnapark-prager-kleine-seiten.com


Heimat und Fremde

Gestern und Heute
Die alteingesessene Bevölkerung einer Kleinstadt befindet sich im Kampf gegen die Fremden (in der ehemaligen DDR Umsiedler, in der alten BRD Flüchtlinge oder Vertriebene genannt).
Heimat erscheint als wichtiger Bestandteil der Identität, als Besitz, den man vor Fremdeinflüssen schützen muss. Wer Heimat verloren hat, erinnert mit seiner/ihrer bloßen Existenz daran, wie brüchig und fragil sie, diese viel beschworene Heimat, in Wirklichkeit ist. Gleichzeitig brauchen die Flüchtlinge, Vertriebenen, Umsiedler einen Platz in der neuen Umgebung. Sie wollen wieder am Leben teilhaben, sich integrieren, Fuß fassen - gegebenenfalls gegen alle Widerstände hinweg. Nicht alle Einheimischen wollen die Neuen aufnehmen, sie haben Angst vor möglicher Konkurrenz und Verlust ihrer Rolle,
 Autorität und Deutungshoheit. Das Andere, das Fremd-Eigene darf nicht selbstverständlich werden. Viele stemmen sich vehement gegen Veränderungen, empfinden andere, fremde Menschen als Diebe ihrer Traditionen, als Eindringlinge in ihre Lebensverhältnisse und Gewohnheiten, als ungebetene Gäste, die so schnell wie möglich wieder verschwinden sollen.  

   

Sudetendeutsche 1945, hist-chron.fr

 

Flüchtlinge 2015, screenshot


In Kalte Heimat zerstörte Andreas Kossert (s. hier:
Kurz und gut) den Mythos der gelungenen Integration der rund vierzehn Millionen deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen nach 1945. Sie waren von Anfang an nicht willkommen, wurden von den meisten Einheimischen drangsaliert, verbal und häufig handgreiflich attackiert und blieben, oftmals über Jahrzehnte, die ungeliebten Außenseiter, auch wenn sie wesentlich am Aufbau der jeweiligen Gesellschaften beteiligt waren.
Drei Jahre vorher, 2005, legte Christoph Hein den Roman
Landnahme zu diesem Thema vor.

Von George Santayana, dem US-amerikanischen Philosoph, Autor und Literaturkritiker hispanischer Herkunft (1863-1952), stammt der Satz: Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen. Wem heute als „Schutz“ vor Flüchtlingen vor allem der Neubau von Mauern und Grenzbefestigungen á la Eisener Vorhang einfällt, hat - vorsichtig formuliert - nicht die mindeste Ahnung von der Geschichte, weder der eigenen familiären noch der gesellschaftlichen, es fehlt häufig an Grundgesetz-Prinzipien und Mitmenschlichkeit. (red. Vorbemerkung)



Heimat und Fremde
in Christoph Heins Roman Landnahme
von
Mario Saalbach


Bernhard Haber, die zentrale Figur in Christoph Heins 2004 erschienenem Roman Landnahme, kommt 1950 als zehnjähriger Sohn einer aus dem ehemaligen Breslau vertriebenen Familie in die sächsische Kleinstadt Guldenberg. Die Umsiedler werden von den Einheimischen angefeindet und diskriminiert, Bernhards Hund wird getötet, die Tischlerwerkstatt des Vaters in Brand gesteckt, der Vater schließlich ermordet. Trotzdem setzt Bernhard alles daran, sich mit List und großer Ausdauer, auch am Rande und außerhalb jeder Legalität, eine Existenz in Guldenberg zu begründen, die ihm den sozialen Aufstieg ermöglicht. Christoph Hein lässt Bernhard Habers Eingliederungsprozess aus der Perspektive von fünf Personen erzählen, die wie Haber der Generation angehören, die die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg nicht mehr bewusst miterlebt hat, und im Laufe der Jahre in unterschiedlichen Zusammenhängen in Kontakt mit ihm standen.


