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Ich, wir und die Anderen im Netz

von Kathrin Passig


„Alle schreiben so furchtbar viel Unfug bei Facebook und bei Twitter“, muss man oft von Menschen hören oder lesen, die gar nicht so neu im Internet sind. „Aber du hast dir die Leute doch ausgesucht, denen du da folgst“, sage ich dann, „in meinem Internet stehen lauter intelligente und interessante Dinge.“ Das lässt mich klug und den anderen dumm aussehen. Es stimmt nur leider nicht ganz. Meine Freunde und die Menschen, denen ich bei Twitter folge, geben neben ihren intelligenten Beiträgen falsche Meinungen und unhaltbare Ansichten in erheblicher Menge von sich. Täglich möchte ich mit dem digitalen Besen an die digitale Decke klopfen, um sie davon abzubringen. Man kann – wie es die Klageführer in der Regel tun – annehmen, es sei Facebook, das die bisher so klugen Freunde auf rätselhafte und vermutlich irgendwie amerikanische Weise verdumme. Oder man kann vermuten, dass die Freunde schon immer zweifelhafte Ansichten und Vorlieben hatten und die sozialen Netzwerke diesen Sachverhalt nur ans Licht bringen.
Im direkten Gespräch mit Freunden kommen kontroverse Themen eher selten und vorsichtig dosiert vor. Gemeinsames Gut- und Schlechtfinden macht mehr Freude und festigt die Beziehung. Im Netz aber sind in den letzten Jahren viele Orte entstanden, an denen man es nicht mehr mit einer Gruppe zu tun hat, auf die man seine Äußerungen zuschneiden kann. Die private Rede findet öffentlich statt. Freunde und Bekannte sehen, was man alles sagt, meint, mag und ablehnt – auch dann, wenn sie selbst gar nicht die direkten Adressaten sind. Das geschieht in allen sozialen Netzwerken, die nennenswerte Verbreitung genießen und nicht weiter thematisch eingegrenzt sind, im Moment vor allem bei Facebook und Twitter.
Trotz der Beschwörung der Filterbubble, die dank homogener Bekanntenkreise alle kontroversen Themen zuverlässig ausschließen soll, ist in den sozialen Netzwerken auf gar nichts Verlass. Egal, wie selbstverständlich eine bestimmte Haltung zu Homoehe, Religion oder Fahrradhelmen einem selbst erscheinen mag, am Rande und oft sogar inmitten des Bekanntenkreises gibt es immer jemanden, der sie nicht teilt und daraus kein Geheimnis macht. Kaum hat man sich mühsam die Vorstellung eines in den wesentlichen Fragen einigen „Wir“ gebildet, da stellt sich bei der nächsten Gelegenheit heraus, dass es sich bei der Hälfte dieses Wir in Wirklichkeit um Die Anderen handelt.
Pessimisten erklären, in den sozialen Netzwerken setze man vorsichtshalber auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, um nicht unangenehm aufzufallen. Aber das lindert das Problem nur dann, wenn man es ausschließlich aus der Autorperspektive betrachtet. Aus Lesersicht wird offensichtlich, dass noch der unschuldigste Beitrag Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit der Welt auslösen kann, wenn der Leser grundsätzliche Einwände gegen Mittagessensfotos, Katzenscherze oder Zwinker-Smileys hegt. Konfliktträchtige Äußerungen werden oft im Glauben getätigt, sie seien harmlos oder ganz unkontrovers – die Leser bringt dieses mangelnde Problembewusstsein manchmal noch mehr auf als ein bewusster Affront. Auch im homogensten Freundeskreis wird man täglich jemanden verstören oder irritieren und selbst durch die Beiträge der anderen verstört oder irritiert werden.
Gemeinschaft war bis zum Auftauchen des Internet ein knapperes Gut als heute. „Mit Ausnahme der Homosexualität“, schrieb der Sexualwissenschaftler Eberhard Schorsch in den achtziger Jahren, „ist sexuelle Perversion verbunden mit totaler Vereinzelung. Eine Gruppenbildung, ein subkultureller Zusammenschluss ist z.B. für den Fetischisten, den Exhibitionisten, den Voyeur im Prinzip eine Unmöglichkeit.“ Das änderte sich wenige Jahre später, und es änderte sich nicht nur für die Freunde der sexuellen Abweichung, sondern auch für Selbstvermesser,[1] Raelianer, erwachsene My-Little-Pony-Fans, Psychogeografen, Fanfiction-Autoren, Inhaber seltener Erkrankungen und alle anderen. Selbst die hikikomori, die sich weigern, ihre Wohnung zu verlassen, um Sozialkontakte zu vermeiden, haben ihre eigenen Netzgemeinschaften.

