LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
info@letnapark-prager-kleine-seiten.com


 

Natalia Shchyhlevska

Das Recht auf Fremdheit

Über den neuen Roman von Irena Brežná

 

 

Irena Brezna: Die undankbare Fremde. Roman.
Verlag Galiani, Köln 2012.
140 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783869710525

 

 

 

 

 

 

 

Der Roman Die undankbare Fremde der deutsch-schweizerischen Autorin slowakischer Herkunft Irena Brežná weist höchste gesellschaftliche Aktualität, thematische Dichte und ästhetische Qualität auf, so dass er seinen Platz auf dem Literaturmarkt unschwer finden wird. Bei aller Betonung der Rolle, die dem Roman in der Schweizer Integrationsdebatte zukommen wird, sollte jedoch sein literarischer Anspruch nicht aus dem Auge verloren werden. Neben dem Tabubruch – sich als Migrantin über die Aufnahmegesellschaft kritisch zu äußern –, neben den fokussierten Themen Meinungsfreiheit, Kapitalismus versus Sozialismus, latente Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung, die zweifelsohne wichtige Aspekte in diesem Roman sind, darf nicht vergessen werden, dass es sich hier um einen Roman handelt. Seine Erzählstruktur, Figurenkonstellation und vor allem die Sprache sind ebenfalls nicht nur wichtig, sondern entscheidend für das Verständnis der inhaltlichen Ebene.

Diese scheint zunächst nicht primär zu sein, denn erzählt wird 'nur' in Fragmenten von Fällen, die die Ich-Erzählerin dolmetschen muss. Sie heben sich im Buch ab, da sie kursiv abgedruckt sind. Das Verbindende dieser Fälle ist, dass es sich um Fremde handelt, die keine Sprache, aber viele Probleme haben. Und doch: in diesem Buch ist alles primär. Die Autorin überlässt nichts dem Zufall. Selbst die Umschlaggestaltung ist neben dem Titel programmatisch: Eine Frauengestalt balanciert auf einer gespannten Lichterkette. Wenn die im Hintergrund abgebildeten Stromkabeln als Lebenswege zu deuten wären, so hat sie sich für einen besseren, beleuchteten entschieden. Ein Bein hält sie viel zu hoch in der Luft, steht auf Zehen eines Fußes unglaublich gerade und benutzt einen geöffneten Regenschirm als Balancierstange. Während man einige Details ihres Kleides erkennen kann, ist ihr Gesicht, ihr Körper schwarz. Diese Seiltänzerin kann im Kontext des Romans als die Fremde schlechthin verstanden werden: bis zur Perfektion dressiert, ihres eigenen Ichs entledigt, führt sie die beigebrachte Übung bravourös vor. Der Schirm scheint sie dabei zu beschützen, einen imaginären Schutzraum zu schaffen.

Aus eigenem Land auszubrechen und in ein anderes hineinzugeraten, heißt fremd zu werden. Wenn man fremd ist, ist man ausgeliefert, in erster Linie den Beamten. Diese sind mit der Macht ausgestattet, die Fremden als defizitär abzustempeln. Mit der herablassenden Bemerkung „Diesen Firlefanz brauchen Sie hier nicht.“ passte der Hauptmann etwa den slowakischen Namen der Ich-Erzählerin an. Diese Begradigung erlebt sie als Verstümmelung: „Er strich auch meine runde, weibliche Endung, gab mir den Familiennamen des Vaters und des Bruders. Diese saßen stumm da und ließen meine Verstümmelung geschehen. Was sollte ich mit dem kahlen, männlichen Namen anfangen? Ich fror.“