Flüchtlinge 1946; aus: J. Bahlke, Schlesien und Schlesier, München 1996


Der Verlust von Heimat und die Notwendigkeit, sie wiederherzustellen, sind zwei grundlegende Themen in Heins Roman. Heimat als Raum des Vertrauten wird der Fremde und dem Fremden als Ausdruck des Unberechenbaren, potenziell Bedrohlichen entgegengesetzt. Fremde, Fremdheit, Fremdsein oder die Angst vor Überfremdung sind allgegenwärtig und illustrieren immer wieder, dass der Heimat-Begriff unweigerlich den der Nicht-Heimat mit einschließt.

Für ein Kind kann der Verlust der Heimat besonders problematisch sein. Aber Bernhard ist eine Kämpfernatur und durchaus auch als Zehnjähriger schon bereit, seine Identität zu verteidigen. Als er in seiner neuen Guldenberger Schule gefragt wird, wo er herkomme, antwortet er ganz natürlich: „aus Breslau“. Aber der Lehrer weist ihn zurecht, diese Stadt heiße jetzt Wrocław, um ihn dann aufzufordern, seine Antwort noch einmal „richtig“ zu wiederholen. Bernhard gibt nun zwar die „richtige“ Antwort „aus Wrocław“, fügt allerdings hinzu: „Aber geboren wurde ich in Breslau.“

Was der Verlust der Heimat für den kleinen Bernhard bedeutet hat, wird jedoch im Roman kaum ausgeführt. Das Thema Heimatverlust tritt viel deutlicher in Bezug auf die Einheimischen zu Tage, die ihre Heimat durch die Umsiedler bedroht sehen.

Sigurd Kitzerow, Sägewerksbesitzer und enger Freund des erwachsenen und längst völlig integrierten Bernhard Haber, resümiert die prekäre Situation der Kleinstadt in den Nachkriegsjahren:


nach dem Krieg kamen die Flüchtlinge, erst die Ausgebombten aus den Nachbargemeinden und den Städten in der Nähe und nach ihnen die Vertriebenen, und das hörte überhaupt nicht auf. Noch Mitte der fünfziger Jahre kamen Umsiedler und verlangten Wohnraum und Arbeit und Lebensmittelmarken, obwohl Guldenberg selbst nichts hatte. Die Ausgebombten verließen irgendwann die Stadt, sie blieben ein paar Monate, und nur sehr wenige wohnten länger bei uns, bevor sie wieder in ihre Heimatstadt gingen. Die Vertriebenen jedoch blieben, und jeder wusste, sie würden nie wieder gehen, jedenfalls nicht freiwillig, weil sie keine Heimat mehr hatten. Und mit den Vertriebenen veränderte sich das Leben in unserer Stadt […]. Man kannte sie nicht. Man wusste nicht genau, woher sie kamen, wie sie früher lebten, was bei ihnen erlaubt und verboten war.


Wohnraum musste den unaufhörlich auch nach Guldenberg strömenden Flüchtlingen zur Verfügung gestellt, die ohnehin knappen Lebensmittel mit ihnen geteilt werden. Vor allem aber ist es die Angst vor Überfremdung, aus der die Umsiedler abgelehnt und diskriminiert werden. Mit dem in nur kurzer Zeit drastischen Anwachsen der Einwohnerzahl ändert sich das Leben und Zusammenleben in der Stadt, man misstraut den Fremden, über die man nichts weiß. Ähnlich wie den Vertriebenen, die mit der Heimat ihre gewohnten Orientierungskoordinaten verloren haben, ergeht es auch den Einheimischen, deren Heimat sich rapide verändert: Sie fühlen sich desorientiert und verstehen ihre Welt nicht mehr. Die Schuld geben sie den Zugewanderten. Daran lassen die Vorwürfe Reinhard Beuchlers, eines Guldenbergers der zweiten Generation, keinen Zweifel: „sie [die Umsiedler] hatten und haben nicht das Recht, anderen Leuten ihre Heimat zu nehmen, nur weil man ihnen ihre Heimat nahm. Guldenberg ist seit dem Krieg nicht mehr das Guldenberg, in dem ich geboren wurde, ist nicht mehr unsere Stadt.“