 


Aber die Internet-Wirs der ersten Jahre hatten klare Grenzen. Wenn zwei verschiedene Communities auf Partys aufeinandertrafen, weil der Gastgeber beiden angehörte, betrachteten die Fraktionen einander misstrauisch. Das ist heute nicht mehr so leicht nachzuvollziehen, ähnlich wie die im Krieg der Knöpfe geschilderte Auseinandersetzung zwischen für Außenstehende ununterscheidbaren Nachbardörfern.
Lange Zeit war es der Normalzustand, dass man sich im Netz mit Fremden unterhielt. Es war schlicht zu schwierig, die vorhandenen Freunde hinein zumanövrieren. Internetcommunities waren bis in die frühen nuller Jahre hinein technisch und konzeptuell nicht darauf ausgelegt, existierende Freundschaftsbeziehungen in irgendeiner Form zu berücksichtigen. Das verbindende Element waren Themen oder bestimmte Formen des sozialen Umgangs, nicht geografische Nähe oder vorhandene Beziehungen. In einem Zwischenschritt konnte man die Fremden im Netz – falls es Entfernung und Reisefreude erlaubten – auch von Angesicht zu Angesicht kennenlernen und sich den netzfernen Freunden mangels gemeinsamer Interessen entfremden, sodass der Online-Freundeskreis wieder mit dem Offline-Freundeskreis zur Deckung kam. Mit der Ausbreitung der sozialen Netzwerke fanden dann erstmals Bekanntenkreise zusammen, die sich ursprünglich an ganz unterschiedlichen Orten gebildet hatten.
Die Social-Media-Forscherin danah boyd veröffentlichte 2007 einen Essay über die bevorstehende Zweiteilung des sozialen Netzgeschehens: Die gut integrierte Collegejugend fand sich damals bei Facebook ein, während Minderheiten, Migranten, Subkulturen und Arbeiterkinder bei MySpace zurückblieben. Im Laufe der nächsten Jahre zog es aber dann doch alle zu Facebook, MySpace schwand dahin und wurde Mitte 2013 eingestellt. Ähnlich erging es vielen länderspezifischen sozialen Netzwerken wie dem in Brasilien und Indien einige Jahre lang stark genutzten Google-Produkt Orkut. In Deutschland verwendet derzeit etwa ein Drittel der Bevölkerung Facebook regelmäßig, in den skandinavischen Ländern und den Vereinigten Staaten die Hälfte, in Island sind es knapp drei Viertel. Hier treffen die vereinigten frühen Mehrheiten auf Menschen, die bisher im Netz eigentlich gar nicht zu finden waren. Die Flüsse vieler unterschiedlicher Lebenskontexte münden ins große Facebook-Meer.
Daneben gibt es weiterhin identitätsstiftende Communities mit klar umrissenen Grenzen. Nach wie vor entstehen neue Orte im Netz, an denen man ungestört mit jeder Facette der eigenen Persönlichkeit separat und auf Wunsch auch anonym oder unter Pseudonym hantieren kann. Innerhalb der sozialen Netzwerke aber verschwimmen die Ränder der Communities. Bei Twitter existieren gar keine abgegrenzten Gruppen, und Facebook bietet sie zwar nebenbei an, die wesentliche Struktur bilden aber auch hier ineinanderfließende individuelle Netzwerke. Dadurch gibt es an vielen Orten kein klares Drinnen und Draußen, kein Dazugehören oder Draußenbleiben mehr.
Das Verschwinden der klar umrissenen Gruppen ist Teil eines größeren Trends, der mit der nachlassenden Bedeutung räumlicher Anwesenheit zu tun hat. Der Medientheoretiker Joshua Meyrowitz beschrieb 1985 in No Sense of Place, wie das Fernsehen – und vor ihm das Radio – die Grenzen zwischen bis dahin für Außenstehende oft unzugänglichen Kreisen durchlässig machten und damit in den sechziger Jahren soziale Umwälzungen auslöste.[2] Durch die „Geheimnis-Enthüllungs-Maschine“ Fernsehen vermischten sich zum einen verschiedene öffentliche Bereiche, zum anderen das öffentliche und das private Verhalten, und der soziale Standort verlor seine Bindung an den physischen Aufenthaltsort. Fernsehfilme, schreibt Meyrowitz, „zeigen den Kindern, wie sich Eltern verhalten, wenn sie nicht mit ihren Kindern zusammen sind“. Erwachsene erhalten Einblicke in die Informationswelten anderer Altersgruppen, Schichten, Geschlechter und Regionen. „Indem sie nun viele verschiedene Klassen von Menschen am selben 'Ort' 'versammelten', haben die elektronischen Medien viele vorher unterschiedliche soziale Rollen ineinander verschwimmen lassen. Die elektronischen Medien beeinflussen uns also nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch dadurch, dass sie die 'Situations-Geographie' unseres Lebens entscheidend verändern.“ Wie gesagt, das war 1985, und mit den elektronischen Medien war das Fernsehen gemeint. Die sozialen Netzwerke erfüllen dieselbe geheimnisenthüllende Funktion, aber ihre Fernsehsendung handelt nicht mehr von anderen Gruppen und Schichten, sondern vom Leben der eigenen Freunde.



