Janne Teller – Wer bist du? Wer möchtest du sein?
12. Internationales Literaturfestival Berlin 2012
Plädoyer der Schriftstellerin während des 12. Internationalen Literaturfestivals Berlin - EUROPE NOW
Wir brauchen eine echte europäische Identität, ein Ideal, das Europa heute und in Zukunft zusammenhält. Ich schlage vor: diskrete Qualität.
»Wann wird man Europäer? Wie denkt ein Europäer? Wie sieht ein Europäer aus? Wie klingt ein Europäer? Wie riecht, fühlt, schmeckt ein Europäer …?« Das fragt ein Kriegschirurg aus der Karibik in einem meiner Romane wie ein Echo der Fragen, die ich von vielen Nichteuropäern rund um den Erdball gehört habe. Unterdessen habe ich so gut wie nie gehört, dass sich Europäer über gemeinsame Charakteristika Gedanken gemacht haben. Dagegen scheinen wir in ganz Europa – und das leider in steigendem Maße – davon besessen, unsere nationalen Identitäten zu definieren und zu verteidigen, ohne zu berücksichtigen, dass das ein überholtes und in die Vergangenheit gerichtetes Bestreben ist, das im Vorhinein zum Scheitern verurteilt ist, während es einen Glückschrein der Pandora für Extremisten öffnet, denen die derzeitige Desorientierung ein schönes Leben im Überfluss ermöglicht.
Und was noch schlimmer ist: Es lässt Europas gemeinsame und somit unser aller Zukunft in den Händen von Politikern und Technokraten, die größtenteils bereits demonstriert haben, dass sie – beziehungsweise das System, in dem sie operieren – sich nicht um unsere Zukunft kümmern können.
Die Wirtschaftskrise – kombiniert mit einem kleinen, aber stetigen Strom von Immigranten und Flüchtlingen aus weniger wohlhabenden Teilen der Welt – hat den Schleier vor einem Europa gelüftet, das in den fünfzig Jahren seiner vereinten Existenz nur eine geringe gemeinsame Identität und Solidarität entwickelt hat. Die Geschichte des Kontinents scheint vergessen und die Führer der europäischen Staaten verfallen mit wenigen Ausnahmen einer nationalistischen und xenophoben Rhetorik. Es ist die Intoleranz der radikalen Rechten, angeführt von Leuten wie Marine Le Pen, Geert Wilders und Pia Kjærsgaard, die die Tagesordnung der Mainstream-Politiker festsetzen, und nicht umgekehrt. In Teilen Osteuropas haben ehemalige Bürgerrechtsvorkämpfer wie der ungarische Staatsminister Viktor Orbán und der slowakische Staatsminister Robert Fico die freie Marktwirtschaft so gut studiert, dass sie kurzen Prozess gemacht haben: die Rhetorik der radikalen Rechten ist heute ihre eigene Machtbastion.
Doch was gaukeln wir uns vor, welche Probleme unsere populistischen Politiker für uns lösen, wenn sie in die nationalen Exklusionstrompeten blasen – heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts?
Ungeachtet, ob wir das wollen oder nicht, leben wir bereits in einer multikulturellen Welt [sehen Sie sich um, wenn sich nicht jemand noch einen Völkermord in Europa wünscht, wird sich daran nichts ändern]. Europas Staaten sind heute so miteinander verflochten und voneinander abhängig, dass wir keine wesentlichen Probleme in einem Land lösen können, ohne auf Europa als Ganzes zu schauen.