Der Mechanismus wird deutlich: Wegen des Gefühls der Sicherheit und Überschaubarkeit, das eine vermeintlich vorgegebene und als nicht veränderbar aufgefasste räumlich-emotionale Konstellation vermittelt, wird alles Fremde, das die vermeintliche Harmonie dieser Konstellation in Frage stellt, als Bedrohung erfahren und zurückgewiesen. Potenzielle Gründe für die Ablehnung finden sich allemal in dem Mangel an Information über die Fremden, der Verdacht erregt und zu Spekulationen verleitet. Was man nicht weiß, ersetzt man schnell durch Gerüchte, Vorurteile oder haltlose Anschuldigungen. Die Vertriebenen werden als Schmarotzer beschimpft, die „immerzu […] die Hand auf[halten]“ und es sich „vorn und hinten reinstecken lassen“. Schmarotzer, Lügner, Betrüger: Nach Brandstiftungen in den Haberschen Tischlereien werden Gerüchte über möglichen Versicherungsbetrug in Umlauf gebracht, wofür es keinerlei Beweise gibt. Sie werden als „Deppen und Faulpelze“ verleumdet, und man spricht ihnen sogar das Recht zu leben ab: „Man hätte die Flüchtlinge, als sie damals hier ankamen, gleich in der Mulde ersäufen sollen, allesamt“ und „Aus dem hätte man beizeiten ein Pfund Seife machen sollen. Dann hätte er wenigstens einen Nutzen“ wird dem jungen Erwachsenen Bernhard Haber noch um 1960 in alter NS-Manier entgegengeschleudert, als er ungeschickt und luftkrank einen Unfall bei der Landung eines Heißluftballons verursacht.


1950; lwl.org


Es wird Bernhard nicht leicht gemacht, sich an seinem neuen Wohnort wohl zu fühlen, ihn wirklich als Heimat zu empfinden, als Raum, der ihm Schutz und das Gefühl des Behütet-Seins gibt. Denn er wird allerorts angefeindet und beargwöhnt: in der Schule, auf dem Bauernhof, wo seine Familie einquartiert wurde… Trotzdem lässt sich Bernhard nicht unterkriegen und nicht von seiner Absicht abbringen, sich in Guldenberg eine neue Heimat zu konstruieren. In der Schule verschafft er sich bei den Mitschülern durch physische Kraft und passiven Widerstand gegen Reglementierungsmaßnahmen der Lehrer Respekt. Er beginnt sich operative Freiräume zu schaffen dadurch, dass er den Spieß immer wieder umdreht. Wird er zum Beispiel als Umsiedler verächtlich behandelt, so reagiert er mit Verachtung für die, die ihn so diskriminieren. Seine Freundin, die Friseurin Monika Demutz, berichtet:


Wenn in der Klasse irgendjemand etwas über seine alten Hosen sagte oder die unmögliche gestrickte Mütze, lächelte er ganz kalt und abfällig und wurde nicht einmal wütend. Die Wahrheit war, dass Bernhard uns verachtete, uns, die wir hier in der Stadt wohnten und schon immer hier gelebt hatten. Er war ein Umsiedler, und die waren in der Stadt nicht beliebt: und darum verachtete er alle.


Dieses Verhalten hat sich Bernhard einerseits zu einem verschlossenen, in sich eingekapselten Menschen entwickeln lassen. Später wird seine Freundin konstatieren müssen, dass er sich auch ihr in einer dreijährigen Beziehung nicht wirklich geöffnet hatte. Andererseits aber hat seine Verachtung für die anderen verhindert, dass deren Ablehnung für ihn zum Hemmschuh bei der Verfolgung der eigenen Ziele werden konnte. Was man verachtet, kann kein ernstzunehmender Grund dafür sein, etwas nicht zu tun, und außerdem stellt die Verachtung Bernhard auf eine gleiche Stufe mit denen, die ihn verachten.

