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Die Intitiative behalten

Ein Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger

von Katja Schickel


Was hat Sie am Prague Writers´ Festival hauptsächlich interessiert: Das Thema, die Stadt, die Begegnung mit anderen SchriftstellerInnen?

Ich war ja schon öfter in Prag, und Prag ist sicher ein Ort, an den man zurückkehren muss, um zu erfahren, was sich getan hat. Ich war Anfang der 50er Jahre das erste Mal hier, das war damals eine vollkommen andere Stadt. So muss man halt immer mal wieder nachsehen, alle fünf Jahre: wie ist die Stimmung, wie sieht die Stadt aus. Es gibt ja Kriterien, an denen man das feststellen kann, z.B. Zebrastreifen – funktionieren die. Das war früher undenkbar. Wer ein Auto hatte, ist durchgebraust. Der Fußgänger wurde gejagt. Das sind alles so kleine Zivilisationsfortschritte.

Was ist Ihnen sonst aufgefallen?

Es geht halt weiter, wobei die äußerlichen Veränderungen stärker sind als die in der Mentalität, das geht für gewöhnlich eben sehr viel langsamer. Das ist auch ganz normal, als Deutscher weiß ich das: jedes Jahr Diktatur muss bezahlt werden. In Ostdeutschland hatten sie zwölf plus vierzig Jahre Diktatur, hier sechs plus vierzig, also sechsundvierzig Jahre Diktatur. In den Köpfen bringt das Beschädigungen mit sich, und es dauert lange, bis sich die abbauen. Aber auch da gibt es Fortschritte. Ich denke, die muss man eben beobachten.

Welche Fortschritte sehen Sie?

Die kollektiven Neurosen, die demagogischen Geschichten, die Projektionen, dass an allem, was hier passiert ist, was nicht gut ist, immer Andere schuld sind. Das baut sich langsam ab.

Durch die nachfolgenden Generationen...

Ja, natürlich, außerdem kann man heutzutage einfach nicht mehr sagen: an allem sind die Russen schuld, die Deutschen oder die Habsburger oder ich weiß nicht was, sondern man muss die Sache selbst in die Hand nehmen. Die ökonomischen Prioritäten haben sich am meisten geändert, das geht immer am schnellsten. Was im Hinterkopf noch alles ist, das dauert eben länger.

Dieses Jahr hieß das Thema: Heresy and Rebellion, Ketzerei und Rebellion. Was hat Sie daran interessiert?

Das hat mich gar nicht interessiert. Ich finde das eine etwas pathetische Formulierung. Darüber kann man eher in anderen Gesellschaften sprechen.

Aber da kann man es vielleicht nicht....

Ja natürlich, aber hier ist es doch ziemlich ungefährlich. Ich bekomme keine Morddrohungen, wenn ich irgendetwas sage. Das ist im Iran anders, auch in anderen Gegenden der Welt. Deshalb finde ich, man sollte das Pathos reduzieren.

Es sind ja unterschiedliche Autoren eingeladen worden, die aus anderen Ländern und Kulturen kommen und die andere Erfahrungen haben. Außerdem ist die Situation in Deutschland oder auch in Tschechien zeitlich gesehen nicht so weit weg von aktuellen, anderswo stattfindenden Auseinandersetzungen.

Das stimmt schon, aber die Frage ist eine der Selbstdarstellung. Wenn man sich hier aufführt, als wäre man ein Jan Hus, dann ist das etwas übertrieben. Man muss die Proportionen sehen. Außerdem bin ich nicht einverstanden mit dieser eingebildeten Rolle der Schriftsteller, dass die irgendwie moralisch erhaben sind, über anderen stehen - als Stellvertreter der Menschheit. Alle diese großen Worte stören mich. Das heißt ja nicht, dass man sich nicht bewegt, auch politisch, ich habe das immer getan, aber ich möchte nicht diese Pappmaché-Statue sein. Die gefällt mir nicht.

Man könnte einwenden, dass man gerade Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die sich in gewisser Weise mit der Gesellschaft, in der sie leben, beschäftigen, zutraut, einen besonderen Blick zu haben und sie deshalb fragt...

Stimmt doch gar nicht, es gibt welche, die sich überhaupt nicht darum kümmern. Da schreibt einer über Bäume...

Mittlerweile auch ein relevantes Thema...

