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Wie weit man gehen kann


Dankesrede zur Verleihung des Heinrich-Böll-Preises am 22.11.2013 im Historischen Rathaus der Stadt Köln

von Eva Menasse


Was hätte wohl Heinrich Böll dazu gesagt? Zur Umfrage einer Wochenzeitung kurz vor der letzten Bundestagswahl, in der von achtundvierzig bekannten Wissenschaftlern, Künstlern, Intellektuellen etwa ein Viertel mehr oder weniger deutlich, mehr oder weniger stolz ihre Wahlverweigerung öffentlich bekundeten? Wo dieses Viertel der Befragten egozentrische Sätze schrieb wie „selten war ich mir so unschlüssig“, unfreiwillig komische Sätze wie „früher habe ich noch an Parteien geglaubt“, denkfaule Sätze wie „wie soll man in differenzlosem Feld eine Entscheidung treffen“, und bemitleidenswert erschöpfte Sätze wie den folgenden: „Das Beste, was wir im Augenblick haben, ist die erzwungene Solidarität unter uns Wahlmüden“? Was hätte er gesagt zu dem großen Essay eines angesehenen Wissenschaftlers, der wortgewaltig viel richtige Kritik an hochkomplexen politischen Phänomenen äußerte, nur um dann mantraartig zu dem unterkomplexen Schluss zu kommen, die einzige Möglichkeit, darauf zu reagieren, sei nicht mehr wählen zu gehen?

Was hätte Böll gesagt angesichts von Medien, die diese todschick gewordene Politikverdrossenheit, diese Denk- und Entscheidungsfaulheit nicht bloß transportieren, sondern lustvoll vervielfältigen, in dem sie ausgerechnet den Nichtwähler zum Superstar aufbauen, der einfühlsam zu seinen Beweggründen interviewt wird? Wo sich Talkmaster auch in gehobenen Programmen als unerbittliche Ankläger gerieren, die dem Angeklagten, also dem Politiker, der ohnehin vorverurteilt ist, aus ihren unendlichen digitalen Archiven seine Fehlleistungen, Tränen und falschen Versprechungen vorspielen? Wo sie einem Kanzlerkandidaten, der über Maßnahmen zur Gleichberechtigung spricht, als Antwort höhnisch O-Töne aus Fußgängerzonen zeigen, wo irgendwelche Frauen sagen, dass ihnen die Mundwinkel dieses Bewerbers aber einfach nicht gefallen?

Was hätte Heinrich Böll gesagt angesichts einer Öffentlichkeit, in der sich die Reste von Sachpolitik aufgelöst haben wie in einer homöopathischen Zuckerlösung, weil es nur noch um Äußerlichkeiten geht, um Fingerhaltungen, Halsketten und die Frage, wie einer „ankommt“ und nicht, ob er etwas zu sagen hat?
Was würde Heinrich Böll heute zur Lage in seinem Deutschland sagen? Nach fast siebzig Jahren Frieden ist es zu einem der reichsten und mächtigsten Länder der Welt geworden, während anderswo auf der Welt, nicht nur in Syrien, täglich Tausende fliehen und Hunderte sterben, während regelmäßig Dutzende, an schlechten Tagen auch hunderte Flüchtlinge im Meer zwischen Afrika und Europa ertrinken, und die paar wenigen, die ihre Haut heil bis zu uns gerettet haben, treten nach kurzer Zeit in unseren kalten Kirchen lieber in den Hungerstreik, als ein sinn- und trostloses Dasein als zwar durchgefütterter, aber jeder Perspektive beraubter Asylant zu führen. Was hätte Böll gesagt zu diesem Deutschland, das sich am liebsten dann intellektuell anstrengt, wenn es darum geht, die eigene Untätigkeit zu verteidigen, die eigene, erstickende Langeweile zu beschwören?