Das Phänomen der Zusammenlegung ansonsten separater sozialer Kontexte ist älter als die sozialen Netzwerke. Schon mit dem Auftauchen der privaten Homepage in den neunziger Jahren wurde die Lage unübersichtlich. Anders als bei Gesprächsbeiträgen in Foren oder Newsgroups gab es hier kein klar umrissenes Publikum mehr. Man konnte auch nicht mehr davon ausgehen, dass das gesamte Netz nur von technikfreudigen Universitätsangehörigen genutzt wurde. Eine Darstellung musste für die gesamte Öffentlichkeit genügen, was immer wieder dazu führte, dass Journalisten am Beispiel einer ihnen ästhetisch oder inhaltlich nicht zusagenden Privatseite das gesamte Konzept „Selbstdarstellung vor unklarem Publikum“ kritisierten.
Profile in den frühen sozialen Netzwerken, etwa bei Friendster oder Orkut, waren im Prinzip noch genauso aufgebaut wie die private Homepage. Über ihren Inhalt bestimmte ausschließlich der Inhaber, dem es freistand, das Profil nur einmal jährlich oder überhaupt nie zu aktualisieren. Dann schlich sich schrittweise das Prinzip ein, nach dem Facebook heute funktioniert, an die Stelle des statischen Profils trat ein Strom aktueller Statusmeldungen, und auch die Handlungen von Freunden schlugen sich in den vernetzten Profilen nieder. Profile in sozialen Netzwerken sind heute nur noch begrenzt das Ergebnis der sorgfältigen Überlegungen ihrer Inhaber. Die Interaktion mit Verwandten, Freunden und Bekannten bestimmt auch die Selbstdarstellung im Netz. Das bedeutet unter anderem, dass es schwieriger geworden ist, sich in diesen Profilen etwas prächtiger als in der Realität darzustellen. Dass die Profile auf Partnersuche-Websites häufig nach dem alten Prinzip der individuellen, unvernetzten Selbstdarstellung funktionieren, hat vermutlich weniger damit zu tun, dass die Nutzer ihre Suche unter Ausschluss der Öffentlichkeit betreiben möchten, als mit der Möglichkeit zur ungestörten Beschönigung der Tatsachen.
Die Kombination aus Zusammenlegung der sozialen Kreise, kollaborativer Selbstdarstellung und wachsender Normalität der aktiven Internetnutzung bringt diverse Umstellungsbeschwerden mit sich. Zu den am häufigsten und konkretesten ausformulierten Sorgen gehören der Topos vom Personalchef, der die Partybilder des Bewerbers bei Facebook entdeckt, und die Studie aus dem Jahr 2009, derzufolge sich aus der Anzahl offen schwuler Freunde eines Facebook-Nutzers ziemlich zuverlässig dessen eigene sexuelle Orientierung ableiten lässt. Zu diesen amtlichen und offen diskutierten Herausforderungen kommen viele nur vage empfundene und noch kaum beschriebene.
So kann sich die verbreitete Social-Media-Unwilligkeit von Unternehmensmitarbeitern aus einer korrekt vorhergesehenen Unvereinbarkeit privater Interessen mit denen des Unternehmens speisen. Die berufliche Nutzung der sozialen Netzwerke verlangt eine Einheit der Darstellung unternehmensintern, im Verhältnis zum Kunden und im Freundeskreis, wo man früher drei verschiedene Haltungen an den Tag legen konnte. In vielen beruflichen Situationen mag Schweigen attraktiver erscheinen als die Alternative, sich mit jeder Äußerung vor ein bis zwei dieser Gruppen bloßzustellen. Nicht jeder teilt alle Glaubenssätze seines Arbeitgebers, und schnell gerät man in eine Situation, in der man entweder die Entscheidungen des Unternehmens verteidigen und sich damit vor den mitlesenden Freunden lächerlich machen kann, oder bei den Freunden Verständnis findet, sich aber im Beruf unbeliebt macht. Selbst wenn die Einheit der Rollen bei Antritt einer neuen Stelle existiert, ist sie nicht immer von Dauer. Es scheint eher die Regel als die Ausnahme zu sein, dass die geselligsten Netzvollschreiber sich nur noch zurückhaltend äußern, sobald sie ihre Kompetenzen in den Dienst eines Unternehmens stellen.