Die Begegnung mit der Fremde hinterlässt Spuren, die sich im Körper und in der Seele der Ich-Erzählerin einkerben. Als sie erkennt, dass der „mitleidvolle Blick“ der hageren Frau, wohl der Hausmeisterin im Flüchtlingslager, ihr galt, erlebt sie es als körperliche Verletzung: „Ich tastete meinen Körper ab, er war noch ganz. Da spürte ich, wie meine Seele auf dem Weg zum Flüchtlingslager hinkte. Sie war lahm.“ Der Körper wird zum zentralen Aspekt dieses Romans, zur Folie, auf die die Erlebnisse und Erfahrungen in der Fremde projiziert werden. Es geht nicht um Körper als Metapher, sondern um konkrete, alltägliche Erfahrungen des Körperverlustes, denen die Fremden ausgeliefert sind: „Sie müssen zuerst einen Pass beantragen, um mit der Hand über eine Wange streichen zu dürfen.“ Die Fremden sind in diesem Roman kranke, verfallende, misshandelte, missbrauchte, „so oft zwangsberührte“, selbstverstümmelte, geschundene Körper: „Körper, den er der Droge schenkt, damit sie ihn vernichtet“, „unscharfe Körperformen“, hölzerne Körper, „Körper per se“, gespannter Körper, „als wollte er unsichtbare Seile sprengen“, „der abgenagte Körper“, Körper, „als wäre er ein geliehenes Kleid“.

Die Krankheit verleiht dem Körper die Stimme, die zur neuen Sprache wird, zur Sprache des Schmerzes: „Wenn die Patientin etwas von ihrem Körper wahrnimmt, dann nur Schmerz.“ Die Krankheit wird zur treuen Begleiterin in der Fremde. Es kommt zum „Bürgerkrieg im Körperland“: Missbildungen, Autismus, Behinderungen, Psoriasis, Tuberkulose, Hepatitis C, Übergewicht und immer wieder Seelenkrankheiten. Selbst die im neuen Land geborenen Kinder der Fremden bleiben nicht verschont: „Die Tochter vermag die Welt nicht als die Weite zu sehen, sie wurde in der Enge der Angst ausgetragen. Sie hat einen engen Blick auf die Welt.“ Die Krankheit kann in Brežnás Roman als Implosion gedeutet werden, die Fremden werden zu einer „implodierte[n] Minderheit“ (Chiellino). Dies äußert sich in der Gewalt ihren eigenen Kindern gegenüber, wie der Dialog zwischen der Mutter eines autistischen Mädchens und der Ärztin illustriert: „‚Wir sind streng, wir schlagen sie. Das beruhigt sie.‘ ‚Weil es Körpersprache ist’, erklärt die Ärztin.‘“

Mit dem Entgleiten des Körpers geht der Verlust der Sprache einher: „Körper und Sprache. Ein Liebespaar, das täglich ermordet wird.“ Die Sprache und der Körper sind untrennbar. Die Sprache hat ihre eigene Physiognomie: „Ich sehe an der Beschaffenheit des Mundes, von welchen Lautkombinationen er geformt worden ist.“ Julia Kristeva, eine aus Bulgarien stammende und auf Französisch schreibende Literaturhistorikerin und Philosophin, schildert in ihrem Buch „Fremde sind wir uns selbst“, wie schockierend die Entdeckung der neuen Sprache als eigene Körperlichkeit erlebt wird.

Selbst wenn man die neue Sprache einwandfrei spricht, verrät der Akzent, dass man in dieser Sprache fremd ist: „Wer nicht nach Dialekt roch, blieb ein fremder Fötzel.“ Im Unterschied zu ihrer Freundin Mara entscheidet sich die Ich-Erzählerin gegen den Dialekt und wählt bewusst ihre Fremdheit, ihre Nicht-Zugehörigkeit. „Ich wollte die Schriftsprache, sie roch nach nichts, ein leeres, weiß getünchtes, mehrstöckiges Haus, mit geräumigen Zimmern und hohen Decken.“ Die Schriftsprache wird in diesem Satz deutlich genug so dargestellt, dass man erkennen kann: ihr Vorteil gegenüber dem Dialekt besteht darin, dass sie kein kulturelles Gedächtnis besitzt. Sie gibt der Ich-Erzählerin nicht nur den Freiraum, sondern in erster Linie den Schutz, der für sie als Dolmetscherin unverzichtbar ist. Durch die Schriftsprache wird die Distanz zwischen der Ich-Erählerin und den Schweizern geschaffen, die sie braucht, um sich mit ihnen nicht identifizieren zu können und sich so beim Dolmetschen auf der inhaltlichen Ebene gegen die stummen Vorwürfe der Fremden ungreifbar zu machen. Sie ist zwar gegen sie ungreifbar, aber mit ihnen verbunden, denn „Nicht die Sprache verbindet, sondern ihr Inhalt.“