Ich kann Ihnen nicht sagen, was er gesagt hätte, aber eines ist sicher: Heinrich Böll hätte etwas gesagt, und nicht zu knapp. Dieser Mann, der mit achtundzwanzig Jahren aus den Schützengräben eines verbrecherischen Krieges kam, der in den Nachkriegsjahren von sich selbst und seiner Familie verlangte, eher zu hungern, als dass er seine Freiheit als unabhängiger Schriftsteller aufgegeben hätte, dieser Autodidakt, der in den ersten Jahren gar nicht anders konnte, als wie besessen aufzuschreiben, was er an Gräueln erlebt hatte, und der, neben Wolfgang Borchert, der erste war, der mit seinen Texten den sinnlos verheizten Soldaten und ermordeten Juden ein Denkmal setzte – der hat zeitlebens lieber einen Fehler gemacht, als den Mund zu halten. Der hätte sich niemals von vermeintlich wohlmeinenden Beratern oder vom Comment des Literaturbetriebs sagen lassen, dass es sich für Schriftsteller nicht schickt, sich zur Lage zu äußern. Dass es sich rächen könnte, beim nächsten Buch. Dass es großspurig wirkt, wenn man sich politisch artikuliert, als einer, der doch bloß etwas geschrieben hat. Worin, bitte, geschätzter Autor, geschätzte Autorin, besteht denn Ihre Expertise, sich zu äußern? Haben Sie ein Rentenkonzept in der Schublade? Oder eine bessere Idee, die Finanzkrise zu lösen? Wollen Sie sich mit diesem tagespolitischen, gar parteipolitischen Dreck Ihre zarte Poetenhand ruinieren? Na, also. Dann überlassen Sie das doch lieber weiterhin uns, den festangestellten Kommentatoren, die wir dafür bezahlt werden, dass wir Tag für Tag eine frische Meinung haben und diese auch handzuhaben verstehen wie ein Schwert. Und für Wahl-Empfehlungen gibt es ja, alle vier Jahre, die Starfriseure und Seriensternchen.

Über die Freiheit des Schriftstellers schrieb Heinrich Böll: Er muss zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit er gehen kann.
Das hat Böll sich zur Maxime gemacht, ebenso wie der um zehn Jahre jüngere Günter Grass. Sie kamen auf der Seite der Schuldigen aus dem Krieg, sie begannen auf den Trümmern zu schreiben, auf denen ihrer Städte ebenso wie auf den Trümmern all dessen, was Deutschland einmal ausgemacht hatte, als nationale Idee, als Ort von hochstehender Kultur und Zivilisation – bevor es die Gaskammer erfand.
Die Energie von Böll und Grass, ihr Land mit der Kraft ihrer Worte zu einem anderen, besseren Land zu machen, war immens und einschüchternd. Als sie älter wurden, diese Energie aber keineswegs nachließ, während das Wirtschaftswunderland um sie herum an die Stunde Null schon gar nicht mehr erinnert werden mochte, wirkten sie auf einmal lächerlich.

Plötzlich wollte niemand mehr sein wie sie, sie schienen querulantisch, besserwisserisch, moralapostelhaft. Plötzlich wollte keiner mehr die öffentliche Arena betreten, die sie den Schriftstellern und Intellektuellen gerade erst erkämpft hatten – das klingt zwar paradox, ist aber wahrscheinlich bloß die natürliche Bewegung der Geschichte.
Eine neue Zeit kam und urteilte vernichtend wie Rainald Goetz, der Böll und Grass „die präsenilen Chefpeinsäcke“ nannte. Auf diese Art der verbalen Abwicklung möchte man übrigens auch mit einem Böll-Zitat antworten: „Ich hoffe, du hast nicht in den Eisschränken der Ironie das Gefühl der Überlegenheit frisch erhalten“. Damals jedenfalls ging die intellektuelle Deutungsmacht über die Phänomene der Gegenwart fast gänzlich auf die Journalisten über.

Schriftsteller und Politik, das ist in Deutschland seither eine unmögliche Verbindung. Es gilt als veraltet und peinlich, sich auch nur in der Nähe von Politik oder gar Parteien sehen zu lassen. Auch dem Wort politisches Engagement haftet etwas unsouverän Aufgeregtes an, als wäre so ein Engagierter ein überschäumendes Kind, das es leider noch nicht besser weiß. Wenn ich es recht sehe, hat diese Unvereinbarkeit der beiden Sphären nach der Wiedervereinigung eher noch zugenommen, wenn auch aus geradezu entgegengesetzten Gründen: Während Kollegen aus der DDR ihre speziellen Erfahrungen mit Zwang, Vereinnahmung und Staatsschriftstellerei gemacht haben, sah Heinrich Böll mit dem zeitlichen Abstand und den mit ihm automatisch einhergehenden Schlampereien und Vereinfachungen nun beinahe wie der (demokratische) Staatsschriftsteller der guten alten Bonner Republik aus.
Nichts könnte falscher sein. Heinrich Böll war ein großer Moralist – auch das ein Wort, das konjunkturell zum Schimpfwort taugt, weil sogar die Moral gelegentlich aus der Mode kommt – , aber er war auch ein grandioser Polemiker und ein wilder Widerborst. Wer heute seine politischen Essays, seine Reden, seine Zwischenrufe, ja seine Leserbriefe liest, dem stockt der Atem vor soviel Angriffslust, sprachlicher Zuspitzung, triefender Ironie. Da ist ein heißer, kämpferischer Ton, ein Ton, den man heute kaum noch hört und liest, nicht einmal, wenn sich verfeindete Feuilletonisten beharken.

