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Andere Wege - Gesammelte Gedichte
Das lyrische Gesamtwerk von H.G. Adler
von Katja Schickel

 

Der 1910 in Prag geborene, 1988 in London gestorbene Autor, der Theresienstadt, Auschwitz und Nebenlager von Buchenwald überlebt hat - und als einer der letzten Vertreter der Prager Deutschen Literatur gilt, hat im Laufe von sechzig Jahren ein umfangreiches lyrisches Werk geschaffen, das allerdings einem breiteren Publikum bisher vorenthalten blieb. Der Kärntner Drava Verlag und die beiden Herausgeber Katrin Kohl und Franz Hocheneder machen zweiundzwanzig Jahre nach seinem Tod erstmals den unbekanntesten Bereich seiner Literatur, sein - aus ca. 1.200 Gedichten bestehendes - lyrisches Vermächtnis, zugänglich.

Der Band hat neun Kapitel und beginnt chronologisch mit Gedichten aus der Jugendzeit (1927–1932), in denen HG Adler Orte, Landschaften und Jahreszeiten beschreibt, der Tonfall ist melancholisch-verhalten: Ganz leise träumt der Böhmerwald heißt es im Sommerspiel 1930 und in Gebirge im Winter 1928: In Sonne träumt das Wintergebirge. In sieben Zyklen folgen dann die frühen Gedichte von 1934–1940. Sie behandeln die kaum wahrnehmbaren Veränderungen in Alltagssituationen nach der so genannten Machtergreifung Hitlers in Berlin, wo sich Adler zeitweilig aufhielt, und seiner Heimatstadt Prag, das Verhalten von Menschen, die gerade Opfer und Täter werden, die Anmaßung und den Dünkel, den Fatalismus und die Hilflosigkeit.

Das dritte Kapitel stellt Gedichte aus der Lagerzeit zwischen 1942–1945 vor: Schutt und Bruch zerstampfen das Leben/Mit klaffenden Kerben bestrickter Gewalt;/Wandernd möchte das Herz hier entschweben,/Doch haftet die Seele, von Klammern umkrallt.

Seiner Frau Gertrud, (die Ärztin Gertrud Klepetar, die mit ihrer Mutter in Auschwitz ermordet wird), die er Geraldine nennt, widmet er den Zyklus Zuversicht: Allein die Liebe baut sich Brücken,/Besiegt der Einsamkeiten Angst und Qual.

Und:

Fern sein, so nahe im gleichen Gezelt/Und dennoch gebannt in trennender Kälte;/ Geliebte, traure drum nicht und lächle/Dem Morgen vertrauend entgegen!

Aber im Gedichtzyklus Theresienstädter Bilderbogen 1942 herrscht pure Gewalt. HG Adler verzichtet auf die Beschreibung der Gewalttäter; der allgegenwärtige Terror, die Feindseligkeit, Furcht und Angst sind - als Kern aller Lagererfahrung - in jeder Zeile fixiert:

Gebranntes Leid stockt in der Totenmühle,/Geduckte Leiber dünsten, grell verwühlter Wust/Verquert sich feucht verschmiert in schlimmer Kühle,/Von Feuer schwelend staubig überrußt,// Und irres Kreischen, wahnzerschlißnes Treiben/Zerritzt den scharf gefleckten Tag, in Stück und Bruch/Verkrümeln Hände klamm vor Gitterscheiben,/Und Hunger knistert in ein Tränentuch (aus: Die Totenmühle).

Schon der Transport (in verstörter Landschaft), die Ankunft (Auf dem Bahnhof) verweist auf den allumfassenden Schrecken:

Das Menschenvieh wird ausgeladen,/ Unglimplich schauert ihm und frostig,/schrille Geräusche in Schwaden,/Eisnebel schlitzen Gedärme rostig.
In dem Essay Dichtung in der Gefangenschaft als inneres Exil beschreibt HG Adler das Schreiben von Lyrik als eine Überlebensstrategie, „um sich von der widrigen Gegenwart zu distanzieren und durch Hingabe an zeitlose Werte (s)eine Menschenwürde zu behaupten.“ Er kann die sich selbst auferlegte und ihn bewusst disziplinierende Funktion jedoch nicht erfüllen: „Drei Jahre später [...] hatte ich den Standpunkt des objektiven Beobachters öfter verlassen. Ich wünschte, Zuständliches zu begreifen und Dichtung als Botschaft zu fassen.“ Auch im Roman Panorama fehlt ein sinnlich fühlendes Ich. Es ist ja buchstäblich längst von allen Sinnen. Der Erzähler beobachtet - fast kalt, distanziert und präzise, so wie es sich für einen potentiellen Zeugen gehört. Innere Anteilnahme darf vor allem nie in die Außenwelt geraten. Die Intensität des unmittelbaren Geschehens aber vermittelt sich sofort beim Lesen: das Grauen, der Schrecken, die Brutalität in der aufgezwungenen Routine von Leben, Sterben und Tod. Vermutlich hätte HG Adler nicht überleben können, wenn er sich selbst, seine Familie, Freunde und Mithäftlinge zum emotionalen Zentrum seiner Gedichte gemacht hätte. Es wäre im wahrsten Sinne des Wortes unerträglich, nicht zu (er-)tragen gewesen.
Die Gedichte aus der Nachkriegszeit (1945–1946) sind - ohne es freilich zu wissen - doch eine unausgesprochene Entgegnung auf Adornos späteres Verdikt, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben: Für Adler sind sie
Überlebensmittel, Festhalten an einem für ihn lebensnotwendigen Kontinuum, sein schwierigsten Bedingungen abgerungenes Schreiben. Gegen das menschlich Unverlässliche, eine aus den Fugen geratene Welt, ein Leben in extremen Zeiten setzt Adler seine Gedicht-Zyklen, die Orientierung und „sprachmündige Antworten“ geben, „Hüter der Schwelle“ sein sollen. Er sucht Zeichen und verfolgt die Spuren, die sie hinterlassen. Sein Leben ist verwoben mit Gedichten, sie sind Schutz und Konfrontation.

In Theresienstadt übergibt er dem ebenfalls inhaftierten Rabbiner Leo Baeck eine Aktentasche voller Gedichte und Notizen, kurz bevor er nach Auschwitz deportiert wird. Nach der Befreiung erhält er sie von Baeck zurück.Wie schon in seinen Romanen Die Reise, Panorama, Hausordnung und Die unsichtbare Wand macht er sich wenig Illusionen, sondern zweifelt eher an der Wirkung seines Schreibens:

Nun ist es überwunden - und was ist geschehen?/Nichts. Die Krankheit sickert garstig durch das Blut./Nichts ist geschehen. Nichts. Des Bösen schwarze Brut/Verwirkt nur Zeit.

Ein Gedicht trägt den Titel: Der letzte Ruf verschreit.   

Nach seiner Rückkehr schreibt er Ende 1945 in Prag das Gedicht In diesen bleiernen Betrübnissen:

In diesen bleiernen Betrübnissen,/Von Angst der Welt zermartert, Angst der andren -/Eigener Angst - und müde, schäumend müde./Und früher Abend. Schneelos wird die Mitternacht,/Nicht kalt, nur kühl, so sterbenskühl.

Er hatte jedoch bereits seine spätere Frau Bettina Gross, eine tschechoslowakische Künstlerin, kennen gelernt und schrieb An Bettina: Der Weg ist sanft, und jeder Schritt bewußt/Im Traume noch. Ganz anders in der Welt/Er sprießt Gesang. Hier auf dem Weg keimt Lust,/Viel Spuren leuchten auf vertrautem Feld./Vertraut steigt sichtbar aus dem Schimmerblust/Die Zukunft aufgeweckt, verheißend hält/Sie treue Wacht. "Nimm hin!" Frei wird die Brust/Im Sommerregen, froh ihm zugesellt.

Und:

So/Bist du gemeint: mein: Flut, Auge, Zeit/Ferner zu münden, unzerteilbarer Weg/Bis daher, dein dahin, du bist gemeint.

Viele Gedichte handeln vom Gedächtnis. In Steinerner Gast heißt es:

Scharf hinzuhören in die Muschel des Gedächtnisses... Mut. Uferlose Trauer/Schürft uns die Hitze vom Grund, der/Atem ist den Waisen ergraut und sie/Schreien den Vater, der kommt nicht/Hervor.

 

Adlers Gedichte sind stark rhythmisiert und appellieren immer auch an das Gehör. Selbst wenn die Form sich kaum ändert, sind es Nuancen im Ton, unmerkliche Variationen im Wortgefüge, die für Irrtation sorgen:

Neben sich hingestellt, Aufblick unversehens,/Plötzlicher Sturz in den Wirbel./Verüble es deinem Nächsten nicht, daß er/Zermürbt von dir nichts weiß und ein leeres/Erinnern gerndunkel über dich hin verbreitet.