Bei den thematisch untergliederten Angeboten von früher war es schwieriger, unbeabsichtigt in eine Debatte über ein Thema hinein zustolpern. Wer ein Literaturforum aufsuchte, der wollte über Literatur diskutieren, wer sich in ein Diskussionsforum über Genitalbeschneidung begab, der hatte es so gewollt. Twitter hat keine „Subtwitters“ zu bestimmten Themen, so wie es beim Nachrichtenaggregator Reddit die „Subreddits“ gibt. Für jeden existiert nur der Ausschnitt, den er sich selbst durch die Entscheidungen zusammenstellt, wessen Beiträge er abonnieren möchte. Retweets[3] und Hashtags[4] konfrontieren die Leser zusätzlich mit Unvorhergesehenem. Bei Twitter entzündet sich Empörung häufig an unverlangten Retweets zu störenden Themen. Beispiele aus jüngerer Zeit sind die Beschneidungsdebatte von 2012 und die #aufschrei-Kampagne von 2013, bei der Beispiele für sexuelle Belästigung im Alltag zusammengetragen und heftig diskutiert wurden. Aber es sind ja keine Fremden, sondern die eigenen Freunde und die Menschen, denen man bei Twitter freiwillig folgt, die diese Äußerungen für wichtig genug halten, um sie weiterzuleiten. Selbst wenn man ihnen allen diese Weiterleitung verbietet – was bei Twitter technisch möglich ist –, genügen bereits die Meinungen, die die Freunde selbst äußern, für Zank und Zweifel an ihrer Zurechnungsfähigkeit.