Im Vergleich dazu ist der aktuelle deutsche Diskurs in ritueller Höflichkeit erstarrt. Kaum einer langt, auch ad personam, so hin und macht sich gleichzeitig, durch ehrlichen Einsatz des Pronomens ich, so verwundbar, wie Böll es tat. Man könnte auf den Gedanken kommen, dass Heinrich Böll, der die Nazi-Diktatur und den Vernichtungskrieg überlebt hatte, danach bewusst alle Rüstungen für immer abgelegt hat. Dass Böll, der massenmörderischen Diktatur entkommen, fortan entschlossen war, diese junge Demokratie schreibend und protestierend auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen, am eigenen Leib, ob sie echt war und sich wirklich nicht wieder zurückverwandeln würde, ob man nicht doch noch Reste von Willkür, Denk- und Redeverboten zutage fördern könnte.

Für diese demokratische Tauglichkeitsprüfung hat Böll „sich eingesetzt“ im Wortsinn, er musste zwar nicht mehr, wie im Krieg, sein Leben einsetzen, aber alles andere hat er eingesetzt, seine Person, seinen Ruf, sein Gewicht als Schriftsteller und Nobelpreisträger. Als der RAF-Terror begann, stand er ganz allein mit seinem Versuch, in einem Klima von gesellschaftlicher und politischer Hysterie auf die fatale Mitwirkung der Medien an eben dieser totalen Hysterie hinzuweisen.
Dafür hat ihn die Springer-Presse mit einer Hass-Kampagne überzogen, ihn als Sympathisanten von Terroristen diffamiert, und ihm damit den berühmten Polizeieinsatz beschert – sein Haus wurde von schwerbewaffneten Polizisten umstellt und nach Terroristen durchsucht. Das hat ihn tief gekränkt, und es hat bis zu seinem Tod nicht aufgehört. Die Causa Böll von 1972 bleibt ein Lehrbeispiel dafür, wie in einem Zustand von Radikalisierung beruhigende und deeskalierende Texte gar nicht mehr verstanden werden können, wie alles, was in einer solchen Atmosphäre gesagt und geschrieben wird, plump der einen oder anderen Seite zugeschlagen wird. Bist du nicht für mich, so bist du gegen mich. Es bleibt ein schreckliches Beispiel dafür, wie Mitte und Mäßigung plötzlich spurlos verschwinden können.

„Elf Millionen Bundesbürger schlürfen täglich den Polit-Porno-Zynismus von BILD ein“, schrieb Böll: „Ich weiß, es ist Mode geworden, die Springer-Presse für indiskutabel zu halten. Ich mag mir diesen intellektuellen Luxus nicht leisten.“
Der intellektuelle Luxus, der nur ein anderes Wort für Feigheit ist: Da ist er, dieser Böll, der ganz unverbraucht und gegenwärtig zu mir spricht, von dem man bis heute so viel lernen kann. Ihn lesend, begreife ich noch einmal neu den Unterschied zwischen dem professionellen Kommentator des Zeitgeschehens, dem Journalisten, dem Lobbyisten, dem Politiker, und uns, den Autoren.