Gedichte aus England, von seiner Emigration 1947 bis knapp vor seinem Tod 1988, sind in den Kapiteln Fünf bis Neun versammelt und machen etwa zwei Drittel der Werkausgabe aus. Adler hält sich weiter an lyrische Traditionen; seine Sprache ist bildhaft und vieldeutig; oftmals benutzt er die Form des Sonetts. Erst später bedient er sich auch freierer Formen bis hin zu Gedichten epischer Poetik, in die Alltagserfahrungen, Episoden und Beobachtungen eingebettet sind.

Zeichen der Zeit,  ein zwischen 1952 und 1969 entstandener Gedichtzyklus, ist seinem ältesten Freund aus Kindertagen, dem Wissenschaftler und Dichter Franz Baermann Steiner gewidmet. Adler schreibt über Musik, Kunst und Zeitgeschehen - 1974 über den Krieg in Schrecken des Krieges, über die Deutschen und ihre Vergangenheit in Auf grüner Heid und Die Heiligen des sanften Gewissens:

Sommer hat nacktlange Beine über/Die Mauer gehängt, Knaben/Pfeifen, spucken Grüße ins Gras/
Und scharren den Sand weg./Hände schütteln Verständnis/Heftig zu, in Büscheln Gesichter/ Erröten bis über die Schleifen,/Blume im Knopfloch grell, jeder/Schritt eine Dame//Auf grüner Heid, ahmt schneidig/Verstellung nach, probt/Windlederne Gewißheit, fädelt/Mit Nägeln empfindliche Nähte.

 

Bereits in dem Roman Die unsichtbare Wand schreibt Adler perspektivisch über den Umgang mit der NS-Vergangenheit. An seiner brillanten Studie über Theresienstadt - Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft ist man nicht herum gekommen. (mittlerweile sind alle seine historiographischen Bücher über die Konzentrationslager und gesellschaftliche Strukturen, die zu ihnen führen und sie abbilden, längst Standardwerke der Forschung). Sein Manuskript zu Der verwaltete Mensch jedoch wird 1962 vom Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) als ein "sehr persönlich gefärbtes Produkt", also zu subjektiv, ergo unwissenschaftlich - relativ brüsk - abgelehnt. Man hegt und pflegt Vorbehalte gegen Historiker jüdischer Herkunft. Der Wissenschaftsbetrieb will immer noch gerne judenfrei bleiben. Eine Analyse des Nationalsozialismus durch jüdische Wissenschaftler steht im Verdacht der Einseitigkeit; die Vernichtung der Juden (man nennt es seinerzeit allerdings weder Vernichtung noch Holocaust noch Shoah) soll sachlich und in deutscher Hand bleiben: den immanenten Widerspruch dieses Ansinnens sieht man gar nicht. Die Rezeption des Schriftstellers, Dichters und Wissenschaftlers HG Adler wird in Deutschland lange Zeit verhindert: durch eine Reihe vermutlich konkurrenter Wissenschaftler-Kollegen, durch allzu ängstliche Verleger und durch ein Publikum, das lieber Schlussstriche ziehen will.

HG Adlers Themen sind Gewalt, Anklage und Trauer. Seine Lyrik ist geprägt durch das „Erlebnis von Verfolgung und moralischer Anfechtung, Gefangenschaft und Mord“, schreibt Katrin Kohl in ihrem Nachwort zu diesem außergewöhnlichen Band, der genau so, wie HG Adler ihn zusammengestellt und zum Druck vorgesehen hat, nun vorliegt. Er enthält eine eindringliche Würdigung der Lyrik des Dichters von Michael Krüger (Hanser Verlag) und ein sehr informatives Nachwort sowie Zeittafel, Register und alle notwendigen editorischen Anmerkungen. Krüger weist auf die Form dieses einzigartigen Werkes hin, einem, will ihm scheinen, „dunklen, erratischen Block […], der die Brutalitäten des 20. Jahrhunderts […] in sich verkapselt hat.“ Es ist sein Formwille, der die Inhalte fest hält, sie umschließt und gegen die alltägliche Inhumanität, die sie behandeln, verteidigt. Auch wenn er überkommene Formen verwendet, ist es häufig der Inhalt, der sie eigentümlich verändert, sie zu Versatzstücken macht, aus denen etwas Neues entsteht. Adler erschafft keine neue Sprache, weil die alte desavouiert ist, er braucht sprachliche Zusammenhänge und Verlässlichkeiten, prüft jedes Wort auf seinen Mitteilungsgehalt; hinterfragt jede Metapher, jede vorgegebene Floskel, benutzt Volten, kleine Abweichungungen vom Erwarteten. Er glaubt an die Aussagekraft der Worte. Er möchte sie in ihrer Ganzheit und Vielheit verstehen lernen. Wer glaubt, alles verstanden zu haben, weil er die Worte kennt, wird bemerken, wie viel Widerstandskraft die einzelnen Verse haben, wie sich die Syntax gegen eindimensionale Erkenntnis sperrt. Zwischen den Zeilen lesen und zwischen den Worten heißt die Herausforderung.