Ob wir das wollen oder nicht, wird der Druck auf Europas Grenzen kontinuierlich zunehmen, solange es wesentliche Unterschiede im Lebensstandard und in der Sicherheit zwischen uns und anderen Teilen der Welt gibt. Ob wir es wollen oder nicht, tragen wir einen nicht unwesentlichen Teil der Verantwortung für unsere weniger begüterten Mitmenschen, nicht nur weil unser Teil der Welt reicher ist, sondern auch weil wir, die Europäer, mit der Globalisierung angefangen haben. Dem jahrhundertelangen brutalen Kolonialismus folgten Jahrzehnte des rauen Kalten Kriegs und der wirtschaftsegoistischen Aufteilungspolitik. Natürlich ist ein Teil der Probleme von lokaler Beschaffenheit. Doch der größte Teil der Diktatoren, vor denen die Menschen flüchten [oder gegen die sie im »arabischen Frühling« zurzeit aufbegehren], wird direkt oder indirekt von unseren europäischen Regierungen unterstützt.
Statt der derzeitigen Parolen wie »Haltet sie draußen«, »Schickt sie zurück«, »Wer hierher kommt, muss
genauso werden wie wir« und »Schieb das Problem [ = die Menschen und/oder die Länder in Not] deinem Nachbarn zu« oder »Die Deutschen bezahlen!« brauchen wir eine seriöse, weitsichtige und allumfassende Vision für ein EUROPA DER BÜRGER, die sowohl für Europa als auch für die Welt außerhalb Europas die Bedürfnisse Europas abdeckt, die aus fünf Hauptelementen bestehen:
I. EUROPÄER/IN SEIN
Wir als Europäer müssen zuallererst Europa annehmen! Vergessen Sie Technokraten, Politiker und Verträge und erinnern Sie sich, was Europa zuallererst ist: unsere Region, die wir bevölkern und von der wir abhängig sind, ungeachtet, ob wir im Süden, Norden, Osten oder Westen leben. Es gibt sehr viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Ein Großteil von uns hat [wie auch ich] eine gemischte DNA und Kultur über nationale Grenzen hinweg, genau wie auch unsere Geschichte, unsere Traditionen und unsere Kultur das haben. Wie viel [über einige unserer Sprachen hinaus] kann real einer und nur einer Nation zugeordnet werden?
Nationalstaaten sind ein Konstrukt. Die meisten existieren nicht länger als ein paar Jahrhunderte. Die gefühlsmäßigen Bande, die wir zu unserer Herkunftsregion, der Landschaft und der Lebensweise knüpfen, würden auch ohne eine nationale Zugehörigkeit bestehen. Es ist lediglich unsere Identifikation mit dem Illusionsbukett aus den Charakteristika, die wir gelernt haben, mit unserem Nationalstaat zu verbinden, die sich uns eher dem Nationalbegriff als unserem Kontinent ]und was das angeht, unseren Mitmenschen] zugehörig fühlen lässt.
Der Umzug in einen anderen Nationalstaat macht einen nicht zu einem anderen Menschen, obwohl man sich notwendigerweise vielleicht anders verhalten muss, um sich verständlich zu machen und in die andere Kultur einzupassen. Weil unsere inneren menschlichen Charaktereigenschaften ungeachtet unserer Nationalität dieselben bleiben. Ob man ein guter Mensch ist oder nicht, ehrlich, mutig, höflich, fleißig, großzügig oder geizig, manipulierend, boshaft, faul, feige und so weiter – das hat mit den persönlichen Charakterzügen zu tun, egal welcher Sprache und welcher kulturellen Codes man sich bedient. Und nicht damit, bei welcher Fußballnationalmannschaft man Tränen in den Augen hat, wenn sie gewinnt.
Wenn wir verhindern wollen, dass Europa mit allem, was sich daraus ergeben kann, auseinanderbricht, müssen wir uns jetzt entscheiden, an erster Stelle Europäer zu sein und dann erst Staatsbürger. Jetzt müssen wir zeigen, dass wir eine Gemeinschaft und bereit sind, einander beizustehen. Statt bei dem Projekt Europa die Handbremse zu ziehen, sollten sich wirtschaftlich stärkere Länder außerhalb der Eurozone wie unter anderem Dänemark ihm anschließen. Wir müssen dem tschechischen Präsidenten Václav Klaus und Gleichdenkenden erklären, dass seine Skepsis gegenüber Europa in den Müllcontainer für verdorbenes Essen und längst überholte politische Optionen gehört.
