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Inger Christensen

 

Das dreizehnte Gedicht aus Alphabet von Inger Christensen:

 

die alphabete gibt es

den regen der alphabete

 

den regen der rieselt

die gnade das licht

zwischenräume und formen
der sterne der steine

 

den lauf der flüsse
und die bewegungen des gemüts

die spuren der tiere
ihre straßen und wege

 

den bau der nester
den trost von menschen

tageslicht in der luft
das zeichen des mäusebussards

das zusammensein der sonne
und des auges in der farbe

 

die wilde kamille
an den schwellen der häuser

den schneehaufen den wind
die hausecke den sperling

 

ich schreibe wie der wind
der mit der ruhigen schrift
der wolken schreibt

oder schnell über den himmel
in verschwindenden strichen
wie mit schwalben

 

ich schreibe wie der wind
der stilisiert monoton
ins wasser schreibt

oder rolle mit dem schweren
alphabet der wellen
ihre schaumfäden

schreibe in die luft
wie die pflanzen schreiben
mit stielen und blättern

oder rund wie mit blumen
in kreisen und büscheln
mit punkten und fäden

 

ich schreibe wie der strand
einen saum schreibt
aus schaltieren und tang

oder fein wie mit perlmutt
die füße des seesterns
und der schleim der muschel

 

ich schreibe wie das frühe
frühjahr das das gemeinsame
alphabet der anemonen
der buche des veilchens und
des sauerklees schreibt

ich schreibe wie der kindliche
sommer wie donner
über den kuppeln des waldrands
wie weißgold wenn der blitz
und das weizenfeld reifen

 

ich schreibe wie ein vom tode gezeichneter
herbst schreibt
wie rastlose hoffnungen
wie lichtstürme quer
durch nebelhafte erinnerung

ich schreibe wie der winter
schreibe wie der schnee
und das eis und die kälte
und das dunkel und der tod
schreiben

 

ich schreibe wie das herz
das klopft schreibt
das schweigen des skeletts
und der nägel der zähne
des haars und des schädels

 

ich schreibe wie das herz
das klopft schreibt
das flüstern der hände
der füße der lippen
der haut und des geschlechts

 

ich schreibe wie das herz
das klopft schreibt
die geräusche der lungen
der muskeln des gesichts
des gehirns und der nerven

ich schreibe wie das herz
das klopft schreibt
das rufen des bluts
und der zellen der gesichte
des weinens und der zunge

 

 

 

Inger Christensen

 

geb.16.01.1935 in Vejle, gest. 02.01.2009 in Kopenhagen, dänische Schriftstellerin, galt als eine der bedeutendsten europäischen Lyrikerinnen ihrer Generation und jahrzehntelang als Kandidatin für den Literatur-Nobelpreis.

Nach einer Ausbildung zur Volksschullehrerin, studierte sie Medizin, Chemie und Mathematik an der Universutät Kopenhagen und arbeitete einige Jahre an einer Kunsthochschule. .

 

 

 

© Foto: dentoredanske.dk

 

Werke:

Gedichtband Lys (dt. Licht) 1962 

Gedichtzyklus Det (dt. Das) 1969. Es spielt mit dem Pronomen ES und der Acht als Ordnungsmuster

Gedichtband Alfabet (dt. Alphabet 1981) bezieht sich auf die sogenannte Fibonacci-Reihe, benannt nach dem italienischen Mathematiker Leonardo Fibonacci, bei der sich jedes Glied der Reihe aus der Summe der beiden vorangehenden Zahlen errechnet (also: 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13…). Christensen setzte die Fibonacci-Zahlen in Korrespondenz mit Struktur und Wachstum verschiedener Pflanzenarten.

Es erschienen weitere Gedichtbände und andere literarische Arbeiten, darunter zwei Romane, Kinder- und Jugendbücher, Theaterstücke, Hörspiele und zahlreiche Essays, davon viele auch in deutscher Übersetzung, so etwa im Jahr 2000 der Essayband Der Geheimniszustand und Gedicht vom Tod.

Christensen war Mitglied der Dänischen Akademie, der Europäischen Akademie für Poesie und seit 2001 der Akademie der Künste in Berlin. Sie erhielt viele Preise und Auszeichnungen. Die deutsche Übersetzung besorgte Hanns Grössel, ihre Werke erschienen, zumeist als bilinguale Ausgaben, im Münsteraner Kleinheinrich Verlag.

 

© Foto: faz.net.de; Musik: Roedelius-Schneider - Miniatur (aus: Stunden) 



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