Die Perspektive der Dolmetscherin ist nicht nur tragend in der Erzählstruktur des Romans, sondern ein in der interkulturellen Literatur verbreitetes Motiv – exemplarisch sei hier etwa auf Yoko Tawadas Das Bad verwiesen. Die sukzessive Thematisierung des Dolmetscherberufes scheint in Brežnás Roman allerdings in dieser Art erstmalig zu sein. Dass die Ich-Erzäherin ihren Beruf als „Tilgung der eigenen Persönlichkeit“ erlebt, kann so gedeutet werden, dass sie in der ständigen Konfrontation der Sprachen feststellt, dass ihr eigenes kulturelles Gedächtnis in der Muttersprache liegt, während sich in der erlernten Schriftsprache der Fremde eine Lücke auftut. Um diese zu schließen, muss sie das kulturelle Gedächtnis in die neue Schriftsprache hinübertragen. Um dies umzusetzen, wird die Ich-Erzählerin gespalten in das kleine Mädchen und die Dolmetscherin. Während das kleine Mädchen für das kulturelle Gedächtnis in der Muttersprache steht, symbolisiert die Dolmetscherin das Hinübertragen des Gedächtnisses in die neue Sprache. Umzusetzen schafft es aber erst die Autorin, Irena Brežná, indem sie ihren Roman schreibt. In der deutschen Sprache des Romans konsolidiert sie sich, indem sie das kleine Mädchen gleich am Anfang des Romans Deutsch sprechen lässt. Nicht umsonst sagte Brežná in einem Interview, dass sie mit diesem Buch ihren eigenen Anfang verarbeiten wollte.

Gelungen ist der Autorin viel mehr. Als Schriftstellerin hat sie eine dialogische Sprache geschaffen, die sich durch eine anspruchsvolle Ästhetik kennzeichnet. Als Psychologin erkennt Brežná, dass die geforderte Anpassung zu einem Korsett wird, das krank macht. Als Migrantin fordert sie einen respektvollen Umgang mit der Fremdheit, sie fordert die Fremden auf, ihre Andersartigkeit nicht als Mangel, sondern eine Bereicherung aufzufassen, und legt den Alteingesessenen nahe, dies im eigenen Interesse zu erkennen. Die „Hackordnung“ kann in der Realität nicht länger bestehen: „Ich heiße Emigrazia. Meine Heimat ist Ausländerin. Von hier lasse ich mich nicht mehr emigrieren.“

 

 

Die slowakische Autorin Irena Brežná, *1950 in Bratislava, lebt seit 1968 in der Schweiz. Nach dem Studium der Slavistik, Psychologie und Philosophie arbeitete sie zuerst als Russisch-Lehrerin und Psychologin. Als Koordinatorin von Amnesty International setzte sie sich zwölf Jahre lang für die Freilassung sowjetischer politischer Gefangener ein. Heute lebt und arbeitet Brežná als freie Autorin.