Die Bevölkerung Europas muss hier und jetzt zusammenstehen und von ihren Politikern fordern, dass sie den Rahmen unseres Europas nicht einschränken. Die Wirtschaftskrise darf keine Entschuldigung dafür sein, Europa zugunsten eines neuen Nationalismus zu zerstören. Die Krise muss dort gelöst werden, wo sie entstanden ist: im Finanzsektor!
Das Scheunentor für wahnsinnige Pyramidenspiele aus finanziellen Spekulationen, das die Deregulierung des Finanzsektors geöffnet hat, muss wieder geschlossen werden. Nicht Europas Grenzen!
II. ETHISCH ZUSAMMENHÄNGENDE POLITIK
Europa braucht einen zusammenhängenden und ethisch verantwortlichen wirtschaftlichen und politischen Zugang zu der Welt außerhalb Europas – egal was uns das auf kurze Sicht kostet. Das ist die einzige Art und Weise, wie wir auf längere Sicht in Übereinstimmung mit den demokratischen Werten, für die wir zu stehen behaupten, zu einem würdigen Europa kommen können. Das ist auch – wenn man das will – die einzige Art und Weise, wie wir jemals auf eine mitmenschlich verantwortliche Weise den Strom von Flüchtlingen und Immigranten nach Europa eindämmen können.
Keine Zäune können verzweifelte Menschen, die oft mehrere Jahre unterwegs waren und die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um über das Mittelmeer zu kommen, davon abhalten, einen Weg nach Europa hinein zu finden. Doch selbst wenn eine ausreichend hohe, mit Stacheldraht versehene Betonmauer wirklich notleidende Menschen draußen halten könnte, wollten wir so leben? Eingezäunt in unserem reichen Tennisklub auf der »richtigen« Seite eines globalen Apartheidssystems? Zu was für [Un-]Menschen macht ein solches System uns selbst? Es geht nicht darum, extra teure Pflaster aus Entwicklungshilfe auf blutende Wunden zu kleben. Wir müssen unsere Handelsregime überprüfen, unsere Agrarpolitik, unsere Wirtschafts-, Umwelt- und Klimapolitik usw. und nicht zuletzt unsere politischen Allianzen und sehen, welche den Menschen dienen und welche nicht.
Wir müssen von unseren Regierungen und Unternehmen fordern, dass sie nicht länger in Diktaturen
investieren oder diese mit Militärhilfe und auf andere Weise unterstützen. Ebenso müssen wir unser Handelssystem radikal umstellen, sodass ein gleiches Zollsystem für Rohwaren und verarbeitete Waren geschaffen wird, in dem besonderes Gewicht darauf gelegt wird, dass die verarbeiteten Mineralien, Landwirtschaftsprodukte, Textilien und anderes, mit dem die armen Länder mit uns konkurrieren können, nicht auf unüberwindbare Handelshindernisse treffen. Gleiches gilt für alle anderen Gebiete: Wie können wir behaupten, an die Menschenrechte und die Gleichberechtigung der Frau zu glauben, wenn wir weiterhin schamlos Öl in Saudi-Arabien kaufen und so das frauenfeindlichste Regime der Welt unterstützen? Wie können wir behaupten, dass wir die Umwelt schützen wollen, wenn wir unsere giftigen und chemischen Abfälle in ungeschützten Müllkippen im Senegal, in Nigeria und anderen Ländern Afrikas entsorgen?
III. FUNKTIONALITÄTSBASIERTE INTEGRATIONSPOLITIK
Wir brauchen einen inkludierenden, einen einschließenden Zugang für unsere neuen Mitbürger, der auf Funktionalität basiert. Ziel muss es sein, allen die Möglichkeit zu geben, zu aktiven Bürgern in Europa zu werden und sich als positiver Teil ihrer neuen Heimat zu fühlen.
