LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
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Intro 

 

Ich höre immer nur Gespräche über Deutsche und Tschechen, als ob die Nationen Granitblöcke wären, die auf- und gegeneinander stürzen, und ich vermisse die historische Erinnerung an die Nuancen, Schattierungen, die geplagten Menschen in den Zwischenräumen der Politik und der Geschichte.

aus: Peter Demetz, Böhmische Sonne, mährischer Mond, S. 140, Zsolnay Verlag, Wien 1996 

 

  

Auch sehr lesenswert: Mein Prag - Autobiographie, Zsolnay Verlag, Wien 2008 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Nach über vierzig Jahren Exil

 

Der Grenzübergang Cheb (Eger) war eher grotesk gewesen; eine Reisende, die am Fenster lehnte, sagte, "ich dachte, mich trifft der Schlag, wenn ich hier einmal zurückkehre", und sogleich erschien eine stämmige Krankenschwester in gestärkter Uniform auf dem Bahnsteig und schritt neben dem Zug, mit einem Instrumentenkoffer in der Hand, ernst auf und ab, als sollten die Heimkehrer in ganzen Trauben aus dem Zug fallen.

Ein Bataillon grün uniformierter Grenzer schwärmte aus, und als der Kapitän grimmigen Gesichts (ein guter Kader) meinen US-Pass mit dem Geburtsland "Czechoslovakia" sah, drückte er seinen Stempel in mein Visum, verließ das Abteil wie im innere Stechschritt, während mir ein Leutnant, der die Uniform mit Adidas-Schuhen kombiniert hatte, mit einem schwejkschen Augenaufschlag ein Zollformular in die Hand drückte und hinzufügte, das sei alles nicht so wichtig.

Jetzt ging ich, mehr als vierzig Jahre nach meiner Flucht, wieder über den Wenzelsplatz, ich war mittendrin und sah doch alles wie hinter einer Glaswand. Die Menschen sahen so anders aus, die jungen Mädchen blass, mit fast durchsichtiger Haut, zu viele Männer mit Bierbäuchen über dem Gürtel. Meine Mutter hatte immer über "Platzangst" geklagt, und die fühlte ich in der unverständlichen Fremdheit der Menge und der Häuser, die sich, wie die Kulissen eines alten Ufa-Films, gegen mich drängten.

Mir fehlte, sobald ich den Mund aufmachte, die neuere Intonation der Landessprache, ein singender Tonfall, der früher das Idiom der Vorstädte gewesen war und nun ins Innere vorgedrungen war. Nur die alten Frauen, die in den vielen Staatsinstitutionen Dienst als Pförtnerinnen taten, waren von fast mütterlicher Freundlichkeit, wenn sie mich mit der längst antiquierten Gymnasial- und Bürgersprache reden hörten, die von ihrer Kollektivgeschichte unberührt geblieben war. Ich sagte mir, dass es höchste Zeit sei, endlich gerührt zu sein und ertappte mich dabei, dass ich geradezu darauf lauerte, mich endlich menschlich und mit Tränen in den Augen zu finden.

Die Tränen kamen, aber in einem ganz unverhofften, fast komischen Augenblick. Ich war zum Hradschin emporgestiegen, um wieder an der kleinen Mauer des Burgplatzes zu stehen und in den gekräuselten Rauch über den geschachtelten Dächern zu sehen. Touristen überschwemmten die inneren Burghöfe, und plötzlich öffneten sich die Fenster, in ihnen erschienen festlich gekleidete Bläser, die auf einen Dirigenten warteten. Und da war Präsident Havel, in einem blauen Anzug und einer rötlichen Krawatte, die zu seinem Haarschopf passte, mit seiner Entourage (einer in Lederjacke, mit einer US-Fahne auf dem Rücken). Er bahnte sich einen Weg durch die Menge und postierte sich in der Nähe des Burgtores.

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Polizisten in Zivil versuchten, einen breiteren Durchgang zu schaffen, denn es war Schlag zwölf, und die Burgwache sollte aufmarschieren. Bitte schön, liebe Leute, wir brauchen ein wenig Platz, wir müssen hier üben, sagte einer der Beamten, und jetzt stand mir endlich das Wasser in den Augen, nicht aus Patriotismus, sondern weil ich den Ton des Polizisten verstand; er genierte sich ein wenig, Ordnungshüter zu sein, und wollte seine Pflicht tun, ohne den Leuten ihr Recht auf Neugier zu schmälern.