Ja, aber wie gesagt, das hat es immer gegeben. Einer schreibt Liebesgeschichten, ein anderer Krimis, was sollten die für eine 'Rolle' haben. Mir gefällt auch diese 'Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft' nicht. Sie sollen schreiben. Das ist ein Kongress-Thema, meistens ist das doch Blabla. Ich bin da überhaupt nicht begeistert. Wenn Sie mich über Metrik fragen, bin ich der Experte. Wenn Sie mich über die Verhältnisse in Tadschikistan fragen, bin ich ein Ignorant.

Es geht ja hauptsächlich um die Rolle im eigenen Land.

Ja aber die Rolle, die Rolle, die Rolle. Ich will keine Rolle spielen, ich bin nicht der Rollentyp. Und dann fragen alle, was man machen soll. Sie sollen hier protestieren, wenn sie es für richtig halten. Aber ich höre da gar nicht mehr hin. Wer ist das denn, der mich da immer fragt: Journalisten, das ist deren Rolle! Dann sollen sie bei sich selbst anfangen.

Auf den Podien gab es aber unterschiedliche Positionen...

Allerdings! Ich meine, die haben doch alle meinen Segen. Wenn jemand seine Hauptaufgabe darin sieht, Resolutionen zu unterschreiben, dann hat er meinen Segen. Aber ich sehe meine Aufgabe nicht darin. Außerdem sind solche Resolutionen immer schon vorformuliert, jemand anderes hat sie verfasst, ein Verband, eine Gruppe – und dann soll ich das unterschreiben? Als wäre ich nicht in der Lage, mich selbst auszudrücken. Ich brauche also immer diese Krücke, von jemand, der vorschreibt, was man unterschreiben soll? Nein, nicht mit mir.

Das war ja ziemlich deutlich.

Na ja sicher.

Ich fand diese Überrumplung auch nicht in Ordnung, ohne vorherige Diskussion mit den anderen Autoren eine Resolution unterschreiben zu sollen. (Bahaa Taher, s. Interview wollte eine Resolution aller Beteiligter des Festivals gegen den Angriff israelischer Einheiten auf die Gaza Free-Schiffe, KS)

Das ist intellektuelles kidnapping. Aber auch das ist ja nicht wirklich wichtig. Das ist ein Podiumsgespräch, das keinerlei Folgen hat. Wenn man das Bedürfnis hat, jemandem zu helfen, ob das eine Person ist, eine Gruppe, ein Land, dann soll man das diskret tun, es machen und den Mund halten. Wenn jemand Geld gibt, das gehört nicht in die Zeitung. Stillschweigen. Das ist sauberer und hygienischer und hat nicht diesen Beigeschmack.

Interessant fand ich bei der Vorstellung Ihrer Person, dass immer rekurriert wird auf Ihren Status als 'Alt-68er'. Das wird immer erwähnt, im Ausland, aber auch in Deutschland. Selbst wenn Sie beschrieben werden als abtrünnig, gar als Verräter, ist das immer ein Fixpunkt.

Das hat einen ganz einfachen Grund: Die Journalisten interessieren sich nicht für Literatur, sie interessieren sich für Politik. Wenn ein Schriftsteller interviewt wird, werden immer politische Fragen gestellt, als wäre das sein Beruf. Aber mein Beruf ist das nicht. Man braucht nur die Zeitung zu lesen, was ist heute los, und dann hat er einen Schriftsteller vor sich und fragt: Was denken Sie denn darüber? Das ist viel einfacher, denn sonst müsste er z. B. etwas lesen. Journalisten lesen ja gar nicht gerne. Wenn man aber mit einem Schriftsteller spricht, müsste man wissen, mit wem man spricht und was er macht. Aber das ist zu schwierig, kostet Zeit. Es ist viel einfacher zu fragen: Was halten Sie vom Bundespräsidenten?

Das finde ich auch vollkommen uninteressant. In vielen Ihrer Gedichte thematisieren Sie eine Art Verweigerungshaltung...

Sie können doch nicht aus einem literarischen Text isolierend eine Meinung herausziehen - aber diese Ihre Meinung ist doch vollkommen uninteressant. Meinungen gibt es wie Sand am Meer. Der Mann da draußen, der auf das Taxi wartet, besteht auch auf seiner Meinung.

Es geht auch nicht um 'Meinung' , Tucholsky hat die schon beschrieben: Wenn am Nordpol die Eisberge schmelzen, steigen die Butterpreise (heutzutage könnte das sogar ein Faktum werden, wer weiß!? KS), aber es gibt doch eine eigene Positionierung, vielleicht auch Engagement...