Statt endlos Kultur- und Religionsunterscheide zu diskutieren [jede Religion lässt sich auf ebenso viele Arten interpretieren, wie sie Anhänger hat], muss sich eine neue europäische Integrationspolitik auf Funktionalität konzentrieren: Wenn ein Verhalten – und das ungeachtet der kulturellen oder religiösen Begründung – gegen die demokratischen oder die Freiheitsrechte des einzelnen Menschen verstößt oder auf eine andere Weise unvereinbar ist mit der Funktion der Gesellschaft, kann es nicht akzeptiert werden. Umgekehrt besteht kein Grund, eine Verhaltensweise überhaupt zu diskutieren, wenn sie nicht gegen diese verstößt.
Auf dieser Grundlage lassen sich viele emotionsbelastete Dilemmata ganz einfach auflösen: Die Beschneidung von Mädchen ist sowohl Kindesmisshandlung als auch ein Verstoß gegen das Recht der einzelnen Frau, über ihren Körper selbst zu bestimmen, und kann deshalb nicht geduldet werden.
Sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe ist im Gegensatz dazu eine Entscheidung, über die sich »Nichtsexuell-Enthaltsame« nicht zum Richter machen dürfen. Einer mündigen Person mit einer Zwangsehe zu drohen ist ebenso inakzeptabel wie alle anderen Formen von Bedrohung und Zwang. Burkas stellen in Europa ein Problem dar, weil bei uns die Gesichtskennung der Identifikation dient. Deshalb kann die Verschleierung des Gesichts in öffentlichen Räumen nicht akzeptiert werden. Hijab [oder was das angeht, Kreuz, Kalotte, Turban], Verzicht auf Schweinefleisch, Halal oder koschere Speisen, Moscheen, muslimische Grabstätten usw. verstoßen dagegen in keiner Weise gegen die Funktion der Gesellschaft, hier geht es genau wie bei anderen Fragen lediglich um persönliche Entscheidungen. Gewalt oder die Androhung von Gewalt ist inakzeptabel, ungeachtet von wem, gegen wen oder aus welchem Grund.
IV. EUROPÄISCHE IDENTITÄTSDEFINITION: DISKRETE QUALITÄT
Um irgendetwas des Vorgenannten verwirklichen zu können, benötigen wir eine klare Idee, was es heißt, Europäer zu sein: eine europäische Identitätsdefinition, die für uns alle Platz hat – nicht zuletzt für alle neu hinzugekommenen Europäer.
Der Grund dafür, dass die USA sehr viel leichter Immigranten absorbieren können als Europa, ist der,
dass ihre Identitätsdefinition fluid ist, sodass sie alle Menschen, ungeachtet ihres Hintergrunds, annehmen können: The American dream to make it.
In Europa definieren die einzelnen Länder und Subkulturen sich in kleinen normativen Schubladen, abhängig davon, wie wir gekleidet sind, beten [oder nicht], Weihnachten und andere Feste feiern, von unseren Traditionen und Vorvätern, unserer Geschichte. Eine Identitätsdefinition, die so verknöchert ist, dass sie Risse bekommt, sobald sie in Kontakt mit anderen Normen gerät. Zugleich kann die dazugehörige persönliche Selbstdefinition sich den neuen Kulturen, die jetzt unsere Region bewohnen, weder anpassen noch diese absorbieren. »Ich bin Däne, deshalb bin ich weiß, Christ, esse Schweinefleischfrikadellen und trinke Bier, habe Sex, bevor ich fünfzehn bin, feiere Weihnachten und Ostern, habe Ahnen, die auf einem Hof gelebt haben, und trage, egal ob ich ein Junge oder ein Mädchen bin, Jeans …«
Wir brauchen eine europäische Identität, auf die sich alle beziehen können, ungeachtet ihrer Hautfarbe oder Kultur, Religion, ihrer Traditionen, Ess- oder anderer Gewohnheiten.