Bernhard dreht den Spieß um. Das wird sehr deutlich, als er nach dem Ende der Schulzeit beginnt sich eine Zeit lang politisch zu engagieren. Auch dieses politische Engagement erntet die Ablehnung seitens der Guldenberger, bietet aber Bernhard die Möglichkeit, seine Position zu verbessern, da ihm sein Engagement wenigstens zeitweise Macht einbringt – und wohl auch Kontakte, die ihm später nützlich werden können. Als nämlich in den 1950er Jahren im Rahmen der allgemeinen Verstaatlichungspolitik der DDR auch die private Landwirtschaft in landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften umgewandelt werden soll, beteiligt sich Bernhard äußerst aktiv an den Parteikommandos, die die meist unwilligen Bauern mit Argumenten, aber auch durch massiven Druck zum Genossenschaftsbeitritt bewegen sollen. Menschen, die ihn kennen, wie Monika Demutz oder sein späterer Geschäftspartner Peter Koller, verstehen dieses Engagement nicht. Koller erklärt rückblickend: „Ich hatte keine Ahnung, wieso er sich plötzlich derart verändert hatte, es klang so, als ob er ein ganz Überzeugter geworden wäre, ein Parteifunktionär oder so etwas Ähnliches.“ Und kurz darauf weiter:


Dass Bernhard plötzlich politisch wurde und mächtig auf die Pauke haute, als sei er sonst wer, überraschte mich. Für einige lohnte es sich vermutlich, sie wollten weiterkommen und traten deshalb in eine Partei ein, ich konnte mir jedoch nicht vorstellen, was es Bernhard bringen sollte.Schließlich wollte er Tischler werden, da musste man nicht wie die Zeitung reden, aber vielleicht hatte er eine ganz andere Karriere im Auge und wollte auf sich aufmerksam machen.


Mit seinem Engagement für die Genossenschaften „machte sich [Bernhard] den Bauern verhasst“, so Kitzerow. „Er hatte damit nicht nur sich geschadet, sondern allen Vertriebenen, denen man seinetwegen noch mehr gram wurde als zuvor, wenn das überhaupt möglich war.“ Schließlich war er „ein Umsiedlerkind, von dem man Dankbarkeit erwartete und keine Unverschämtheiten. Und dass er sogar den Bauern Griesel agitiert hatte, bei dem er und seine Familie zuerst Unterkunft gefunden hatten, verübelte man ihm besonders.“ Bernhard aber nimmt das Risiko noch stärkerer Ablehnung der Vertriebenen durch die einheimische Bevölkerung in Kauf für die Möglichkeit, durch sein Eintreten für Partei und Genossenschaft Rache zu üben an denen, die ihn und alle anderen Vertriebenen anfeindeten, seit sie nach Guldenberg gekommen waren. Im Gespräch mit Peter Koller erklärt er:


„[…] War ein schönes Gefühl damals. Plötzlich hatten sie Angst vor mir. Alle.“

„Daran hatte ich nie gedacht. Es ist wahr, freundlich aufgenommen wurden die Umsiedler nicht gerade.“

„Die Vertriebenen sollte man gleich weitertreiben, in die Mulde. Das hat Griesel meinem Vater ins Gesicht gesagt. […]“