Denn wir sind allein, wir haben keinen Zeitungsverlag, keinen Konzern und keine Partei hinter uns. Die einzige Kraft, die wir haben, ist unsere Stimme und unsere Verletzlichkeit. Wir sind komische Käuze in stillen Kammern, wir verweigern uns der Hochgeschwindigkeit der Geschäftswelt, dem absurden Postulat von der Schwarm-Intelligenz, der vermeintlichen Alternativlosigkeit einer Hundertschaft von gefährlichen Entwicklungen. Wir nehmen uns viel Zeit für seltsame, altmodische Gedanken. Wir haben und brauchen Abstand. Genau das ist unsere Expertise, die Voraussetzung für einen anderen, hoffentlich freieren Blick.
Vielleicht ist ja der Künstler, der sich politisch äußert, die einzige authentische politische Figur. Die anderen sprechen als Profis. Wir aber fallen aus der angestammten Rolle und werden zu Privatleuten mit einer papierdünnen Haut, sobald wir uns öffentlich mit der Welt außerhalb unserer Werke beschäftigen.

Das ist gefährlich, unangenehm und nicht jedermanns Sache. Das ist eine Mutprobe, denn es ist schon so manchem Autor zum Verhängnis geworden, an dessen wohlformulierten Misston man sich noch nach Jahren erinnerte, während die Sprachhülsen der Dauerredner täglich von denen der nächsten überschrieben werden. Man braucht uns dafür nicht zu bewundern. Das einzige, das wir mit Nachdruck verlangen müssen, ist: Ernst genommen zu werden, so ernst wie alle anderen auch. Nicht für illegitim oder anmaßend erklärt zu werden. Oder, mit Heinrich Böll gesagt: „Was Autoren sind: auch Bürger, möglicherweise artikulierte. Sonst nichts. Ich bin gegen Heldenverehrung, Denkmäler, Images und Ikonen.“

In seinem vorletzten Roman mit dem brillanten Titel Fürsorgliche Belagerung beschreibt Heinrich Böll eine klaustrophobische Welt totaler Überwachung. Eine kleine Gruppe Reicher und Mächtiger wird Tag und Nacht beschützt. Warum? Weil ein Anschlag verhindert werden soll. Doch je perfekter das Sicherheitsnetz, desto gefährdeter fühlen sie sich. Mit den eminenten Sicherheitsvorkehrungen stellt sich eine tiefe psychische Verunsicherung ein. Hinter jeder Ecke steht ein Bewaffneter und begleitet einen bis auf die Toilette. Die solcherart Beschützten haben keinerlei Privatsphäre mehr, ihre Telefone werden überwacht, ihre Briefe gelesen, jeder ihrer Schritte wird kontrolliert, über buchstäblich jede ihrer Lebensäußerungen wird Buch geführt. Diese Lückenlosigkeit führt zu immensen Kollateralschäden. Denn wenn ein Sicherheitsmann und sein Vorgesetzter alles über einen wissen, dann weiß es auch die Ablöse des Wachmanns und der Stellvertreter des Vorgesetzten, es wissen die Komitees, die regelmäßig zusammentreten, um die Sicherheitsmaßnahmen zu evaluieren. Je mehr es wissen, desto sicherer gibt es Lecks. Es gibt Sicherheitslecks, aber vor allem gibt es Informationslecks. Die Hauptfigur des Romans, Fritz Tolm, ist mit einem Schmierblatt namens „Das Blättchen“ zum Multimillionär geworden, aber natürlich gibt es Konkurrenten unter den Schmierblättchenmachern. Und diese Konkurrenz spielt die privaten Informationen über Tolm und seine Familie gnadenlos aus.

Das ist der großartigste Schachzug Bölls in diesem Roman: Dass er zeigt, wie ein völlig übersteigerter Sicherheitswahn sich zauberlehrlingshaft gegen die kehrt, die ihn in Gang gesetzt haben. Die umfassend Überwachten und Durchleuchteten können zwar vielleicht vor Anschlägen bewahrt werden, aber sie haben keine Sekunde Ruhe mehr, sie werden unvermeidlich zu Opfern von Erpressung und öffentlicher Demütigung.

Sie erkennen die Parallelen, meine Damen und Herren. Ich muss Ihnen nicht sagen, weshalb dieser Roman heute vermutlich noch viel aktueller ist als zur Zeit seiner Entstehung. Ich muss Sie nicht erinnern an die heutigen technischen Möglichkeiten, die so schnell über unsere Gewissheiten und Empfindlichkeiten, vor allem über unsere Gesetze hinweg gestürmt sind, dass wir die Implikationen noch gar nicht begriffen haben. Wir glauben noch, dass der weltweite öffentliche Pranger unser größtes Problem ist, jener Pranger, der heute shit storm heißt, der zum ersten Mal seit dem Mittelalter wiedererrichtet wurde und der, ach so demokratisch, für jeden jederzeit bereitsteht. Dabei lauert etwas viel Größeres gleich hinter der nächsten Ecke. Was da lauert, ist so monströs und unbegreiflich, dass wir es noch kaum denken können, während es unsere Computer schon rechnen.

