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Im Abrisshaus

von Katja Schickel



 

Inger-Maria Mahlke

Rechnung offen – Roman

284 S., geb., 19,99 Euro. 

Berlin Verlag, Berlin 2013, ISBN 3827011302





Abgestellte Heizung. Heruntergekommenes Treppenhaus. Fensterbruch, bröckelnde Fassaden. Prekäre Lebensverhältnisse. Unbezahlte Rechnungen. Großstädtische Gegenwart. Verschiedene Menschen, die als Mieter zu beiläufig grüßenden oder sich gegenseitig argwöhnisch beäugenden Nachbarn mutieren. Es herrscht nicht gerade eitel Sonnenschein zwischen den uns vorgestellten Mietparteien. Die kleinen verbalen Scharmützel sind allerdings nicht der Rede wert im Vergleich zum Packeis, das das marode gewordene Haus in Gestalt einer Immobilienfirma rammt und in jedes Stockwerk dringt. It´s gentrification time, baby! Der (Verkaiufs-)Schlager geht so: Vorher kamen die Künstler und Ausländer, heute kommen die Spekulanten und die, die zu viel Geld haben und schmeißen die raus, die keins haben. 

War das Leben vieler MieterInnen in unterschiedlicher Weise schon vorher prekär und brüchig, gerät es mit dem angekündigten Abriss vollends ins Schwanken. Fühlten sich einige schon davor an den Rand gedrängt, waren aus der Bahn geworfen worden, in Schieflage geraten, hatten sie sich doch zumindest in ihren Wohnungen – mehr schlecht als recht – eingerichtet und sicher gefühlt. Jetzt wird ihnen buchstäblich der Boden unter den Füßen weggezogen, eine eigene Zielsetzung, gar ein konkretes Ziel aus der Misere rückt in immer weitere Ferne. Die über Jahre gehegten Illusionen, ihr eigener Zustand und der des Hauses seien bloß vorübergehend, taugen - ins kalte Licht der Tatsachen gezerrt - auch nicht mehr als Wärmespender. Wie nur soll man den Geschmack von Vergeblichkeit wieder los werden. Wie geht man um mit dieser Bedrohung, die einen da kalt erwischt hat. Der Abbruch macht der Aussichts- und Ausweglosigkeit Platz, führt zu weiterer Ratlosigkeit und Stillstand. Die mutwillige Zerstörung des Hauses verstärkt Verwahrlosung und innere Unbehaustheit. Heimelig ist es schon vorher nicht zugegangen. Man lebt gewohnheitsmäßig nebeneinander, mehr oder weniger frostig, mehr oder weniger gesprächig. Wie das bereits Dagewesene, Vorgefundene sich mit den neuen Zuständen mischt, mit dem schicken teuren Ambiente, das dem ganzen Viertel sukzessive aufgedrückt wird; welche Spuren es in jeder einzelnen Person (der so genannten Alteingesessenen) hinterlässt, die sich ständig fehl am Platz fühlen muss, weil sie nicht mehr ins angesagte, retuschierte Bild passt, schon allein durch ihre Existenz aus dem neu formatierten Rahmen fällt – diese Prise Unbehagen, die sich allmählich in Unruhe, Angst und Panik steigert, beschreibt die Autorin präzise und mit kaltem Blick. Schweißausbrüche, die sich gepaart mit Müll, Moder und abgestandenem Essen als üble, ranzige Gerüche in allen Ecken und Nischen des Hauses finden lassen wie vorsätzlich gesetzte Duftmarken, sind auch Indiz für die Ohnmacht, die die HausbewohnerInnen spüren, und gleichzeitig Ausdruck eines ihnen innewohnenden Kampfes um Daseinsberechtigung, um ihr Revier, ihr natürliches Habitat. Das ist – wie wir wissen – zwar ein legitimer, aber mittlerweile obsoleter Anspruch, der so schnell verweht wie der kurzfristig entstandene Gestank, der nie dagewesen sein wird im Haus, im Stadtviertel, ebenso wenig wie die früheren BewohnerInnen. Die neue (anvisierte) Klientel mag solche Leute nicht. Basta.

Die Autorin seziert Einzelschicksale und Lebensumstände, legt die Unzulänglichkeiten, die Trostlosigkeit bloß –  ohne sie mit einem Wort zu beschönigen oder moralisch zu bewerten. Sie schaut lieber genau hin: Es herrscht nicht nur Apathie, Agonie und Furcht. Die Menschen sind ja nicht nur hilflos, sie schmieden Pläne, von denen einige umgesetzt und andere in ihren Verstecken bleiben werden, sie machen sich Hoffnungen, auch wenn es vielleicht falsche sind. Sie sind in Bewegung, alleine und miteinander. Koalitionen sind oft kurz und vorläufig, von zaghafter Empathie, von Sympathie getragen, häufig jedoch Berechnung und Eigennutz geschuldet. Es sind in sich widersprüchliche Personen, denen wir begegnen, nicht Gutmenschen, nicht kaltherzige Monster, sie entziehen sich der Eindeutigkeit, der Schablone. Die einsame, allmählich in Demenz abgleitende Großmutter Elsa Streml, ihr Enkel, der ihr regelmäßig das Geld abknöpft, der vernachlässigte Lucas, der mit einer depressiven Mutter umgehen muss, die immer wieder abhaut und ihn schließlich verlässt, Manuelas Vorbereitung auf den neuen Job als Teilzeit-Domina (ein Textauszug wie ein Protokoll, mit dem die Autorin beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2012 bravourös reüssierte), die bekiffte Studentin Ebba, die ihr Studium geschmissen hat und sich nicht traut, es ihren Eltern zu erzählen, die längst im Rosenkrieg getrennt leben, afrikanische Kleindealer, denen Abschiebung oder Knast drohen, bis einer tatsächlich zu Tode kommt – sie alle sind Teile eines Lebensspektrums, das unsere gesellschaftliche Wirklichkeit repräsentiert. Tabletten, Alkohol, Kiffen gehören zum Alltag und kaschieren notdürftig Vernachlässigung und Leere. Kaufrausch mit ebay et al. So versucht der einstmals erfolgreiche Therapeut, Besitzer des Abriss-Hauses, dem Frust über seinen fehlgeschlagenen Lebensentwurf beizukommen und türmt nur weitere Schuldenberge auf, weil er seinen Niedergang als Schmach empfindet und ihn nicht akzeptieren kann. Über die eigenen Verhältnisse leben, nennt man abfällig, was in anderen Konstellationen durchaus gefördert und gesellschaftlich goutiert wird. Lauter individuelle Sanierungsfälle also, denen man mit dem Etikett "Unterschicht" auch gleich ihre Minderwerigkeit attestiert. Hier geht´s nur im Zickzack durchs Leben. Trotz Ernüchterung oder Mittellosigkeit wollen alle immer wieder teilhaben, den Anschluss nicht verlieren, können ihre ungestillten Sehnsüchte dann aber doch nur mit Surrogaten zuschütten. Die Gefühle gleichen sich: Alleine sein, sich alleingelassen fühlen; nicht genügend Geld oder Phantasie haben, um herauszukommen aus dem Elend, keine Kraft mehr verspüren, das Scheitern abzuwenden, das Schicksal noch einmal zu drehen. Auf der Stelle treten. Immer wieder. Sich selbst belügen als einzigem Trost.