„[…] Dich darf man nicht zum Feind haben, was?“

„Sagen wir, ich vergesse nichts. Nie.“


Bernhard Haber handelt sich zwar noch größere Ablehnung seitens der Guldenberger ein, verschafft sich aber gleichzeitig Respekt als jemand, den man ernst nehmen sollte. Und diese Basis der Anerkennung wird auf Jahre hinaus die Grundlage sein für den Ausbau und die Konsolidierung seiner Position in Guldenberg. Mit einer kleinen Tischlerei als Tarnfirma zieht er zusammen mit Peter Koller einen lukrativen Fluchthelfer-Dienst auf. Mit dem verdienten Geld baut er seine Tischlerei zu einem relevanten Wirtschaftsfaktor in Guldenberg aus, wobei er auch nicht davor zurückschreckt, einheimische Unternehmer auszubooten. Der Ausbau seiner wirtschaftlichen Position öffnet ihm schließlich die Tür zur Teilhabe auch an der gesellschaftlichen Macht. Haber wird Mitglied des örtlichen Unternehmerzirkels und damit der wirtschaftlichen Elite der Stadt und wird sogar in den Stadtrat gewählt. Er hat sein Ziel erreicht, sich eine neue Heimat zu konstruieren und auf Beschaffenheit und Entwicklung dieser neuen Heimat entscheidend Einfluss ausüben zu können. Um das Erreichte zu sichern, ist er sogar bereit zu vergessen. Er hat nach fünfzehn Jahren herausgefunden, wer seinen Vater ermordet hat und wer die Anstifter waren. Aber Haber will das Ganze auf sich beruhen lassen. Er hat Angst, die neu gewonnene Heimat wieder zu verlieren.

Heimat und Zugehörigkeit sind Bernhard Haber so wichtig, dass sogar seine alten Gerechtigkeitsansprüche ausgehebelt und entgegen früheren Beteuerungen – „Ich vergesse nichts. Nie.“ – dem Vergessen anheim gegeben werden.



Was bedeutet nun eigentlich Heimat für die beiden hier gegenüberstehenden Parteien, also auf der einen Seite die alteingesessenen Guldenberger und auf der anderen Bernhard Haber, stellvertretend für die Vertriebenen, die nach Guldenberg umgesiedelt wurden? Für beide ist sie eindeutig Sinnbild eines Raums der Geborgenheit, des Bekannten, Gewohnten und Vertrauten, auf den in der einschlägigen Literatur immer wieder verwiesen wird, ein Raum, in dem die Orientierung problemlos funktioniert und automatisch das Gefühl der Zugehörigkeit entsteht. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden ist der, dass den Guldenbergern ihre Heimat zur Verfügung steht, wenngleich sie sie durch die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg bedroht sehen, während Bernhard Haber seine ursprüngliche Heimat verloren hat und sich eine neue aufbauen muss.

Wie Reinhard Beuchler im Gespräch mit Sigurd Kitzerow deutlich macht, betrachten viele Guldenberger Heimat als etwas Vorgegebenes, in das man hineingeboren wird:


„[…] ich begreife, was ich früher nicht verstanden habe, worüber ich gelacht habe, nämlich dass wir alle einen Platz auf dieser Erde haben. Wir haben einen Platz zugewiesen bekommen, und der gehört zu uns und wir zu ihm. Und wenn man diesen Platz aufgibt, dann gehört man nirgendwo hin […]. Und dieser Platz hat etwas mit der Geburt zu tun. Wo du geboren wurdest, da ist deine Heimat, und nur dort bist du daheim. Und wenn du diesen Platz verlässt, dann gibst du deine Heimat auf. […] Früher habe ich darüber gelacht. Ich habe nicht verstanden, warum sich unsere Eltern gegen die Umsiedler stellten. Jetzt weiß ich es, und ich weiß, sie hatten Recht.“


Heimat wird als Tradition und Erbe angesehen, als Besitz, der nur dem zusteht, dem dieser Platz zugewiesen wurde, als Bestandteil der eigenen Identität. Heimat muss folglich gegen Veränderung verteidigt, Fremdeinflüsse müssen vermieden werden, denn die durch sie verursachten Veränderungen bringen das idealisierte Gefüge aus dem Gleichgewicht und lassen es seine Schutzfunktion nicht mehr erfüllen:


„Guldenberg ist seit dem Krieg nicht mehr das Guldenberg, in dem ich geboren wurde, ist nicht mehr unsere Stadt. […] Damals [im Krieg] gehörten wir noch alle zusammen. Das ist vorbei, das hat sich geändert. Es sind zu viele Fremde. Zu viele, die hier nicht geboren wurden und nicht hierher gehören.“

„Ihnen fehlt das Herz für die Stadt, schließlich sind sie zufällig hier gelandet und können jederzeit weiterziehen. Wie die Zigeuner. Die Stadt, die Kirche, die Burg, unser Kurpark, die alten Straßen, all das, an dem unser Herz hängt, für sie bedeutet das alles nichts. Glaub mir, es sind Fremde, und es bleiben Fremde. Auf die kannst du nicht bauen.“


Bernhard Haber möchte für sich alles das erlangen, was Reinhard Beuchler hat, aber in Gefahr wähnt und zu verlieren befürchtet. Er kann sich nicht in eine vermeintlich vorgegebene Heimat flüchten, sondern muss sich den Schutzraum, der ihm Halt und Orientierung bieten soll, gegen die Anfeindungen der Guldenberger erst konstruieren, muss seine Identität mit geeigneten Antworten auf die Fragen, wer und was er ist und wo er hingehört oder hingehören will, neu festlegen. Er sucht Zugehörigkeit und Anerkennung, er will Teil seiner neuen Heimat sein und bei ihrer Konstruktion mitbestimmen, wie sie auszusehen hat.

Beide Parteien suchen im Grunde dasselbe: einen Raum der Vertrautheit, in dem sie sich gut behütet fühlen und orientieren können, einen Raum, der sich mit ihren jeweiligen Identitätsvorstellungen problemlos verzahnt. Die einen suchen ihn zu erhalten, der andere, ihn sich zu erschaffen. Wenn aber die Vorstellungen beider Seiten weitgehend deckungsgleich sind, heißt das, dass es hier um etwas anderes gehen muss als um den Schutzraum Heimat an sich. Es geht hier vielmehr darum festzulegen, wer das Recht hat, am konkreten Ort diesem Schutzraum anzugehören. Und das bedeutet, dass es sich um eine Frage der Macht handelt. Geborgenheit, Zugehörigkeit und der daraus empfangene Rückhalt durch die Gemeinschaft sind Machtfaktoren, die zum Zweck der Ausgrenzung gegen Neu-Hinzugekommene instrumentalisiert werden. Als Motiv der Ausgrenzung steht die Angst vor dem vermeintlichen Verlust der Macht, die – mit anderen geteilt – in ihrer Potenz geschmälert erscheint, die Angst, dass die vermeintlich homogenen Interessen der gewachsenen Gemeinschaft in einer sich durch Fremdeinflüsse wandelnden Heimat ins Hintertreffen geraten. Heimat und Macht erscheinen eng miteinander verbunden. Bernhard Habers Kampf um das Recht auf Zugehörigkeit ist letzten Endes ein Kampf um die Teilhabe an der Macht.


Wenn Doris Bachmann-Medick Raum als fundamentale Kategorie von Macht erkennt, Raum, den man sich aneignet, Raum, den man verteidigt, drängt sich die Assoziation zum Raum Heimat geradezu auf. Der Bezug zu Verlust und Neukonstruktion von Heimat wird durch die Feststellung von Martina Löw, Räume seien aufgrund ihrer „zumeist ungleichen Verteilungen“ in der Gesellschaft „oft Gegenstände sozialer Auseinandersetzungen“, noch deutlicher. Will man Foucault oder Bourdieu folgen, ist Macht letzten Endes „ein Diskurs, welcher Gesellschaft strukturiert“ (Andrea Lobensommer). Die Gesellschaft bietet dem ihr zugehörigen Individuum gewisse Freiräume, erwartet aber im Gegenzug „bestimmte Verhaltensweisen“, die auf die Anpassung an die Gesetze dieser Gesellschaft hinauslaufen. „Devianz“ wird unter anderem mit „Erniedrigung“ und der „Verweigerung eines Raumes in der Gesellschaft“ bestraft, der Deviante als „Feind der Gesellschaft“ betrachtet (Andrea Lobensommer).