Wir haben, nach einer kollektiven Schrecksekunde von mehreren Monaten, inzwischen immerhin begriffen, dass wir überwacht werden, wir alle, Sie und ich und die deutsche Kanzlerin, ganz fürsorglich und unauffällig. Alle unsere Daten sind im Besitz von Konzernen und Geheimdiensten, es ist derzeit unklar, wer genau was über uns weiß, aber das Unheil liegt im nächsten Schritt: Man ist technisch nicht mehr weit davon entfernt, dass missbräuchlich alles mit allem verknüpft werden kann. Unsere Gesundheitsdaten, die bei der Krankenkasse hinterlegt sind, unsere Einkäufe, die per Strichcode erfasst und mit der Karte bezahlt worden sind, unsere Bewegungsprofile, da wir ja alle Handys und Navigationsgeräte besitzen, unsere Adressbücher, Telefonverbindungen, Kontobewegungen, die Inhalte unserer E-Mails. Sobald das alles miteinander verbunden werden kann – denn irgendwo gespeichert ist es längst – sind wir nackt. Denn zusammengerechnet ergeben diese Daten ein ziemlich genaues Abbild unseres Selbst: unserer Neigungen, Vorlieben, Gelüste, Geheimnisse.

Wir müssen das endlich verstehen: Wir sind zwar Menschen aus Fleisch und Blut, aber wir sind inzwischen alle auch Datenbündel. Die Daten, die über uns kursieren, können uns fast lückenlos beschreiben. Und diese Daten – und damit wir selbst – sind derzeit Freiwild; was unsere Daten betrifft, leben wir im Wilden Westen, wo es kein anderes Recht gibt als das des Stärkeren, der die besseren Programmierer und die größten Speicherkapazitäten hat.

Obwohl es zu seinen Lebzeiten noch kein Internet gab, scheint Heinrich Böll das alles vorausgesehen zu haben. Denn dieser Irrsinn, dem wir gerade entgegengehen, ist Ergebnis einer ganz bestimmten, giftigen Kombination von entfesseltem Kapitalismus (da sind die Konzerne, die unsere Daten sammeln, damit sie unser Konsumverhalten noch besser einschätzen können) und Sicherheitswahn (das sind die Geheimdienste, die unsere Daten sammeln nach der ziemlich verzweifelten Logik: wer den ganzen Heuhaufen nach Hause schleppt, hat irgendwo da drin auch die Terroristen-Nadel). Und der Sicherheitswahn wird von skrupellosen Medien genauso befördert wie zu Bölls Zeiten. Wir alle lassen uns ununterbrochen einreden, dass wir hochgefährdet sind, nicht durch Freizeitunfälle (was statistisch stimmen würde), nicht durch Autounfälle (was statistisch stimmen würde), sondern durch Terroristen. Und deshalb schauen wir gelähmt zu, wie demokratische Grundrechte, in Jahrhunderten erkämpft, Schritt für Schritt außer Kraft gesetzt werden: das Recht auf Privatsphäre, die Unschuldsvermutung, das Briefgeheimnis, das Recht auf einen fairen Prozess, das denen, die zum Beispiel in Guantánamo einsitzen, seit vielen Jahren verwehrt wird.

Aber das Interessante ist: Jetzt, wo die Grundfesten unserer westlichen Demokratien zum ersten Mal wirklich unterhöhlt werden, beginnen sich Schriftsteller wieder zu benehmen wie damals Heinrich Böll. Sie melden sich zu Wort, sie zeigen ihr Gesicht, sie gehen hinaus, machen Lärm und machen sich angreifbar. Das ist die einzige gute Nachricht: dass Bölls Erbe noch nicht ganz verloren scheint. Eine Schmerzgrenze scheint überschritten, bei den Menschen meines Berufsstandes, die ja nicht nur von Schriftlichem, von Briefen und Texten und Kommunikation leben, sondern die, um überhaupt Schriftsteller zu sein, vor allem „hochrechnen können müssen“, wie es Katja Lange-Müller einmal formuliert hat. Das ist, was wir täglich tun, wenn wir schreiben: Das, was ist, gedanklich in die Zukunft und in alle seine Spielarten hinein zu verlängern. Das Was-Wäre-Wenn ist unser Geschäft. Deshalb bin ich lieber eine aufgeregte Autorin als ein abgeklärter Nichtwähler.