Das Leben aber muss weitergehen. Das Leben ist ein Laufrad und wehe, jemand wechselt die Richtung. Ausbruch statt Abbruch – in diesem Haus stellt sich diese Alternative nicht. Die Realität hat alle fest im Griff, nüchtern oder bekifft: Es geht um Aufstieg, vor allem jedoch um Abstieg, um Aufbruch und Abbruch, als mögliches Zwischenreich und (Über-)Lebensprinzip in diesem Berliner Mietshaus, das auch anderswo stehen könnte als ausgerechnet im gerade von hippen, kaufkräftigen Kunden neu entdeckten Neukölln, und das ebenso vage wie unerschütterliche Märchenversprechen: Etwas Besseres als den Tode finden wir überall. Nur bezahlen können wir es nicht mehr. Am Ende bleibt das schale Gefühl der (alten) Erkenntnis, dass es doch kein richtiges Leben im falschen gibt. Und: Wenn bestimmte Menschen nicht mehr ins Bild passen, liegt es vermutlich am Bild, dass sich andere Menschen von ihnen machen, dass sich Menschen gerne von sich selbst machen.

Inger-Maria Mahlke beschreibt ihre ProtagonistInnen in wenigen Umrissen, erzählt in durchaus diskretem Abstand von ihren Eigenschaften,Wünschen und Nöte, von Kälte und Erstarrung.

Allmählich begreift man beim Lesen, wie sensibel und radikal sie über die Folgen dieser ominösen, durch alle Medien geisternden Gentrifikation schreibt, indem sie einfach im Haus bleibt, im Zuhause der MieterInnen, ganz nah bei ihnen. Einflüsse von Draußen werden immer nur indirekt über die Reaktionen der BewohnerInnen vermittelt. Natürlich bestimmen "die Verhältnisse" Tagesablauf und Gedanken. Dass Inger-Maria Mahlke nicht pädagogisch wird oder sentimental, sondern einen kühlen Kopf bewahrt und dennoch zu fesseln vermag, macht ihr stilistische Können aus. Man möchte ihr Personal nicht unbedingt als Nachbarn haben und weiß doch gleichzeitig, dass es sich von denen, die man gerade hat, wenn überhaupt, nur graduell unterscheidet. Die Autorin erzählt keine Geschichte von Aliens am Rande der Gesellschaft, sie hält uns den Spiegel vor. Für Distanzierung und  Überheblichkeit besteht kein Anlass. Man begreift das Ausmaß des Problems, die fatale eigene wie allgemeine Gewöhnung, schmerzhafte Eingriffe in Menschenleben und Lebenswelten in kauf zunehmen, solange sie vermeintlich woanders stattfinden. Wo und wann aber fängt Woanders an, wann und wo hört es auf. Die Autorin hat sich literarisch auf Spurensuche begeben und unbequeme Fragen gestellt. Sie beschreibt das Prekäre in der Gesellschaft - und da ist vermutlich noch manche Rechnung offen.   




 

Inger-Maria Mahlke, *1977 in Lübeck. Jura-Studium an der FU Berlin; Kriminologie. 

2005: Teilnehmerin einer Autorenwerkstatt mit Herta Müller. 

2008: Autorenwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung. 

2009: Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin; Siegerin des 17.open mike. 

2010: Gewinnerin des Klaus-Michael-Kühne-Preis des Harbour Front Literaturfestivals für ihren Debütroman Silberfischchen. 

2012: Teilnahme an den Tagen der deutschsprachigen Literatur – Ingeborg-Bachmann-Preis; Text gewürdigt mit dem Ernst-Willner-Preis.


Veröffentlichungen 

Burbank 1.0, BELLA triste Nummer 19, Hildesheim 2007; ISSN 1618 - 1727

Beschwerdemanagement der Polizei: Eine empirische und rechtliche Analyse am Beispiel der Berliner Polizei. Verlag für Polizeiwissenschaft, Berlin 2008

Silberfischchen. Roman, Aufbau Verlag, Berlin 2010; ISBN 978-3-351-03309-5

Rechnung offen. Berlin Verlag, Berlin 2012 


04VI2013

 

 

 



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