Der größte, jetzt vorgestellte Teil der Gedichte ist nach 1945 und vor allem in England entstanden. Das Verhältnis zu Deutschland war – von beiden Seiten – von Distanz geprägt, deren Gründe allerdings sehr unterschiedlich sind. HG Adler schreibt in all den Jahren weiter wissenschaftliche Bücher, Essays und Prosa – und er korrespondiert mit allen Großen der deutschsprachigen Nachkriegs-Lyrik: Im Nachwort werden Michael Hamburger, Erich Fried, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Helmut Heissenbüttel, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker genannt. Anlässlich seines 100. Geburtstages am 2. Juli 2010 gab es Würdigungen in vielen Medien und Tagungen in Marbach, München und in Prag. Die Übersetzungen seines literarischen Œuvres in viele Sprachen, die Neuauflagen seiner Romane in deutscher Sprache zeigen das Interesse am Werk H. G. Adlers. Dem risikofreudigen Drava-Verlag sind viele Leserinnen und Leser zu wünschen.


Einige Lebensstationen H.G. Adlers: 1930-35 Studium der Musik-, Kunst- und Literaturwissenschaften sowie Pholosophie und Psycholgie in Prag. 1935 Promotion. danach Lehrer. Ab 1941 Internierung und Zwangsarbeit, 1942 Deportation in verschiedene Konzentrationslager. Er nennt sich nach seiner Befreiung nur noch H.G. Adler um der Namensähnlichkeit mit dem Obersturmbannführer Hans Günter zu entgehen.
1947 Geburt des Sohnes Jeremy Adler.

 


Wichtige Auszeichnungen/Ehrungen/Preise: Leo Baeck-Preis (1958). Charles Veillon-Preis, Lausanne (1969). Buber-Rosenzweig-Medaille, Berlin (1974). Ehrendoktor der PH West-Berlins (1980). Bundesverdienstkreuz (1985). Österreichisches Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst (1985). Mitglied des P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland und seit 1979 Korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.

Einige Veröffentlichungen: Theresienstadt 1941-45, Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft (1955/2005, Wallstein-Verlag). Die Juden in Deutschland, Von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus (1960). Unser Georg und andere Geschichten (1961). Eine Reise, Roman (1962/1999, Zsolnay Verlag). Panorama, Roman (1962). Ereignisse, Erzählungen und Novellen (1969). Fenster, sechs Gedichte (1974). Viele Jahreszeiten, Gedichte (1975). Spuren und Pfeiler, Gedichte (1978). Transsubstantations, Gedichte (1978). Zeiten auf der Spur, Gedichte (1978). Blicke, Gedichte 1947-51 (1979). Stimme und Zuruf, Gedichte (1980, Knaus). Die unsichtbare Wand, Roman (1989, Zsolnay). Der Wahrheit verpflichtet, Interviews, Gedichte, Essays (1998, hrsg. von Jeremy Adler). Andere Wege, Gesammelte Gedichte (2010, Drava, hrsg. von Franz Hocheneder und Katrin Kohl).Sekundärliteratur: Franz Hocheneder, H.G.Adler. Privatgelehrter und freier Schriftsteller, Eine Monographie (2009, Böhlau Verlag).


H.G. Adler, Alle Wege - Drava Verlag, Klagenfurt 2010, geb., 980 Seiten,
49,80 EUR, ISBN 3854356250,
www.drava.at

© Fotos: privat, nzz-bilderdienst, Drava Verlag

 

(s. hier auch: HG Adler – Romane; H. G. Adler)
 

 

 

 

 

 

 

 



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