Da haben wir es wieder: Engagement! Wir hören das seit fünfzig Jahren, nur Schlagworte, angefangen mit Sartre, diese ganzen alten Nummern, es ist banal. Das sind alles Banalitäten.

Aber Sie haben doch auch Schlagworte: Sie nennen sich 'teilnehmender Beobachter' oder 'Connaisseur', einen Begriff, den ich in diesem Zusammenhang hier zum ersten Mal gehört habe...

Ein teilnehmender Beobachter muss investieren, wenn es einen Sinn haben soll, was er zu sagen hat. Wenn ich über Tadschikistan sprechen soll, dann muss ich es kennen, ich muss mich damit beschäftigen. Wenn ich das nicht tue, ist alles Quatsch. Wenn ich mich mit Mathematik beschäftige, das ist eine Art Investition, verstehen Sie. Ein Journalist kann sich das natürlich gar nicht leisten, weil er heute über das schreiben soll und morgen über etwas anderes. Ich werfe das den Journalisten gar nicht vor. Sie sind gebunden an die Aktualität, es muss aktuell und schnell sein. Es ist ein Luxus für einen Journalisten, und es gibt große Journalisten, die wissen, wovon sie reden. Mein Freund Kapuczynski, der war überall, der ist auch ein Zeuge. Aber jemand, der hier sitzt und Zeitung liest, das ist doch eh Wurscht, was der schreibt.

Aber Kritik kommt ja nicht hauptsächlich von Journalisten, sondern von anderen Autoren, von alten Weggefährten...

Ich bitte Sie, meinen Segen haben die. Ich bin da wie der Papst: Meinen Segen haben sie alle – bene dicite! Wer nur über Vögel schreiben will, den will ich nicht auf andere Wege bringen. Der ist so, wie er ist. Sie können von Rilke nicht verlangen, dass er über Finanzmarktmärkte schreibt...

Immerhin war er auch im Gepäck der Soldaten des 1. Weltkriegs, außerdem lebt er nicht mehr...

Ja, aber es war nicht sein Ding, also lassen wir ihn in Ruhe sein Ding machen. Immer wenn jemand etwas macht, wird er gefragt: Warum sagst du nichts dazu und dazu. Nein, nein!

Das ist diese Art von Schubladisierung, und dazu gibt es ja von Karl Kraus diesen wunderbaren Satz, den ich gerne zitiere: Den Nagel abgeschossen und den Vogel auf den Kopf getroffen. Er wendet sich gegen diese Einordnungen - und das beispielsweise ist in Prag im historischen Rückblick immer wichtig: ist es tschechisch, deutsch, jüdisch, österreichisch, k. u. k.?

Ja, aber das ist alles nicht besonders interessant.

Ist es auch nicht, denn obwohl dieser Mechanismus die Einordnung erleichtern soll, erschwert es im Grunde den Zugang.

Natürlich!

Man erträgt die Unterschiede nicht, aber auch die Gleichheiten nicht.

Das sind alles Mentalitätsfragen, und ich denke, man muss sie mit unglaublicher Geduld sehen. Lernprozesse sind langsam. Wenn ich Tscheche wäre, würde ich mich über manche Sachen wahnsinnig aufregen, aber ich bin eben nicht der Stellvertreter. Das müssen die selber machen.

Das ist ein Problem, dass es Leute gibt, die meinen, sie wüssten Bescheid und müssten anderswo eingreifen, sie fühlen sich berufen, politische Handlungsanweisungen zu geben.

Aber das wird doch nicht akzeptiert. So viel verstehe ich schon z. B. von der tschechischen Befindlichkeit: jeder Druck von außen ist kontraproduktiv. Sie müssen sehen, wie sie zurechtkommen mit ihren Problemen. Das ist ganz klar!

Da gibt es noch ein paar Leichen im Keller, worauf z. B. Radka Denemarková aufmerksam gemacht hat, die auch auf dem Festival ist...

Natürlich bin ich ungeduldig. Ich kann nicht mehr dreißig Jahre warten, bis der Groschen fällt. Aber das sind auch Fragen des Temperaments, das vergessen die Leute immer. Da gibt es diese Idylliker, den Naturdichter, den religiösen Menschen, den nur der liebe Gott interessiert, nicht der Ministerpräsident. Lasst sie doch in Ruhe, anstatt ihnen ständig sagen zu wollen, was sie zu machen haben. Sorry, ich verstehe das gar nicht.

