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Verjagt, geflüchtet, vertrieben

Von Otto Langels



 

Jan Piskorski, Die Verjagten: Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts. Originaltitel: Wygnancy – Migracje przymusowe i uchodzcy w dwudziestowiecznej Europie. Verlag: PIW.

Aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew

432 S. geb., m. Abb., Siedler Verlag, 24,99 Euro,
ISBN: 978-3-827-50025-0





Europa produzierte im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht weniger als achtzig Millionen Flüchtlinge. Entwurzelungen, Deportationen und Evakuierungen waren eine Massenerfahrung, die bis heute in vielen Familien nachwirkt. Jan M. Piskorski, Professor für Vergleichende Geschichte Europas an der Universität Szczecin/Stettin, beschreibt unter dem Titel Die Verjagten die Epoche der Vertreibungen in Europa, von den Zwangsmigrationen auf dem Balkan Anfang des 20. Jahrhunderts bis zu den sogenannten ethnischen Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien in jüngster Zeit.


„Das war so ein riesengroßer Fluchttreck. Wir sind gelaufen, Berge hoch, Berge runter - so habe ich es in Erinnerung als kleines Kind - und mussten in Wäldern übernachten, und irgendwo an einer Bahnstation stiegen wir dann ein, in so einen Viehwaggon, und wurden nach Dresden gekarrt.“

Ellen Thiemann war acht Jahre alt, als sie 1945 mit zahllosen anderen Deutschen aus dem Sudetenland gen Westen floh. Vertriebenen, Flüchtlingen und Entwurzelten wie Ellen Thiemann, die von der Geschichte überrollt wurden, gilt das Interesse des polnischen Historikers Jan M. Piskorski. In einer brillanten Studie beschreibt er nicht nur die Flüchtlingsströme des 20. Jahrhunderts, er reiht nicht nur Zahlen und Fakten aneinander, sondert verfolgt auch einzelne Schicksale mit Empathie und versucht das Massenelend in Worte zu fassen.

„Angst, seelenlose Gewalt, das Gefühl von Verloren-Sein und Vereinsamung, Revisionen und Razzien, Durst und Hunger, Kälte oder Hitze je nach Jahreszeit und Klimazone, Viehwaggons und Frachtschiffe, schließlich der Tod, der immer größere Ernte hält, zunächst unter den Schwächsten - Kindern und Greisen. Ein Soldat fällt unter Waffengeklirr, auf dem 'Feld der Ehre', und in der Regel wird zumindest ein Kreuz oder ein anderes Symbol an ihn erinnern. Vertriebene dagegen sterben still in Straßengräben, überfüllten Waggons, Eisenbahnunterführungen, Übergangs- und Internierungslagern - sie sterben unterwegs.“

Jan Piskorski bezeichnet die von Zwangsmigration betroffenen Menschen als Verjagte. Er versteht darunter alle Entwurzelten, die aus wirtschaftlichen, religiösen oder politischen Gründen ihre Heimat verlassen mussten, ob sie nun vor der näher rückenden Front, vor Kriegs- und Bürgerkriegswirren flüchteten, ob sie evakuiert oder vertrieben wurden. Die Zahlen, die der Autor zusammengetragen hat, sind erschreckend: Zwischen 1914 und 1960 wurden fünfundsiebzig Millionen Europäer Opfer von Deportationen, Flucht und Vertreibung. Damit waren mehr als zehn Prozent der damaligen Bevölkerung des Kontinents von den Gewaltmaßnahmen betroffen.
Besonders schlimm traf es die Menschen auf dem Balkan: Zwischen 1850 und 2000 mussten rund zwölf Millionen Menschen fliehen, das entsprach etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent der Bevölkerung in der Region im Zeitraum von hundertfünfzig Jahren. Piskorski schildert bekannte Flüchtlingsbewegungen wie im Zusammenhang mit dem Massaker an den Armeniern oder die Massenvertreibungen in Mitteleuropa während und nach dem Zweiten Weltkrieg, aber er lenkt den Blick auch auf vergessene Zwangsmigrationen.

Der Vormarsch Deutschlands im Ersten Weltkrieg machte innerhalb von drei Monaten anderthalb Millionen Belgier zu Flüchtlingen. 100.000 wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Als 1915 die Armeen Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches Serbien angriffen, versuchte die unterlegene serbische Armee durch die verschneiten albanischen Berge Richtung Adria zu entkommen.