Nachdem ich in vielen Ländern in und außerhalb von Europa gelebt habe, schlage ich als besonderes Kennzeichen unserer Region die besondere Freude an »Diskreter Qualität« vor. Wir prahlen nicht [wenn wir am besten sind!], wir brauchen nicht das Größte, das Schnellste oder das Reichste, wir brauchen es vor allem nicht zu zeigen; wir lieben die ganz eigene Schönheit der Diskretion, die Größe, die in echter Qualität liegt, die Aufmerksamkeit dem Detail gegenüber, das gerade eben mit den Sinnen erahnt wird, das man jedoch nicht laut hinausposaunt.
Diese Suche nach diskreter Qualität hat sich zeitgleich mit der Entwicklung unserer europäischen Kultur, unserer Architektur, unserer Denker und unserer Kunst über die Jahrhunderte entwickelt. Man trifft sie überall, in den Mustern des Parkettbodens, in Kristallglas und Porzellan, in Möbeln, Mode, Essen, Skulpturen, Filmen, Städteplanung, Gartenbepflanzung und nicht zuletzt in unserem Verhalten.
Diskrete Qualität ist kein verschließender äußerer Rahmen, sondern ein inneres Ideal. Nationale und lokale Eigenheiten Europas sind nicht bedroht, sondern erhalten mehr Platz in dem Augenblick, in dem sie sich öffnen und auch was andersartig ist innerhalb ihrer eigenen Lokalität Platz einräumen.
Zu dem Stolz, den wir angesichts unserer schönsten Schlösser und besten Philosophen, unserer Weine und unserer Literatur empfinden – und nicht zuletzt zu dem Stolz auf deren unfassbare Variationsbreite –, können alle neu hinzugekommenen Europäer auf die eine oder andere Weise beitragen: mit einer besonders verlockenden afghanisch-europäischen Musik, einem besonders interessanten afrikanisch-europäischen Möbelstück, einer schönen arabisch-europäischen Poesie, der Architektur, einem Restaurant, einem Stil, ja, mit was auch immer, solange das Ziel echte diskrete Qualität ist.
V. EUROPAS FUSSSPUREN SIND WIR
Schließlich ist es höchste Zeit, dass wir uns daran erinnern, wie Denken und Tun zusammenhängen: Das, was wir denken, bestimmt, wohin wir treten können, doch erst das, was wir tun, bestimmt, welche Fußspuren wir hinterlassen – und damit, wer wir sind.
Wenn wir unsere Umwelt und unsere Mitmenschen weiterhin so heuchlerisch behandeln, wie wir das im Moment tun, unterminieren wir auf lange Sicht unsere eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen – doch wir höhlen auch den Wert gerade der Lehrsätze aus, die wir ansonsten als die zentralsten unserer europäischen Zivilisation ansehen: »Alle Menschen sind gleich geboren« und »Behandle deinen Nachbarn, wie du selbst gerne behandelt werden möchtest«. Um Erbe eines Gedankens zu sein, muss man ihm auch nacheifern – oder ihn sich zumindest bei allem, was man tut, zum Maßstab und Kompass nehmen.
An dem Tag, an dem wir uns nicht durch unsere Hautfarbe [ja, die Europäer waren einmal weiß, aber das sind wir nicht mehr!] und andere äußerliche Kennzeichen identifizieren, sondern durch ein gemeinsames Ideal und wie sich dieses auf die Essenz unseres Charakters auswirkt und damit auf unsere Handlungen, wird Europa nicht mehr im Konflikt mit sich selbst sein – oder mit seinen neu hinzugekommenen Miteuropäern. Sondern stattdessen zu einer vielstimmigen Symphonie werden, einer unendlichen Variation des gemeinsamen Themas: diskrete Qualität.
An dem Tag, an dem wir uns erinnern, dass diskrete Qualität auch bedeutet, in Übereinstimmung mit unseren eigenen Werten zu handeln, wagen wir vielleicht selbst die Frage zu stellen und zu beantworten: EUROPA, wer bist du? Wer möchtest du sein?