Die Zuwanderer im Roman sind deviant hinsichtlich der eingesessenen Guldenberger Gesellschaft, weil sie die Verhaltensweisen, die man von ihnen erwartet, nicht kennen, weil ihnen die Orientierungskoordinaten im neuen gesellschaftlichen Raum fehlen. Man verweigert ihnen folglich die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, verachtet sie und betrachtet sie als Feinde. Die Guldenberger spielen ihre Macht aus, um ihre Heimat gegen die vermeintlichen Feinde zu verteidigen. Sie wollen ihnen den Zugang zu dieser Heimat und damit zu der Macht, die die Zugehörigkeit mit einschließt, verwehren.


Teilhabe durch Neustrukturierung der Landwirtschaft (LPG)?


Bourdieu erachtet als wesentliche Grundlage für die Teilhabe an der gesellschaftlichen Macht das Kapital, das die jeweiligen Individuen besitzen und zur Optimierung ihrer gesellschaftlichen Position ins Spiel bringen. Er unterscheidet dabei neben dem ökonomischen auch das kulturelle und das soziale Kapital, vereinfacht gesagt: Bildung und Beziehungen. Die Zuwanderer verfügen weder über ökonomisches noch soziales Kapital, also weder über materielle Güter noch über soziale Beziehungen, ihr kulturelles Kapital interessiert niemanden und bleibt irrelevant. Ihre Chancen für eine gute Positionierung stehen somit schlecht. Bernhard Haber jedoch nimmt den Kampf um die Macht auf und ist dabei mit seiner Bilderbuchkarriere anschauliches Beispiel für Bourdieus Thesen: Zunächst beteiligt er sich aktiv an der Parteikampagne zur Umwandlung der privaten in genossenschaftliche Landwirtschaftsbetriebe und legt damit den Grundstein für sein soziales Kapital, also die gesellschaftlichen Beziehungen, die zur Verbesserung seiner gesellschaftlichen Position hilfreich sein können. Dann besorgt er sich das notwendige ökonomische Kapital, um sich und sein Unternehmen zu einem nicht zu übersehenden Wirtschaftsfaktor in Guldenberg zu machen. Dieses ökonomische Kapital setzt er schließlich wieder ein, um sein soziales Kapital aufzustocken und seine gesellschaftliche Position als Mitglied des einflussreichen Unternehmervereins und als Stadtrat zu optimieren. Er hat es geschafft, er gehört zu den Mächtigen seiner neuen Heimat.


Man kann daraus schließen, dass Heimat dem ihr Zugehörigen eine Machtposition vermittelt, die es gegen andere zu verteidigen gilt. Heimat ließe sich so als Schutzraum einer Interessengemeinschaft fassen, deren Interessen potenziell in Konflikt treten mit anderen Interessen, die durch Fremdeinflüsse an sie herangetragen werden. Dass es sich hier, im konkreten Roman-Beispiel, aber weniger um reale Gegebenheit als um ein idealisiertes Gemeinschaftsgefühl handelt, wird spätestens in dem Augenblick deutlich, als solche Interessenkonflikte auch innerhalb der heimatlichen Gemeinschaft selbst zu Tage treten, die sich als weniger homogen erweist, als sie vorgibt. Als die Guldenberger Unternehmer ihren entscheidungsrelevanten Kegelklub in einen Verein, aus Traditionsgründen einen Karnevalsverein, umwandeln wollen, tauchen Bedenken auf, da in einem solchen Verein „jeder Bürger Mitglied werden [könnte], was keinem von uns zusagte.“ Der Lösungsvorschlag wird von allen akzeptiert: „jedes Mitglied habe jährlich fünftausend Mark Beitrag zu entrichten, eine solche Summe würde uns die unerwünschten Mitbürger fern halten.“ Ausgrenzung also nicht nur von Zugewanderten, sondern auch in der Gemeinschaft selbst – zur Sicherung der Macht einer kleinen Elite. Und alles das unter Berufung auf Heimat. Die nostalgische Sehnsucht nach einer heilen Welt entpuppt sich als Streben nach Macht und Instrument zur Verteidigung der Interessen einer Minderheit. Nur waltet diese Macht wie auch das Streben nach ihr im Verborgenen. Es ist eine Macht, die, wie Bourdieu erklärt, „die Macht hat, sich in ihrer Wahrheit als Macht, als Gewalt, als Willkür verkennen zu lassen.“ Ideeller Anspruch und Realität klaffen, wie so oft, auseinander.