Auswahl: Die beste aller Welten, Roman, Edition Ebersbach, Berlin 2009. geb., 164 S., ISBN 393874028; hier auch erschienen: Die Schuppenhaut, Liebesroman, 120 S., 2010; Die Sammlerin der Seelen. Unterwegs in meinem Europa, Aufbau Verlag, Berlin 2003, kart., 207 S., ISBN 3351025629

Auf Tschechisch erscheinen im September 2012 Reportagen und Essays aus Tschetschenien – Eine Chronologie von 1996 – 2011, Paseke Verlag Prag: Vlčice ze Sernovodsku, Zápisky z čečenské války, brosch., 133. S., ISBN 978-80-7432-197-9

  

Natalia Shchyhlevska, *1978 in Drohobych (Ukraine), studierte Germanistik an der Nationalen Iwan-Franko-Universität Lviv. Aufbaustudium Deutsch als Fremdsprache und Promotion (2003) in Neuerer Deutscher Literaturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Ihre Forschungsthemen: Deutschsprachige Literatur der ehemaligen Ostprovinzen der k.u.k. Monarchie (Bukowina, Galizien), deutsch-jüdische Literatur des 20. Jhdts., Identität, Biografie, Motivforschung, Kulturtransfer und Kulturübersetzung.
Literatur-Auswahl
: Deutschsprachige Autoren aus der Bukowina, Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 978-3-631-58654-9; Verschränkungen - Leben und Werk von Autoren aus der Bukowina anhand von Briefen und Nachlässen, Band 58 der Reihe Bukowiner Literaturlandschaft im Rimbaud Verlag, Aachen 2011, ISBN 978-3-89086-463-1; Alfred Gong – Leben und Werk, Neue Deutsch-Amerikanische Studien Band 32, Oxford, Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Wien 2009, ISBN 978-3-03911-420-7.

© Text mit freundlicher Genehmigung der Autorin; Erstveröffentlichung: literaturkritik.de; Fotos: Galiani Verlag; dr-ridder.de 

 

*********

 

Leseprobe Irena Brežná:

Wir ließen unser Land im vertrauten Dunkel zurück und näherten uns der leuchtenden Fremde. »Wie viel Licht!«, rief Mutter, als wäre das der Beweis, dass wir einer lichten Zukunft entgegenfuhren. Die Straßenlaternen flackerten nicht träge orange wie bei uns, sondern blendeten wie Scheinwerfer. Mutter war voller Emigrationslust und sah nicht die Schwärme von Mücken, Käferchen und Nachtfaltern, die um die Laternenköpfe herumschwirrten, daran klebten, mit Flügeln und Beinchen ums Leben zappelten, bis sie, angezogen vom gnadenlosen Schein, verbrannten und auf die saubere Straße herunterfielen. Und das grelle Licht der Fremde fraß auch die Sterne auf.

In der Kaserne verhörte uns ein Hauptmann, der mehrere Sprachfehler hatte. Er konnte kein r rollen, weder ž, l’, t’, dž, ň noch ô aussprechen und betonte unseren Namen falsch, sodass ich mich nicht wiedererkannte. Er schrieb ihn auf ein Formular und nahm ihm alle Flügel und Dächlein weg: »Diesen Firlefanz brauchen Sie hier nicht.«

Er strich auch meine runde, weibliche Endung, gab mir den Familiennamen des Vaters und des Bruders. Diese saßen stumm da und ließen meine Verstümmelung geschehen. Was sollte ich mit dem kahlen, männlichen Namen anfangen? Ich fror.

Der Hauptmann lehnte sich zufrieden zurück: »Sind Sie zu uns geflüchtet, weil es hier die Meinungsäußerungsfreiheit gibt?« Wir kannten dieses lange Wort nicht. Mussten wir dem Mann jetzt unsere Meinung sagen, damit er jedem ein Bett und eine Wolldecke gibt? Zu sagen, was man denkt, sät Zwietracht, man wird einsam davon, kommt in Einzelhaft.

Der Hauptmann wartete vergeblich auf unsere Meinung, dann senkte er die Stimme verdächtig tief: »Was für einen Glauben haben Sie?«

 

Da wandte sich der Mann an mich: »Woran glaubst du, Mädchen?«

»An eine bessere Welt.«

»Dann bist du richtig bei uns. Herzlich willkommen!«

Er zwinkerte mir zu und besiegelte mein Schicksal mit einem Stempel.