2012
© Janne Teller, ILB 2012
Janne Teller, *1964 in Kopenhagen, hat österreichisch-deutsche Wurzeln. 1988 Abschluss in Volkswirtschaftslehre an der Universität von Kopenhagen, danach im Bereich Konfliktbewältigung und humanitäre Hilfe und Entwicklung in vielen Ländern von Bangladesch bis Simbabwe tätig. Sie lebte einige Jahre in Mosambik und Tansania, außerdem in Frankreich, Belgien und Italien. Seit 1995 professionelle Schriftstellerin. Mit ihren Romanen (vor allem ihrem sehr lesenswerten Roman Nichts, der in Dänemark einen Skandal provozierte), einer Vielzahl von Kurzgeschichten und politisch-philosophischen Essays hat sie häufig kontroverse Diskussionen ausgelöst.
Literatur:
Odins Insel.Aus dem Dänischen von Hanne Hammer. Goldmann Verlag, München, 2002. Original: Odins ø. (1999)
Die sieben Leben der Katze. Übersetzung aus dem Dänischen: Hanne Hammer, btb Verlag, München, 2008. Original: Kattens tramp (2004) Dt. Neuausgabe: Europa. Alles, was dir fehlt. (2011)
Nichts – Was im Leben wichtig ist. Aus dem Dänischen von Sigrid C. Engeler. Carl Hanser Verlag, München.2010. Original: Intet. (2000)
Krieg – Stell Dir vor, er wäre hier. Aus dem Dänischen von Sigrid C. Engeler. Carl Hanser Verlag, München, 2011. Original: Hvis der var krig i Norden. (2004)
Komm. Übersetzung aus dem Dänischen: Peter Urban-Halle, Carl Hanser Verlag, München, 2012. Original: Kom, Gyldendal, Kopenhagen 2008
Eine Geschichte für Europa – Was für eine Literatur brauchen Kinder und Jugendliche in Europa?
Von Janne Teller (USA/Dänemark)
Über die Bücher, die ich ausgesucht habe, möchte ich nicht viel sagen. Bücher sollte man lieber lesen, statt über sie zu sprechen. Was sie können, was sie lesenswert macht, ist eben die Tatsache, dass sie etwas durch die Schrift vermitteln – und damit durch das Vorstellungsvermögen des Lesers –, etwas, das auf andere Weise nicht vermittelt werden kann.
Ich habe mir erlaubt, nicht ein Buch, sondern zwei Bücher auszusuchen, die, wie ich finde, zusammengehören, obwohl sie auf den ersten Blick völlig verschieden sind.
Das erste ist ein Bilderbuch von Mischa Damjan, Die Maus, die an das Gute glaubte, weil es meiner Meinung nach dazu beitragen kann, uns zu Menschen zu machen, die es wert sind, überhaupt zu sein.
Das Buch handelt von einem Mäuschen, das seiner Mutter nicht glaubt, dass es vor der Katze Angst haben muss. Denn das Mäuschen will der Katze ja nichts Böses, warum also sollte die Katze ihm Böses wollen? Anstatt das Weite zu suchen, wenn die Katze kommt, erzählt es Geschichten. Die Katze zu ändern gelingt dem Mäuschen nicht. Aber das Leben der Blumen, Vögel und anderen Tiere wird ein wenig schöner und ein wenig heller, wenn das Mäuschen seine Geschichten erzählt. Und das Stinktier, das in seinem Versteck aus der Entfernung zuhört, freut sich so sehr über die Geschichten, dass es ganz und gar vergisst zu stinken.
Ich bekam das Buch als Achtzehnjährige von meinem damaligen Freund, und obwohl es zunächst einmal für kleine Kinder ist, hinterließ die Geschichte bei mir einen bleibenden Eindruck. Immer wenn mich der Mut zu verlassen droht und der Glaube, dass es sich lohnt, sich für die eine oder andere Sache einzusetzen, denke ich an dieses Buch.