Und deshalb waren es wohl, nicht nur in Deutschland, die Schriftsteller und Autoren, von denen die ersten Proteste kamen, als die Enthüllungen von Edward Snowden begannen, dieses ersten großen Helden unseres noch jungen Jahrhunderts. Als vor acht Wochen zwei Dutzend deutscher Dichter fast siebzigtausend Unterschriften von Bürgern, die unseren Protest und unsere Forderung nach Aufklärung unterstützten, persönlich zum Kanzleramt brachten und dort abgaben, haben wir uns wieder einmal rundum lächerlich gemacht, wie uns auf allen Kanälen umgehend bescheinigt wurde. „Hochmütig und peinlich“ sei das, sagte ein berühmter Schauspieler. Wo er das sagte? Natürlich in einer Talkshow. Nicht draußen im Regen.

Eine junge Lyrikerin namens Anke Bastrop hat im Anschluss daran einen hinreißenden Text geschrieben, aus dem ich Ihnen vorlesen will:
„Ich wollte mich dort hinstellen: in der ganzen stolzen Fragilität, dieser seltsamen Angreifbarkeit unseres Menschseins. Ohne sichernde Aufmärsche, Fanfaren und Megaphone. So, wie jeder Einzelne der Welt gegenübersteht. Mit Hochmut hat das wenig zu tun, mit Nacktheit viel. Ich wollte das: verletzbar sein. Es entspricht dem Stand des Wortes in der virtuellen Welt.“
Das ist, mit anderen Worten, die Saat von Heinrich Böll, die überwintert hat und wieder aufgehen wird. Was immer Sie tun, denken Sie an Bölls Worte: „Herr Oberst, wir gefährden die Demokratie nicht, wir machen Gebrauch von ihr“. Machen wir Gebrauch von unserer Demokratie. Damit aufzuhören, ist das Einzige, was verboten ist.


© Text: Eva Menasse, November 2013. Fotos: buch-messe.at; WDR-dpa; Kiepenheuer & Witsch.


Eva Menasse,*1970 in Wien. Nach dem Studium der Germanistik und Geschichte Arbeit als Redakteurin u.a. für das Wiener Nachrichtenmagazin Profil, das Feuilleton der FAZ. Ihre erste Buchveröffentlichung Der Holocaust vor Gericht erschien 2000 im Siedler-Verlag. Der Band versammelt ihre Reportagen über den im April 2000 in London abgeschlossenen Prozess um den Holocaust-Leugner David Irving. Ihr 2005 bei Kiepenheuer & Witsch erschienener erster Roman Vienna, eine wunderbar anekdotenreiche, an die eigene jüdisch-katholische Verwandtschaft angelehnte Familiensaga wurde ein Bestseller, mit Preisen ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Eva Menasse lebt und arbeitet seit 2003 als Journalistin und Schriftstellerin in Berlin.Sie ist mit dem Schriftsteller Michael Kumpfmüller verheiratet und die Halbschwester des Schriftstellers Robert Menasse.


Werke
(u.a. auch ins Englische, Französische, Italienische, Tschechische, Niederländische und Hebräische übersetzt)
Die letzte Märchenprinzessin (zusammen mit Elisabeth und Robert Menasse), 1997
Der mächtigste Mann (zusammen mit Elisabeth und Robert Menasse, Illustrator Rudi Klein), 1998
Der Holocaust vor Gericht. Der Prozess um David Irving, 2000
Vienna, 2005
Lässliche Todsünden, 2009
Wien. Küss die Hand, Moderne. Corso, Hamburg 2011, ISBN 978-3-86260-018-2 
Quasikristalle, Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013, ISBN 978-3-46204-3-0

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s. hier auch: Heinrich Böll; Michael Kumpfmüller 

Immerzu geben mir Leute den Rat, ich sollte mich beruhigen. Aber ich will mich nicht beruhigen. Beruhigung ist überschätzt.

Randy Newman, zum Siebzigsten; aus einem Gespräch mit Spiegel Online

 



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