Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011. 320 S., geb., 18,95 Euro,
ISBN: 978-3-462-04292-4
„Mit achtzehn ging ich für ein Jahr nach Amerika“, so lapidar beginnt der Roman Alle Toten fliegen hoch von Joachim Meyerhoff, eine coming-of-age-Geschichte, die im wesentlichen auf der eigenen Biographie basiert, die der Burgtheater-Schauspieler bereits als sechsteiligen Zyklus für die Bühne adaptiert hatte (der prompt zum BerlinerTheatertreffen 2009 eingeladen wurde). Erinnerung und die Möglichkeiten, das Erinnerte zu erzählen, werden facettenreich ausgelotet. Seine Lust an Übertreibungen, sich lustig zu machen und nicht allzu wichtig zu nehmen, sein Hang, Witze zu erzählen und Anekdoten pointiert einzusetzen und überbordend auszuschmücken, sind ein wahrer Genuss beim Lesen. Dem Autor verschafft dieser Mix vermutlich die notwendige Distanz, sich nicht vollkommen preiszugeben, wenn er sich schon offenbart bzw. uns teilhaben lässt, wie er sich immer wieder auf die Schliche kommt und selber auf die Schippe nimmt. Er will sich nicht allzu ernst nehmen; traurige, ernste Dinge werden durchaus nicht ausgespart, aber gelassen und mit leiser Ironie, ja Heiterkeit, erzählt, manchmal auch nur kurz, wie nebenbei, gestreift. Für gewöhnlich ist das Leben eine Abfolge banaler Vorkommnisse und eher geprägt von Ereignislosigkeit als von Aufregung und Abenteuer. Aber bekanntlich sitzt der Teufel im Detail – und es sind diese Ingredienzien, die die Geschichte von Joachim Meyerhoff rasant vorantreiben und sie lebendig und tragikomisch gestalten.
Er wächst in einer sicheren und liebevollen Umgebung heran, muss nicht rebellieren, weder gegen Elternhaus noch Schule, fühlt sich aufgehoben und respektiert. Genau deshalb drängt es ihn aber auch weg, aus dieser freundlichen Beschaulichkeit, der immmerwährenden Nähe und der fest gefügten, ehernen Überschaubarkeit der Verhältnisse. Dem Jugendlichen wird klar, dass er zum ersten Mal Abstand gewinnen muss, sich die eigenen Leute vom Hals halten, sich aus der permanenten Umarmung lösen muss. Er braucht einen Blick von außen, aus der Ferne auf sein bisheriges Leben.
Die Aufnahmeprüfung für sein Austauschjahr in den USA Mitte der 1980er Jahre ist ein einziges Desaster: weiterlesen und lachen müssen sind hier eins. Seine Konkurrenten sind allesamt unerträgliche, eitle Schnösel, wegen denen er glaubt, nicht mithalten zu können. Um überhaupt noch einen Platz zu ergattern, gibt er sich betont bürgerlich, religiös und provinziell, was er natürlich irgendwie auch ist, aber nicht ganz so prononciert - und landet natürlich genau dort, wohin er nicht wollte: in der ereignislosesten amerikanischen Provinz, die man nur alpträumen kann, in einer erzkonservativen, tief religiösen Kleinstadt in Wyoming. Die Teenager scheinen direkt billigen b-pictures entstiegen: die Männer von klein auf schon testosterongesteuert, die Frauen und Mädchen penetrant auf ihre Weiblichkeit bedacht. Er wird schikaniert, mit seinem miserablen Englisch zunächst auch nicht für voll genommen. Erst als Mitglied im Basketball-Team der Schule kann er endlich reüssieren, wird auch sein Körper athletischer und männlicher. Vor einem wichtigen Spiel rasieren sich alle Spieler die Köpfe. Er trennt sich nur widerwillig von seinem dichten blondgelockten Haar, das er immer schon so getragten hat. Dieser Entschluss markiert auch so etwas wie das Ende der Kindheit. Zunächst wird er aber noch einmal mit seiner Vergangenheit konfrontiert: einer seiner Brüder stirbt bei einem Verkehrsunfall. Nach der Beerdigung, zu der er nach Hause fliegt, flüchtet er vor der elterlichen Trauer regelrecht wieder zurück in die Staaten, Gedanken an seinen toten Bruder und ein schlechtes Gewissen plagen ihn monatelang. Es ist ein schmerzlicher Verlust, und er weiß nicht, wie er mit diesem Schmerz umgehen soll. Auch später, als Meyerhoff wieder in Deutschland ist, kann er lange nicht auf den Friedhof gehen, weigert sich ostentativ, über den Unfall und den toten Bruder zu sprechen. Das Austauschjahr hat ihn erwachsen, die Erfahrungen mit seiner Gastfamilie, seinen MitschülerInnen haben ihn offener und selbstbewusster gemacht. Die aus dieser Zeit gewonnenen Erkenntnisse bescherten offensichtlich ihm und nun auch uns einen ganz außergewöhnlichen Humor, eine erzählerische Leichtigkeit, die understatement, Klugheit und Ironie so in Einklang bringt, als sei es das Einfachste von der Welt.
Zum Weglaufen ist das gruselige Cover: Ganz der Authentizität verpflichtet, die sich aus dem 80er-Jahre-Denver-Dallas-Look speist, zeigt es Fotos damaliger MitschülerInnen – wie immer beim Blick in diverse modische Vergangenheiten fragt man sich beunruhigt, wie es möglich war, dass auch vernunftbegabte Menschen (wie man selber!) sich freiwillig dem vorherrschenden Diktat unterworfen haben, lauter Sünden und Verbrechen an der Ästhetik springen einen da an. Es aufatmendes Vorbei stimmt uns jedoch gnädig und hoffnungsfroh...
© Katja Schickel/www.letnapark-prager-kleine-seiten.com