Literaturhinweise

Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.

Baumgart, Franzjörg (Hg.) (2008): Theorien der Sozialisation. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Blickle, Peter (2004): Heimat. A Critical Theory of the German Idea of Homeland. Rochester (NY): Camden House, 1. Aufl. 2002.

Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Bourdieu, Pierre (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA.

Foucault, Michel (1998): Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M.: Suhrkamp, dt. Erstveröffentlichung 1976.

Foucault, Michel (1999): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76). Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Greverus, Ina-Maria (1972): Der territoriale Mensch: Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen. Frankfurt/M.: Athenäum.

Hein, Christoph (2004): Landnahme. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Lobensommer, Andrea (2010): Die Suche nach „Heimat“. Heimatkonzeptionsversuche in Prosatexten zwischen 1989 und 2001. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang.

Löw, Martina (2001): Raumsoziologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp.



Der Beitrag basiert auf dem gekürzten Manuskript eines Vortrags, den der Verfasser auf der internationalen Tagung “RAUM – GEFÜHL – HEIMAT. Literarische Repräsentationen nach 1945“ an der Universität des Baskenlandes in Vitoria-Gasteiz gehalten hat. Die Tagung fand vom 23. bis 25.09.2015 statt und wurde organisiert von Dr. Garbiñe Iztueta, Prof. Dr. Mario Saalbach, Dr. Carme Bescansa und cand. phil. Iraide Talavera. Eine Dokumentation der Tagung erscheint 2016 als Buch im Verlag LiteraturWissenschaft.de.



© Mit freundlicher Genehmigung des Autors; Redaktion der gekürzten Fassung: Prof. Dr. Thomas Anz; Erstveröffentlichung: http://goo.gl/ASp7P5



Prof. Dr. Mario Saalbach

*1951, studierte Hispanistik, Germanistik, Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft in Bonn, Salamanca und Bremen, Promotion über das Spanische Theater in der Franco-Diktatur. Seit 1985 an der Universität des Baskenlands und Aufbau der Germanistischen Abteilung, seit 1995 ord. Professor für deutsche Sprache und Literatur.




 

Christoph Hein, Landnahme
382 S., Broschur, suhrkamp taschenbuch 3729, 2005
€ 11,00; ISBN: 978-3-518-45729-0



auch Guldenberg, Ort für:
ders., Horns Ende
272 S., Broschur, suhrkamp taschenbuch 3479, 2002
€ 9.00; ISBN: 978-3-518-39979-8







 

Christoph Hein, *08.04.1944 in Heinzendorf/Schlesien. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle Der fremde Freund / Drachenblut.
Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis.

 








Zum Thema Heimat, Flüchtlinge und Vertriebene s. hier auch:

Kurz und gut, Asyl-Flucht-ilb 2015, Intro - Peter Demetz, Terezia Mora-Grenzen, Karl Schlögel, Katerina Tuckova, Flucht – Vertreibung, Goedeking-von Arburg, Der verlorene Salon, Der verlassene Raum, Zmeskal vlast-Heimat, Kurzeck - Gespräche 



20X15



Tweet