 

Eine hagere Frau führte uns durch lange Gänge. Ihr mitleidvoller Blick streifte mich. Ich suchte die Unglückliche, der ihr Blick galt, aber die Welt war leer. Diese Frau, die weder geschminkt noch toupiert war, hatte Mitleid mit mir! Ich tastete meinen Körper ab, er war noch ganz. Da spürte ich, wie meine Seele auf dem Weg zum Flüchtlingsbett hinkte. Sie war lahm. Und schon wurden uns raue, karierte Decken ausgehändigt. In der Turnhalle saßen unsere Landsleute auf Feldbetten. Ich suchte in ihren Augen nach der eigenen Meinung, die sie loswerden wollten, doch ich fand darin bloß geblendete Nachtfalter. Als jemand Okkupationswitze erzählte, tauchte mein verlorenes Lachen auf, das gleich darauf in Tränen unterging. Ich weinte über den letzten Witz aus unserer Diktatur. Nun sollten wir demokratisch und witzlos leben. Die Landsleute redeten über unbekannte Länder, mutmaßten, wo es besser sei. Gefaltet wie sie waren, ließen wir die karierten Decken zurück und brachen erneut auf.

Das Verrückte an unserer Geschichte war, dass uns unsere besten Freunde überfallen hatten, und auf der Flucht vor den Truppen der Verbündeten waren wir in einem Feindesland gestrandet. Vor Mitternacht erreichten wir eine Stadt. In einem Hotel voller Flüchtlinge bekamen wir ein eigenes Zimmer. Wir durften nur das billigste Essen bestellen, doch das war nicht schlimm, sicher schmeckten auch die teuersten Speisen fad. Die Nationalgerichte der Großmutter galten hier als ungesund. Es gab harten Käse, aber reden sollte man nicht darüber.

»Rede keinen Käse«, sagte der Lehrer im Sprachkurs.

Dort freundete ich mich mit meinem Landsmädchen Mara an. Ich beneidete sie um ihren mit Watte ausgestopften Büstenhalter. Sie war eine gute Freundin und stahl auch für mich einen. Nach dem Sprachkurs gingen wir Kleider begutachten, die draußen auf der Straße schaukelten, alleine gelassen wie fremde Mädchen, dem Raub preisgegeben. Ernste, magere Frauen in zerknitterten Leinenhosen, schmucklos wie mein neuer männlicher Name, gingen vorbei, ohne die Miniröcke aus glänzen- dem Taft und die golden schimmernden Samtjäckchen eines Blickes zu würdigen.

Mara sagte: »Das sind keine Frauen. Sonst würden sie sich auf die Klamotten stürzen. Wie traurig, dass sie niemand will.«

Nachdem Mara unserem Volk Schande gemacht hatte, schrieb ich ihr ins Jugendheim: »Liebe Mara, es ist ungerecht, dass du den Ausverkauf nicht sehen kannst. Die Miniröcke haben rote Preisschilder wie blutig verweinte Augen.«

Mara kehrte nicht nach drei Jahren zurück, sondern nach drei Wochen. Die Gerichte hatten Strafausverkauf.

 

Die Leiterin des Dolmetscherdienstes ermahnt das internationale Heer sprachlicher Stundenlöhner: »Nur vermitteln, nicht eingreifen.«

Sie hängt nicht in der Kontinentalspalte, kennt nicht das Krachen, wenn Kulturen aufeinander stoßen. Vor jedem Einsatz bläue ich mir ein: Pass auf dich auf, lass die Ufer Ufer sein, biete dich nicht als Brücke an, die stets zu Diensten steht, sonst trampelt man auf dir herum und bringt dich zum Einsturz. Sei eine Sprachfähre. Führe die Passagiere hinüber, lege ab und lösche ihre Gesichter aus dem Gedächtnis.