Schwierig wird es immer dann, wenn man das Gefühl hat, man hat recht, und möchte, dass andere das auch so sehen und akzeptieren. Es ist schwierig, es einfach gleichwertig nebeneinander stehen zu lassen.Allerdings gibt es auch Positionen, die man einfach falsch findet und gegen die man etwas unternehmen muss.

Gut, aber das ist ja hier nicht verboten. Das kann ich doch alles sagen, aber ich kann doch nicht sagen, wie jemand denken soll. Das ist vollkommener Quatsch! Das geht nicht, und es ist auch nicht nötig. Ich widerspreche nie einem Kritiker. Er kann über meine Sachen schreiben, was er will. Ich reagiere nie.

Tangiert es Sie? Ärgern Sie sich auch manchmal?

Natürlich. Aber wie Mao schon sagte: Es kommt darauf an, die Initiative zu behalten. Das heißt, du sollst nicht auf die anderen reagieren, sondern die anderen sollen auf dich reagieren! Das ist strategisch günstiger.

Und das haben Sie auf jeden Fall immer im Hinterkopf als sozusagen dialektisches Prinzip?

Ja, ich versuche, mich zumindest so weit wie möglich daran zu halten.

Sie sind natürlich auch in einer guten Position, haben die Mittel, ein freier Geist, frei beweglich in der Welt...

Das sagen Sie so. Das war doch nicht immer so. Ich war doch auch ein Nobody, hatte kein Geld und gar nichts. Nein, nein. Es hat aber etwas für sich, wenn man sich daran erinnert. Man darf nicht auf sich selbst hereinfallen.

Anlässlich Ihres 80. Geburtstags brachte die Filmedition Suhrkamp 2009 Porträts und Interviews unter dem Titel: Ich bin keiner von uns heraus. Sie reklamieren darin die Diskontinuität menschlichen Lebens, ein Nicht-Ich. Ich habe einen Film-Ausschnitt gesehen, da rollen Sie als, darf man ja sagen, alter Mann, aber sehr vergnügt, eine Wiese hinunter, und das erinnert sofort an ein kindliches Tun, weil man das selber auch gerne gemacht hat und/oder bei Kindern beobachtet hat, dieses vergnügliche, lachende Wiederholen bis zum geht nicht mehr, diese Filmsequenz spricht also eigentlich von Kontinuität. In diesem Zusammenhang hat die proklamierte Diskontinuität etwas Affirmatives: Das ist doch – kommt mir vor - das globale Projekt, was zumindest die abendländische Tradition betrifft: kein widerständiges Ich mehr herausbilden zu sollen, es aufzulösen, flexibel zu sein und formbar, jederzeit verfügbar also....

Nun ja, was ist das mit dem Ich? Ist das eine narzisstische Instanz, ist es eine Anima, eine Psyche, ein Ego – das sind doch ganz verschiedene Sachen.

Das sind unterschiedliche Interpretationen...

Nein, wir haben einen ganzen Blumenstrauß von Ichs.

Wenn man zu viele hat, ist man vielleicht schizophren, wenn man keins mehr hat, also ohne Erinnerung und Gedächtnis ist, ist man dement...

Ja, es gibt Ich-schwache Leute, die sind sehr problematisch, weil es schwierig ist, mit ihnen umzugehen. So jemand ist auch für die anderen ein bisschen lästig. Solche Leute muss man immer beruhigen: Es gibt dich, du existierst wirklich, muss man ihnen sagen, und trotzdem haben sie Zweifel, aber damit kenne ich mich gar nicht aus. Gleichzeitig gibt es mittlerweile viele Leute, die unbedingt therapiert werden wollen, und das ist reiner Luxus. Eigentlich müsste man sagen: Geh nach Hause mit deinen zwergartigen Problemen. Du nimmst dich zu wichtig. Das ist kein homogenes Ding: dieses Ich.

Das behaupte ich auch nicht. Es gibt Menschen, die glauben, Leben wäre eine gradlinige Entwicklung, eine Stufenleiter, und es ginge immerzu nur aufwärts, deshalb gibt es z. B. die steigende Suchtproblematik in allen unseren Gesellschaften, weil in solch einer Gefühls-Landschaft Höhen und Tiefen überhaupt nicht mehr vorkommen dürfen, niemand darauf vorbereitet zu sein scheint. Das Leben aber mäandert, ist eher labyrinthisch, mit Ab- und Umwegen, Kreuzungen und Querverbindungen, auch Rückschritten und Scheitern...