Dass allgemein überschätzt wird, in welchem Ausmaß andere Menschen und speziell Freunde die eigenen Ansichten teilen, ist ein ab den 1930er Jahren sporadisch erwähntes und später auch empirisch erforschtes Phänomen. Seinen heutigen Namen false consensus effect trägt es seit einer 1976 veröffentlichten Studie, die die Ergebnisse diverser Experimente zusammenfasste. Die Psychologen Lee Ross, David Greene und Pamela House baten Studierende unter anderem, eine halbe Stunde lang mit einem Schild „Eat at Joe's“ – oder in einer Variante des Experiments „Repent!“ – über den Campus der Stanford University zu laufen. Diejenigen, die einwilligten, glaubten, dass auch knapp zwei Drittel ihrer Mitmenschen dazu bereit wären. Aber auch die Studierenden, die das Schild nicht tragen wollten, gingen davon aus, dass zwei Drittel ihrer Mitmenschen sich genau wie sie entscheiden würden. (Tatsächlich war die Verteilung im Experiment jeweils etwa fünfzig zu fünfzig.) Die Studie stieß auf großes Interesse, in den folgenden zehn Jahren erschienen an die fünfzig Veröffentlichungen mit neuen Daten.
Die Konsensillusion ist überall, sie färbt die Einschätzungen der Häufigkeit von Persönlichkeitsmerkmalen, psychischen Problemen, Augenfarben, Vorlieben für bestimmte Lebensmittel oder Filme, religiösen und sportlichen Betätigungen. Sie tritt vor allem dann auf, wenn die Beteiligten einander attraktiv finden und davon ausgehen können, auch in Zukunft Kontakt zu haben. Der Effekt zeigt sich auch dann, wenn die Befragten wissen, dass eine Mehrheit ihre Meinung nicht teilt. Sie überschätzen dann immer noch die Größe der Minderheit, der sie angehören. Der Konsensirrtum innerhalb einer Gruppe ist ausgeprägter als der zwischen den Gruppenmitgliedern und der Außenwelt.
Die Übereinstimmung unter Freunden in Fragen des Kulturkonsums – oder vielmehr ihr Fehlen – ist in den letzten fünfzehn Jahren als Nebeneffekt der Arbeit an Empfehlungsalgorithmen erforscht worden. Nichts in den Ergebnissen dieser Forschung deutet darauf hin, dass es bei Filmen, Büchern oder Musik nennenswerte Überschneidungen zwischen Freundeskreis und Geschmacksnachbarschaft gibt.[5] Trotzdem beharren privat und öffentlich viele Menschen darauf, in wesentlichen Geschmacksfragen mit ihren Freunden übereinzustimmen oder doch zumindest kompetente Empfehlungen erteilen zu können.
Auch in sonstigen Meinungsfragen erweist sich die Einigkeit unter Freunden als Fiktion, sobald man sie genauer unter die Lupe nimmt. Auf der Partnersuchplattform OkCupid kann man als angemeldeter Nutzer Multiple-Choice-Fragen beantworten und kommentieren. Das Spektrum reicht von politischen, ethischen und religiösen Ansichten über sexuelle Vorlieben bis hin zur Frage, ob ein Atomkrieg nicht doch irgendwie aufregend wäre. Anhand der Antworten ermittelt der OkCupid-Algorithmus mögliche Partner. Auf den Profilseiten anderer Nutzer kann man sich anzeigen lassen, in welchen Fragen Einigkeit herrscht und wo die Unterschiede liegen. Die Ergebnisse sind vor allem dann aufschlussreich, wenn es sich bei den anderen Nutzern nicht um Unbekannte, sondern um ebenfalls dort angemeldete Freunde handelt. Diesem Vergleich verdanke ich unter anderem die Erkenntnis, dass meine heimliche Atomkriegsfaszination zumindest in meinem Bekanntenkreis absolut konsensfähig ist, während die Aussage, dass ein Nein nicht immer ein Nein ist – die mir bis dahin gar nicht weiter begründungsbedürftig schien –, niemanden außer mir überzeugt.