Etwas von beiden Ufern bleibt trotzdem an der Fährfrau kleben. Ich dolmetsche aus drei Sprachen. Bekomme ich einen Auftrag, setze ich mich aufs Fahrrad und rätsle zum Surren der Räder, aus welchem Land wohl meine heutigen Passagiere sein werden. Ich mag den Augenblick, wenn der Mensch vor mir steht und die Sprache sich offenbart. Oft errate ich die Sprache ein paar Sekunden davor. Ich sehe an der Beschaffenheit des Mundes, von welchen Lautkombinationen er geformt worden ist. Dann grüße ich den Menschen, und im Gruß ist die Sprache mitgemeint. Sprachen sind Wesen. Sie leben unter uns, lungern herum oder tänzeln, rattern, stocken, säuseln. Wir nähren und kleiden die Sprachen ein, sodass sie satt oder schäbig werden, unterernährt oder schick gekleidet. Wenn ich Kopfweh habe, bin ich hellhörig auf Laute. Eine gereizte, schrille Stimme schneidet mein Gehirn entzwei, ich kneife vor Schmerz die Augen zusammen. Ist die Sprache geschmeidig, bade ich darin und genese.

Die Schwangere und ihr Mann sitzen im Wartezimmer der Frauenklinik, und ich erkenne das Paar an seiner Verlorenheit. Mit einem breiten Lächeln gehe ich auf die beiden zu, doch ihre Gesichter zeigen sofort Anspannung. Dort, woher sie kommen, ist das Lächeln im öffentlichen Raum verdächtig. Wer lächelt, der will etwas. Als die Frau auf dem gynäkologischen Stuhl liegt, und die Krankenschwester mit einem Gerät schwarze Bänder um ihren Bauch herum befestigt, ist sie gefesselt an ihren Zustand. Tagelang kann ich die Schwangere nicht vergessen, sehe sie vor mir, bei allem, was ich tue, sorge mich, ob sie mitten in den Wehen das Wort »Pressen« verstehen wird. Ich versuche mich zu beruhigen: Aber ja, wenn die Hebamme barsch: »Pressen Sie!«, rufen wird, wird es die Gebärende an der Heftigkeit des Rufes erkennen. Da höre ich einen Schrei, und der spitze Bauch sackt in sich zusammen. In dem Moment klingelt das Telefon. Ich soll sofort in den Gebärsaal kommen.

Die Hebamme ruft: »Der Muttermund ist schon acht Zentimeter weit offen«, und schickt mich hinaus. Vor der dicken Tür im Gang fragt die Ärztin hastig den Ehemann aus: »Missbildungen, Zwillinge, Drillinge in der Familie?«

»Nein.«

»Diabetes? Herzprobleme?«

»Nein, nein.«

Nimmt sie Drogen? Wie steht es mit Alkohol? Raucht sie? Ist sie depressiv?

»Sie ist gesund«, ruft er laut.

Ich habe ein Blackout und verstumme. Der sich öffnende Muttermund hat mir die Sprache verschlagen. In kurzen Abständen dringen Schreie zu uns, wie die einer Eule. Auf einmal wird es still, dann hört man leises Wimmern.

Ich falle dem Mann um den Hals: »Sie hat es geschafft!«

Er hebt die Arme zum Himmel: »Möge Gott Ihnen alle Wünsche erfüllen!«

Er kramt eine Wassermelone aus seinem Rucksack und gibt sie mir. Sein Gesicht ist ein leuchtender Lampion, die Backen treten hervor, als füllte sie jemand mit Lachgas, sie dehnen sich nun anstelle des Bauches in den Sommernachmittag hinaus. Auf einem Gestell im Gebärsaal verdickt sich die Plazenta zu schwarz-roten Hügeln, die junge Mutter liegt nackt und still da, ihr Bauch ist weit, der Kopf zur Seite geneigt. Das Neugeborene öffnet die Augen.

Ich entlasse alle Sprachen, und zu Hause esse ich die Wassermelone auf.