Ja, es geht immer auch um ein Gedächtnis, d. h. die Sachen verschwinden ja nicht so ohne weiteres.

Wir tragen zu jeder Zeit alle unsere verschiedenen Alter und Erfahrungen in uns.

Ja, wir haben die Erinnerung, auch Erinnerungen, an die wir uns gar nicht erinnern. Insofern ist schon eine Art Kontinuität vorhanden. Das will ich gar nicht bestreiten. Aber zugleich gibt es diese Wandlungen: ein Vierjähriger ist zwar die gleiche Person wie der 75-Jährige, aber dazwischen ist soviel passiert. Also er funktioniert nicht auf die gleiche Weise, wenn man auch sagen muss, dass ich die Allmachtsfantasie eines Säuglings durchaus wiederfinde in der Allmachtsfantasie eine Großkünstlers, in seinem Größenwahn. Da gibt es schon Ähnlichkeiten, aber es ist trotzdem nicht dasselbe, weil der Großkünstler seine Miete bezahlen muss, nicht besoffen Auto fahren darf, Probleme, die das Kleinkind nicht hat.

Die zugrunde liegenden Strukturen sind vermutlich ähnlich, wie man mit ihnen umgeht ist unterschiedlich ...

Für einen Schriftsteller ist das nicht uninteressant. Mich interessiert schon mehr, die Dinge von dieser Warte aus zu betrachten und nicht wie ein Biograph oder Autobiograph. Der Schriftsteller erfindet eine Geschichte, die er erzählen will; autobiographisches Schreiben interessiert mich nicht so: Ich kenne mich doch schon. Interessanter ist es, über jemand anderen, den man nicht bzw. noch nicht kennt, zu schreiben.

Arbeiten Sie denn – nach Hammerstein – an so einem Projekt?

Nein, ich habe aber auch schon früher biographisch geschrieben. Das ist immer wieder interessant. Dichter ist ja kein Fulltime-Job, acht Stunden Gedichte schreiben, das wäre ja Blödsinn. Das geht gar nicht. Man muss sich zwischendrin mit anderen Dingen amüsieren.

Aber haben Sie sich einmal überlegt, wie viele Kongresse, Konferenzen, Gespräche stattgefunden haben über die Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft!? Über die Rolle des Flickschusters, der lange Zeit sehr wichtig war, gibt es keinen Kongress. Wenn eine Gesellschaft nicht reich ist, muss die Kleidung repariert werden, solche Leute sind also bedeutsam, aber Kongresse darüber finden nicht statt.

Gut, da kommt man schnell auf Brechts Frage: Wer baute das siebentorige Theben?, die sog. kleinen Leute, Männer, aber vor allem die Frauen, kommen in dieser Art Geschichtsschreibung gar nicht vor.

Das heißt, es ist eine ungeheure Eitelkeit im Spiel

Sich bedeutender zu machen, als man eigentlich ist...

Ja, ja, und mir missfällt das eben sehr.

Bei diesem Festival gab es schon verschiedene Positionen: Schriftsteller, die Partei ergreifen sollen und wollen auf der einen Seite, auf der anderen die Maxime, dass es Schwarz-weiß nicht gäbe, sondern nur viele Grautöne, und man sich nicht instrumentalisieren lassen wolle. Aber man ist doch immer auch ein politischer Mensch, jenseits von Ideologien...

Ach, wissen Sie, ich bin von einer gusseisernen Toleranz, ist mir egal, jeder soll machen, wie er will, ärgert mich auch gar nicht. Wenn jemand auf mich los gehen und mir erklären will, was es bedeutet, ein Schriftsteller zu sein, dann sage ich: Stopp, sprich für dich selbst!

Das sollte man immer und bei allem. Noch mal zum Festival: Es gab das Podium mit diesem Kundera-Satz: Our only immortality is in the police files. Eine Gefahr sehe ich aber mittlerweile eher im Internet. Auf der einen Seite kann ich mich bestens informieren, mich weltweit vernetzen, auf der anderen Seite wird jeder meiner Klicks registriert. Wenn man will, kann man meine Gedankengänge nachvollziehen, mit welchen Themen ich mich beschäftige, mit wem ich chatte, wenn ich im Netz einkaufe, was das ist: also eine totale Kontrolle, eine totale Verfügbarkeit meiner Person via Daten. Sie haben ja schon früh die Medien kritisiert, über diese Bewusstseinsindustrie geschrieben, was sagen Sie denn zum Medium Internet?