„Damit begann der 'serbische Leidensweg'. Der dreihunderttausend Soldaten zählenden Armee schlossen sich rund zweihunderttausend Zivilisten an. Österreichische Luftangriffe und Überfälle der albanischen Bergbewohner, vor allem aber Frost, Regen, Hunger und Krankheiten dezimierten die Marschierenden. Der Berg Čakor erhielt damals den Beinamen 'Berg des Todes', da dort ein so kalter Wind blies, dass die Flüchtlinge im Stehen erfroren und an aufragende Eiszapfen erinnerten.“

Von der halben Million serbischer Soldaten und Zivilisten erreichten nur 160.000 lebend das Meer. Unter den Toten waren 15.000 Kinder. Hinter den Massenvertreibungen des 20. Jahrhunderts stand häufig die fatale Vorstellung, eine homogene Staatengemeinschaft verringere bewaffnete Konflikte und Kriege. Winston Churchill z.B. betrachtete Zwangsmigrationen als befriedigendes und dauerhaftes Mittel der Politik, um Mischungen der Bevölkerung und damit Unannehmlichkeiten zu vermeiden.
Stattdessen führte die Idee von ethnisch und religiös einheitlichen Nationen zu endlosen Flüchtlingsströmen mit Abermillionen Opfern und am Ende zu Genoziden. Flucht und Vertreibung ist ein heikles Thema, gerade im Verhältnis von Nachbarn wie Deutschen und Polen mit einer schwierigen, belasteten Vergangenheit. Insofern ist es bemerkenswert, mit welcher Souveränität und Sensibilität der polnische Historiker Jan Piskorski das Schicksal der Verjagten in Mittel- und Osteuropa beschreibt und sich vor falschen Parteinahmen hütet.

Wie Versöhnung aussehen könnte, beschreibt er beispielhaft an dem katholischen Pfarrer Edmund Helewski, der wegen seiner Kritik am Nationalsozialismus von Berlin in die polnische Provinz versetzt worden war, nach dem Krieg aber nicht nach Deutschland zurückkehren wollte. Polen beschimpften ihn als Hitlerschwein und raubten ihn aus, Helewski blieb dennoch.

„Pfarrer Helewski lebte über der Kapelle im ersten Stock eines beschädigten kleinen Hauses. Er ließ keinen Zweifel, wer für den Krieg verantwortlich war und dass es dafür eine Strafe geben müsse. Man dürfe kein weiteres Unrecht zulassen, wenn Europa leben soll, so der Pfarrer, da sollten die guten Kräfte, zumal die Nachbarländer Polen und Deutschland, sich die Hand für eine bessere Zukunft reichen. Je eher, je besser.“

Der Pfarrer Edmund Helewski ist einer der wenigen Lichtblicke in Jan Piskorskis beeindruckendem Buch. Der Tenor seiner Darstellung ist deprimierend, was angesichts der Thematik nicht weiter verwundert. Auch die Zukunft sieht der Autor pessimistisch und bezeichnet die Außengrenzen der EU als neuen europäischen Limes.

„Obwohl es paradox klingt: Je moderner, wohlhabender und besser organisiert eine Gesellschaft ist, desto mehr verlangt sie von Migranten, und umso eher gelten diese als potenzielle Bedrohung des Wohlstandes und des sozialen Friedens. Daran ändern alle Flüchtlingskonventionen nichts, die immer nur eine Reaktion auf die wachsenden Bedrohungen sind.“

Europa reagiert abwehrend und abschreckend auf die heutigen außereuropäischen Flüchtlingsströme, als hätte es die kollektive Erfahrung erzwungener Flucht im 20. Jahrhundert auf dem eigenen Kontinent nicht gegeben und als hätte nicht unlängst der Zerfall Jugoslawiens neue Wellen der Zwangsmigration ausgelöst. Jan Piskorski führt uns eindringlich vor Augen, dass wir nur dank historischer Zufälle sicher in warmen Häusern leben, aber eigentlich alle potenzielle Flüchtlinge sind.

„Europa baut immer mehr Museen für die Opfer der Vergangenheit und wendet sich zugleich von den Opfern der Gegenwart ab.“

© Mit freundlicher Genehmigung des Autors, Sendung:
http://www.deutschlandfunk.de/vertrieben.1310.de.html?dram:article_id=259240; Foto: Flüchtlinge in Lampedusa, dpa


 



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