 

Wir waren in eine vorrevolutionäre Vergangenheit geraten. Die Slogans an den Mauern riefen nicht dazu auf, die Gesellschaftsschichten abzuschaffen, sondern sie luden ein, sich auf eine Matratze mit mehreren Schaumschichten zu legen. Der seriös wirkende Mann, der auf einem Plakat versprach: »Wir sorgen für Sie«, verriet nicht, dass seine Fürsorge gekauft werden musste. Eine lächelnde Hausfrau zwang uns mit: »Das Beste für Sie« in die Knie auf den Küchenboden, um ihn zu polieren.

Mara empörte sich: »Haben wir unser Land verlassen, um die Freiheit zu bekommen, zwischen giftigen Putzmitteln zu wählen?«

Es gab keine Menschenmasse, in der wir hätten aufgehen können wie einst in unseren Demonstrationen zum Ruhm des Fabrikproletariats. Hier trugen bloß zwei Langhaarige das Transparent »Recht auf Faulheit« und waren ernst dabei wie bei der Arbeit. Ich ging mit Mara dorthin, wo sich Menschen fröhlich zusammendrängten. Doch im Kinosaal waren nur ein paar Männer. Da die Frauen in diesem Land kein Wahlrecht hatten, gingen sie wohl auch nicht ins Kino. Der Film war allerdings gar nicht politisch: Zwei Freundinnen tranken im Wohnzimmer zusammen mit einem Mann Kaffee zum Kuchen, und als sie ihre Büstenhalter auszogen, rückten die Zuschauer näher an uns heran. Bei der Science-Fiction-Szene, bei der der Filmheld seine Hose aufknöpfte, rannten wir hinaus.

Mara sagte: »Wir lassen uns von niemandem zum Kuchenessen einladen.«

Aber die Privatsphäre, die überall an Mauern und Säulen hing, sahen wir nur dort. Die Einheimischen boten den Fremden nicht an, sich auf ihren Polstergruppen das Recht auf Faulheit zu nehmen. Dafür gab es freien Eintritt in ein ehrwürdiges Gebäude, das aussah wie Höchstes Gericht, Naturhistorisches Museum und Hauptbahnhof in einem. Hier waren auf mehreren Stockwerken unter einer Glaskuppel Dinge mit diskreten Preisschildern ausgestellt. Meist unnütz, dafür farbig und aus allen erdenklichen Materialien, thronten sie majestätisch im Licht. Zeugnisse einer Hochkultur. Durch Selektion hatten sie sich aus einem Urding entwickelt. Welche Artenvielfalt, Zwischenarten, durch Mutation entstanden. Bei uns gab es – wie bei der Erschaffung der Welt – ein Brot, einen Lippenstift, eine Mutter, eine Partei, eine Fischkonserve und sehr selten eine Nylonstrumpfhose.

Es wäre grausam den Dingen gegenüber, sich für etwas zu entscheiden und all das andere zu verschmähen. Ich taumelte hinaus, setzte mich auf eine Parkbank und rupfte in Gedanken mein Durcheinander aus Wünschen kahl, bis ein einziger übrig blieb. Dann zwang ich mich zur Blindheit, ging wieder hinein, aber auch, wenn ich die Dinge nicht beachtete, riefen sie mich zu sich. Um hier einzukaufen, musste man blind und taub sein. Kurz vor Ladenschluss schnallte ich mir einen breiten Gürtel um. Den Rest des Geldes schenkte ich einem Mann, der ausgestoßen von den Dingen auf dem Gehsteig saß. Sein Bart war verklumpt, sein Hund lag eingerollt und tot neben einem leeren Napf, wie ein Ding, allerdings ohne Preisschild. Wären die Obdachlosen aus buntem glattem Plastik, würde man sie abstauben, anpreisen und hätscheln bis zum Ausverkauf. Ihr Missgeschick war, dass sie noch lebten und nicht glänzten.

 

Ich fürchtete, Mutter und Vater würden den Pakt mit dem Teufel schließen und Gott ins Spiel bringen, aber sie blieben sich gottlos treu und schwiegen. 

 

© Galiani Verlag, Irena Brežná

 

© YouTube 2012



Tweet