Wir haben natürlich einen Überwachungsstaat. Im Internet, das ist nicht politische Kontrolle, die wollen etwas verkaufen, uns mit Werbung zuschütten.

Aber man kann jeden meiner Schritte verfolgen, alles wird gespeichert.

Aber wen interessiert das? Das ist ja nur interessant fürs Geschäftemachen.

Aber es kann doch auch anderweitig benutzt werden, weil es da ist und zur Verfügung steht.

Ja, der Sicherheitswahn u.a. der Behörden ist natürlich eklatant.

Darüber gibt es ein schönes Gedicht von Ihnen: Innere Sicherheit


 

 

 

Wenn man ernsthaft über diese Sicherheitsfragen sprechen möchte, muss man feststellen, dass diese siebzehn (17!) Geheimdienste in den USA nicht in der Lage waren, einen Attentäter schon im Vorfeld zu identifizieren, d. h. es funktioniert eben nicht. Die haben zu viele Daten, nicht zu wenige. Das ist wie ein Heuhaufen. Bei siebzehn Geheimdiensten kann man sich vorstellen, was da los ist: Der wichtigste Feind des einen Geheimdienstes ist der andere Geheimdienst.

Auf der Kafka-Tagung, die vom 27. - 29.Mai in Prag stattfand (s. Kafka-Tagung), gab es einen sehr erhellenden Vortrag, der sich u.a. mit der Behauptung beschäftigte, Kafka beschreibe in vielen seiner Werke vor allem die allgegenwärtige, ausufernde Bürokratie, der man machtlos ausgeliefert sei. Gleichzeitig beschreibe Kafka aber auch den ureigenen Zersetzungsprozess dieses Systems aus Behörden und Ämtern, weil eigentlich nichts funktioniert, alles disparat ist, ein ruinöser Prozess voller Dunkelheit und manchmal sogar Ungeziefer.

Außerdem ist die Bürokratiekritik immer zu simpel, weil dummerweise die Leute nach Bürokratie verlangen. Wenn irgend etwas nicht geregelt ist, entsteht sofort die Forderung, es müsse sich jemand darum kümmern, und wer ist das? Natürlich die Bürokratie. Der ganze Sozialstaat, Krankenversicherung, Rentenversicherung, das sind alles riesige Bürokratien, die einer Nachfrage entsprechen. Wer will sich denn schon um sich selber kümmern?

Diese Verwaltungsapparate sind einerseits ein Problem der industriell entwickelten Länder, andererseits sind die meisten Menschen nicht in der Position, ihre Belange in die eigenen Hände zu nehmen. Das Bedürfnis, kontrolliert zu werden bzw. sich zumindest kontrollieren zu lassen, alles zu delegieren, scheint mir in anderen Ländern nicht so stark vorhanden zu sein wie beispielsweise in Deutschland oder zum Teil auch hier in Tschechien.

Aber die anderen hätten auch gerne einen Sozialstaat.

Das kann man doch gut verstehen...

Es gibt viel zu wenig Leute, die sagen: Lasst mich doch in Ruhe. Ich will nichts von euch wissen. Ich brauche euch nicht. Ich brauche keine Rente.Verschont mich bitte! Wenn ich einen Arzt brauche, kümmere ich mich selber darum. Get off my back! Das ist so eine anarchistische Haltung. Die meisten Leute wollen aber an die Hand genommen werden. Also selber schuld!

Diese Haltung muss man sich heutzutage aber leisten können. Sie haben auch ein Gedicht geschrieben: Nicht Zutreffendes streichen (s. hier: Enzensberger/Wray - Eröffnungsveranstaltung), darin geht es ja um die Angst, sich zu artikulieren – und es dann doch lieber sein zu lassen, darum, dass Menschen sich nicht trauen, für sich selbst zu sprechen.

Da kann man eben nichts machen. Jeder Mensch ist auch infantil, ein Adoleszent – und die Unselbständigkeit hört nie auf. Das wissen wir seit Freud, und ich habe dazu nichts Neues zu sagen.


© Katja Schickel, Gespräch: 09.06.2010

 


© Fotos: pwf.cz, Katja Schickel: HME bei seiner Lesung im Narodní divadlo; im Hotel Josef, dahinter der chinesische Literatur-Nobelpreisträger Gao Xingjiang

"Innere Sicherheit" aus: Hans Magnus Enzensberger, Die Geschichter der Wolken - Historie mraku, Praha 2010

 

 

 

 

 

 



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