Ich erinnerte mich an Zeiten, an andere Polizisten; im Februar 1948, am Tag des kommunistischen Umsturzes, war ich unter den zweitausend Studenten, die zur Burg marschierten, um Präsident Benesch daran zu hindern, die KP-Regierung zu akzeptieren, und wir gerieten zwischen die Polizei und die Schläger der Partei-Arbeitermilizen. Heute war alles anders hier; hier und jetzt begann das neue Kapitel der böhmischen Geschichte. Ich wischte mir die Augen trocken, da kam auch schon die Burgwache anmarschiert, und es zeigte sich, dass es eine Generalprobe war. Havel hatte, als erfahrener Theaterregisseur, neue Uniformen entwerfen lassen. Die Jünglinge sahen aus wie das Ballett aus dem Broadway-Musical "The Music Man".

Als ich jung war, kamen noch nicht so viele Touristen nach Prag, die Stadt war nicht besonders chic, und die Paläste, Kirchen, Gärten und Brücken standen den Spaziergängern, den Alten, den Liebenden und den Poeten offen, den Prager Lyrikern deutscher Zunge wie den tschechischen Surrealisten: "Prag, ich bin die Zunge Deiner Glocken und Deines Regens/ ich bin die Zunge der Trauben, aber auch der Asyle/ ich bin die Zunge der Langeweile, sonntags, des Wassers, auch, über den Wehren . . ." (Vitezslav Nezval). In den Kaffeehäusern und Weinstuben mochte man über die jüngsten Skandale Milena Jesenskas klatschen oder das neue Stück von Karel Capek diskutieren, aber das wäre heute nicht mehr so einfach. Das berühmte "Café Union", oder der "Unionka", wo die Prager Moderne, unter Obhut des mystischen Oberkellners Frantisek Paterna stattfand, ist längst einem langweiligen Glaspalast gewichen, und das "Café Slavia", wo selbst die Dissidenten der siebziger und achtziger Jahre ihren polizeilich beobachteten Stammtisch hatten, ist von internationalen Reisegesellschaften in Beschlag genommen.

Selbst die Karlsbrücke war in meiner Jugend menschenleer, und ich hatte dort meinen Rendezvouswinkel, gleich links unter der Brücke, die Stufen hinab, eine kleine Bank am Ufer, die schwappenden alten Mietkähne daneben, die Schatten der Brückenheiligen und die Sterne zu Häupten. Dort war es einfach, Gedichte zu rezitieren und kühn einen Blusenknopf zu öffnen.

Meine italienische Freundin Paola, die das Buch ihres berühmten Landsmannes Angelo Maria Ripellino über das magische Prag gelesen hatte, wollte unbedingt mit mir auf dieser Bank sitzen, aber ich entdeckte, dass die Bank jetzt am Rande eines betonierten Kinderspielplatzes stand, und oben, auf der Brücke, zogen die Touristen vorbei. Es ist nicht besonders schwierig, den internationalen Massen zu entgehen, die sich über die Brücke schieben. Man muss nur die Richtung wechseln und flussaufwärts gehen. Prag hat ja noch einen zweiten Burgberg, den Vysehrad (die Premyslidendynastie wusste lange nicht, wie sie residieren sollte, aber sobald sie sich für den Hradschin entschied, begann der Vysherad mit seinen Kapellen und Kirchen dahinzudämmern).

Prag war ja immer eine doppelte oder dreifache Stadt; ihre Topografie wechselte mit der Sprache, die man sprach, mit dem Glauben, zu dem man sich bekannte. Die deutschen Bürger suchten sonntags den schattigen "Baumgarten" auf, die tschechischen zog es eher auf den alten Vysehrader Friedhof, denn hier ruhen die bedeutendsten Töchter und Söhne der Nation. Ich saß lange auf einer Bank, es war ganz still, und ging dann durch die Reihen der dicht aneinander gedrängten Gräber.

Antonin Dvoraks Grab ist nicht weit vom Eingang und an der anderen Umfassungsmauer liegt die Grabstätte der Bozena Nemcova, die die moderne tschechische Prosa begründete. Vor ihrem Grab standen zwei schlaksige Schülerinnen, sie sahen aus wie vor vierzig Jahren. Die eine sagte ernst zur anderen: "Hier liegt unsere Bolena." Mir war wieder melancholisch zumute. Am dritten Tage hatte ich endlich gelernt, dass man nicht mehr "Na Shledanou" (Auf Wiedersehen) sagt, sondern "Na Shle!", und dass man das vertrautere "Ahoi", das noch aus der anarchischen Wanderbewegung der Ersten Republik stammte, mit dem modischen italienischen "Ciao" zu "Ahoi Tschau!" kombiniert hatte, ob man kam oder ging.

Ich dachte, ich lerne rasch und lebe mich so ein, aber dann sah ich meinen alten Freund, wir nennen ihn Vladimir, und ich begriff, dass ich nicht mehr hoffen dürfte, mich hier jemals wieder zu Hause zu fühlen. Vladimir hatte nicht mitmachen wollen, wie die vielen anderen und fand Unterschlupf in einer Sprachschule. Er unterrichtete dort vierzig Jahre lang, ohne seine wissenschaftlichen Arbeiten publizieren zu können. Ich fragte ihn, ob es ihm nicht schwergefallen sei, mit ansehen zu müssen, wie seine in der Partei engagierten Kollegen zu hohen Ehren aufgestiegen waren.