Wenn schon die Meinungen der Freunde nicht zu den eigenen passen wollen, dann tun es die der Freundesfreunde noch viel weniger. Bei Twitter werden alle Reaktionen auf einen Beitrag nur denjenigen angezeigt, die beiden Beteiligten folgen. Man bekommt also als Leser im Normalbetrieb keine Kommentare von den Freunden der Freunde zu sehen. Bei Facebook sind alle Kommentare grundsätzlich für alle Leser sichtbar, die auch den Originalbeitrag sehen dürfen. Dadurch wird man täglich mit einer Erkenntnis konfrontiert, die sich bis dahin eher selten bemerkbar machte – nämlich vor allem dann, wenn Freunde besonders blöde neue Lebenspartner hatten: Schon nach nur einem Schritt ist es mit der Einigkeit auch in Grundsatzfragen vorbei. Die Liquid Democracy- und Delegated Voting-Konzepte der Piratenpartei sehen vor, dass man seine Stimme nicht pauschal an einen Volksvertreter abgibt, sondern je nach Thema die geeignetste Person beauftragen kann. Im Prinzip spiegelt sich darin die nach längerer Netznutzung naheliegende Einsicht, dass man mit keinem Menschen in allen Fragen dauerhaft übereinstimmen wird. Allerdings kann auch der oder die Beauftragte die Stimme wieder weiter delegieren. Das funktioniert nur, wenn man davon ausgeht, dass zwischen der ersten und der letzten Person in dieser Kette ein Vertrauensverhältnis besteht, nur weil dieses Verhältnis in den einzelnen Zwischenschritten existiert. Der Kommentar-Situation bei Facebook lässt sich jedoch entnehmen, dass die Freunde der Freunde sich nur unwesentlich von zufällig ausgewählten Fremden unterscheiden. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, auf die wachsende Kontextfusion und die schwindende Konsensillusion zu reagieren. Die erste und nächstliegende besteht darin, die anderen für blöd zu halten: „Schickte mich im Traum gerade an, alle 80000 #aufschrei-erinnen in alphabetischer Reihenfolge zu beschimpfen, da klingelte das Telefon.“[6] Nach kurzer Aufregung kehrt man zur Illusion der Einigkeit zurück. Vielleicht waren die Mitmenschen ja nur temporär verblendet.
Im zweiten Fall droht der Empörte mit Bereinigung seines Bekanntenkreises: „kann mir bitte jemand #annewill #lanz #sterntv #Sexismus und #Aufschrei mal aus der TL bannen oder muss ich massiv entfolgen?“[7] Vielleicht setzt er diese Drohung sogar um. Das hat allerdings Kosten, denn zum einen gab es ja gute Gründe für das bisherige Freundschafts- oder Followverhältnis, die Kritisierten werden also schon morgen wieder Interessantes und Zustimmungsfähiges schreiben. Zum anderen ist es schlicht unmöglich, den Freundeskreis so lange zu bereinigen, bis wieder alle einer Meinung sind. Wie bei den kommunistischen Säuberungswellen kommen immer wieder neue suspekte Subjekte zum Vorschein.