Seine Geschichte sagt uns, dass es sich lohnt, Gutes zu tun! Ja, vielleicht kann nicht jeder Einzelne von uns die Welt verbessern, wie wir es uns wünschen würden. Aber wenn wir es nur unablässig versuchen, verbessern wir sie ganz bestimmt – selbst wenn es vielleicht in Bereichen geschieht, an die wir gar nicht gedacht haben, oder wenn wir selbst es vielleicht gar nicht erfahren.
Das zweite Buch, Bertrand Russels Philosophie des Abendlandes, beschreibt den Ursprung der Philosophie und ihre Wechselwirkung mit der parallel verlaufenden kulturellen, sozialen und politisch-historischen Entwicklung. Es ist eigentlich ein Buch für Erwachsene. Aber trotz seines umfassenden Stoffs ist es leicht zugänglich und ich glaube, das ist es, was man als junger Mensch heutzutage lesen will, um ein Fundament für das Verstehen zu haben – und sich also auch verhalten zu können, sowohl in der realen Welt als auch in der Gedankenwelt in unseren Köpfen. Philosophie des Abendlandes setzt genau dort ein, wo sich die modernen Schulen zurückzuziehen scheinen: mit großem Wissen und großer Einsicht, mit Zusammenhängen und durchdachten Analysen aus einer weitreichenden historischen Perspektive. Obwohl das Buch schon 1953 geschrieben wurde, habe ich etwas Besseres nie wieder entdeckt.
Ich las das Buch übrigens im selben Jahr wie Mischa Damjans Buch: als ich achtzehn war, und mein Weltbild hat sich dadurch schlagartig verändert!
Für heutige junge Europäer ist das Buch deshalb so wichtig, weil es ihnen sagt, auf welcher Stufe wir als Bürger in Europa, aber auch als europäische Bürger in der Welt stehen. Es bietet einen einzigartigen Zugang zu unserer Geschichte, der Religion, unserem Kultur- und Gedankenerbe und der Entwicklung all dieser Phänomene sowie dem Zusammenspiel mit und der Abhängigkeit von der restlichen Welt. Nicht zuletzt zeigt uns das Buch, wie die wissenschaftliche und philosophische Entwicklung auf der breiteren geschichtlichen Gegenwart aufbaut, dass das oft sogenannte europäische Kulturerbe ohne das Denken aus nichteuropäischen Zivilisationen nicht existierte und wie eng alle Religionen, besonders die drei monotheistischen, miteinander verknüpft sind.
Ohne dass es sein Ziel wäre, zeigt uns das Buch, wie lächerlich Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Faschismus sind: weil alles, was wir sind, von dem abhängt, was die anderen sind.
Aber es zeigt uns auch, dass wir nicht davon ausgehen können, ein kluger Gedanke, der gedacht wurde und der bekannt ist, würde auch sogleich in die Tat umgesetzt werden: Seit der frühen athenischen Demokratie und mit vielen Rückschlägen unterwegs sollten einige Tausend Jahre vergehen, ehe sich Europa tatsächlich für die Demokratie als Regierungsform entschied. Vielleicht wird mancher Leser bei dem Gedanken an die Freiheitsrechte des Einzelnen das in den letzten Jahren ungeheuerliche Aufleben von Menschenhandel und Sklaverei in neuer Form etwas näher betrachten…?!
Indem Russells Philosophie des Abendlandes dem Leser zeigt, welch großen Einfluss der einzelne Mensch auf seine Mitwelt – und damit auch auf seine Nachwelt – haben kann, begreifen wir, warum es von entscheidender Bedeutung ist, dass jeder Einzelne von uns, in jeder existierenden und zukünftigen Generation, sich entschließt, eine Maus, die an das Gute glaubt, zu sein!
Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle
© Janne Teller, ilb 2012
© Janne Teller liest aus Krieg, Hanser Verlag