Er antwortete mir ganz ruhig, die Karrieren der anderen hätten ihn nie berührt, er sei seinem Geschick dankbar für die Möglichkeit, so viele junge und wissbegierige Schüler unterrichtet zu haben. Inmitten einer Stadt, in der noch alles wie in der Luft hing, sah ich einen glücklichen Menschen vor mir - ich begriff aber auch, dass mir seine endlose Geduld fehlte, ich war im Westen auf Konkurrenz und Wetteifer trainiert und empfand lebhaft, wie uns unsere Erfahrungen, obwohl wir doch Ähnliches getan, getrennt hatten, ein für allemal.

Meine Freunde im Westen beneiden mich um die Exkursionen ins "magische" oder "mystische" Prag, und das Schlimmste ist, dass sich diese Gemeinplätze auch schon in den Köpfen meiner tschechischen Freunde festzusetzen beginnen. Sie waren lange von der Welt "draußen" abgeschnitten und lernen jetzt, dass sie mit einem Gespräch über den Golem eher Verständnis finden als mit ihrem Enthusiasmus für den metaphysischen Dichter Frantisek Halas, den nur ganz wenige der westlichen Reisenden kennen; und selbst der gescheite Milan Kundera fühlt sich bemüßigt, sich in seinen mitteleuropäischen Essays auf die Kabbala und Rudolf II. zu berufen.

Das Historische in allen Ehren, aber zwei schmutzige Hinterhöfe sind noch nichts Magisches oder Mystisches, im Prager "Alchemistengässchen" lebten redliche Lakaien, Leibjäger und Kammerdiener, und dem Rabbi Löw, einem großen Ethiker und Widersacher praxisferner Gelehrsamkeit, dichtete man den Golem erst 200 Jahre nach seinem Tode an, weil ein guter Rabbi einen Golem brauchte und weil spätere Prager jüdische Sektierer ihn unbedingt zu den Ihren rechnen wollten. In den mittelrheinischen Klöstern des Mittelalters lebten vielleicht mehr Mystiker als in Prag, und im obergaliläischen Safed waren im 17. Jahrhundert mehr Kabbalisten versammelt als je im Schatten der Prager Altneusynagoge.

Ich warte, dass endlich einmal einer das Argument umkehrt und von Prag als der Stadt der Analytiker und der Rationalisten zu sprechen beginnt - mit einem Blick auf den pragmatischen Administrator Karl IV., die soziale Theologie der Hussiten, die naturwissenschaftlichen Interessen Rudolfs II., die tschechischen Philologen Dobrovsky, Gebauer und Goll (die Geschichtsklitterungen entlarvten), den Logiker Bernard Bolzano und den Humanisten Augustin Smetana, den Soziologen Tomas G. Masaryk, die Prager Gruppe der Schüler Franz Brentanos, den Prager linguistischen Kreis, ja auch den Dramatiker Havel, der sich selbst dazu bekannte, von seinem Bruder, dem Mathematiker und Linguisten, viel gelernt zu haben.

In der tschechischen Tradition war Prag immer die "Goldene" und die "Mütterliche" Stadt, und das Mystische und Magische begann sich erst im 19. Jahrhundert in die Literatur einzuschleichen, als englische und amerikanische Autoren schaudernd durch die alten Gassen des Gettos spazierten. Ihnen folgten tschechische und deutsche Schriftsteller des Fin de siècle, welche die Stadt mit Sonderlingen, Lustmördern und vampirischen Frauen bevölkerten. Wer es nicht glaubt, dem sei ein Spaziergang nach Zizkov, Smichov, Nusle oder Vrsovice empfohlen, in die alten Industrieviertel, wo die Textilarbeiter schon im Jahre 1844 streikten, zugleich mit den schlesischen Webern.

Wenn ich morgens durch die Gassen gehe, und das Licht ist hell, fühle ich mich (fast) wie zu Hause, aber ein Augenblick genügt, ein Schatten über dem Pflaster, und alles bricht wieder zusammen, und ich weiß, das ist kein Ort mehr für mich. Ich kenne die Stadt und kenne sie nicht mehr. Sie hat fortbestanden, ich habe fortgelebt, aber anderswo. Und was mir so vertraut scheint, das habe ich alles selbst mitgebracht.

 

Peter Demetz, geboren 1922 in Prag, lebt in New Haven, Connecticut. Er ist emeritierter Professor für Deutsche und Vergleichendende Literaturwissenschaft an der Yale University. 1994 verlieh ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay.

 

© Der Beitrag Schwierige Heimkehr ist seinem Buch Prag - Sieben Momente im Leben einer europäischen Stadt (Piper, 1998) entnommen.


 



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