Diese Zwickmühle bringt die dritte Bewältigungsstrategie hervor: vorübergehenden oder dauerhaften Internetüberdruss. Manchmal mündet er in eine Abkehr von den „falschen“ Onlinegemeinschaften. Allerdings fußt die Vorstellung von der Authentizität, Verlässlichkeit und Harmonie der Offline-Beziehungen auch nicht unbedingt auf harten Fakten. Eventuell handelt es sich nur um eine Rückkehr zum ungestörten Wunschdenken vom Wir.
Anstatt den Glauben an die spezifische Gruppe der eigenen Freunde oder an die größere Gruppe der Nutzer des Internet oder der sozialen Netzwerke zu verlieren, müssten wir uns vom Glauben an Gruppen verabschieden, in denen dauerhafte Einigkeit über mehr als nur einige wenige Punkte herrscht. Wir brauchten eine realistischere Einschätzung des allgemeinen Konsenses über unsere eigenen Ansichten. Es ist eine der zentralen Zumutungen der Vernetzung, dass die Anderen nicht nur so heißen, sondern auch wirklich anders sind.


[1] Vgl. Kathrin Passig, Internetkolumne. Unsere Daten, unser Leben. In: Merkur, Nr. 756, Mai 2012.
[2] Joshua Meyrowitz, Überall und nirgends dabei. Die Fernsehgesellschaft. Weinheim: Beltz 1990.[3] Retweets (oder bei Facebook Reshares): Die Freunde streuen einem Beiträge von Menschen in die Timeline, denen man selbst gar nicht folgt.
[4] Hashtags: Beiträge zu einem Thema werden durch ein Stichwort mit Raute gekennzeichnet. Anlässlich der Tage der deutschsprachigen Literatur etwa kann man dann zeitweise alle Beiträge verfolgen, die das Hashtag #tddl tragen.
[5] Vgl. Kathrin Passig, Internetkolumne. Abschied vom Besten. In: Merkur, Nr. 732, Mai 2010.
[6] Die Autorin bei Twitter am 4. Februar 2013.
[7] Andreas Witte bei Twitter am 30. Januar 2013. „TL“ ist die Twittertimeline, „Entfolgen“ das Äquivalent zum „Ich kündige mein Abo!“ bei Zeitungen.


© Mit freundlicher Genehmigung von Kathrin Passig. Unter dem Titel: Die Wir-Verwirrung – Kontextfusion und Konsensillusion ist der Text bei Merkur und eurozine erschienen.
Fotos: akeplog.de; shutterstock; politik-digital.de; goethe.de; bachmann-preis.at

 

 

Kathrin Passig, *1970 in Deggendorf, deutsche Journalistin und Schriftstellerin, die 2006 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Neben eigenen Publikationen und Übersetzungen arbeitet sie für verschiedene Zeitungen (u.a. Berliner Zeitung, taz, Merkur, SZ, GEO, c’t, Spiegel Online). 2002 gehörte sie zu den Mitgründer_innen der Zentralen Intelligenz Agentur in Berlin (ZIA).

 


 

Auswahl der Werke

mit Ira Strübel: Die Wahl der Qual. Rowohlt, Reinbek 2000, ISBN 978-3-499-62408-7.
mit Holm Friebe: Das nächste große Ding. Rowohlt, Reinbek 2007,ISBN 978-3-499-62293-9.
mit Aleks Scholz: Lexikon des Unwissens. Rowohlt, Reinbek 2007, ISBN 978-3-87134-569-2.
mit Ira Strübel: Strübel & Passig. taz-Kolumnen. Verbrecher Verlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-935843-97-3.
mit Sascha Lobo: Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin. Rowohlt, Berlin 2008, ISBN 978-3-87134-619-4. 
Tschechisch Odložím to na zítra , Portál 2010 
mit Aleks Scholz: Verirren. Eine Anleitung für Anfänger und Fortgeschrittene. Rowohlt, Berlin 2010, ISBN 978-3-87134-640-8.
mit Aleks Scholz, Kai Schreiber: Das neue Lexikon des Unwissens. Rowohlt, Berlin 2011, ISBN 978-3-87134-698-9.
mit Sascha Lobo: Internet - Segen oder Fluch, Rowohlt, Berlin 2012, ISBN 978-3-87134-755-9.
Standardsituationen der Technologiekritik. Suhrkamp, Berlin 2013, ISBN 978-3-518-26048-7.


Übersetzungen
William Marshall: Hongkongcrash. Aus dem Englischen von Kathrin Passig. Rotbuch, Hamburg 1998, ISBN 3-88022-445-5.
Bob Dylan: Chronicles Volume one. Deutsch von Gerhard Henschel und Kathrin Passig. Hoffmann und Campe, Hamburg 2004, ISBN 3-455-09385-X.
Jacob Weisberg: Voll daneben, Mr. President! Wahre Worte von George W. Bush. Deutsch von Gerhard Henschel und Kathrin Passig. Rowohlt, Reinbek 2003, ISBN 3-499-61619-X.
Harlan Coben: Der Insider. Aus dem Amerikanischen von Gunnar Kwisinski und Kathrin Passig. Goldmann, München 2007, ISBN 978-3-442-44534-9.


30XII13



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