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Erfahrungen, die ein Leben ausmachen

von Lutz Hagestedt


 

Walter Kempowski: Plankton. Ein kollektives Gedächtnis
Herausgegeben von Simone Neteler
832 S., geb., Knaus Verlag, München 2014
49,99 Euro, ISBN-13: 9783813505139

 







Die Entstehungslegende seines bekanntesten und international erfolgreichsten Befragungsbandes Haben Sie Hitler gesehen von 1973 geht wie folgt:

„1961 fing ich mit den Ausfragungen an. Bauer Drew[e]s in Breddorf. Ich bückte mich über die Erdbeeren, und er stand daneben und guckte mir zu. Das war mir lästig, und da fragte ich ihn eben nach Hitler.“

Diese wie beiläufig gestellte Frage erbrachte Antworten, die irgendwo „zwischen Trivialität und Grauen“ angesiedelt sind und Kempowskis Primärrezipienten gleichermaßen verstört wie fasziniert haben.

Die Buchidee dazu ist sogar älter noch als die Entstehungslegende – Kempowski formulierte sie bereits 1960, in seinem letzten Studienjahr in Göttingen: „Buchidee: ‚Hitler, wie wir ihn sahen’.“ Als dann die Idee spruchreif wurde, bat Kempowski Sebastian Haffner um ein Nachwort. Eine naheliegende Bitte: Haffner war dem deutschen Publikum fast so bekannt wie die Fernsehfamilie Kempowski, denn er hatte sich mit dem umstrittenen Historiker Helmut Diwald (Geschichte der Deutschen) aufsehenerregende Fernsehduelle geliefert – und Haffner hatte bei Kindler sein altmeisterliches Thesenbuch Anmerkungen zu Hitler vorgelegt. Ein Welterfolg.

Sein Beitrag zu Kempowskis Stimmenlese, „Die Deutschen und ihr Hitler“, arbeitet Kempowskis Fragekunst mit gutem Gespür heraus: Denn die „Testpersonen“ waren „gar nicht direkt nach dem gefragt worden, worauf es dem Fragenden offenbar ankam und was die Antworten interessant macht“, sondern Kempowski hatte ihnen eine „ganz harmlose und unverfängliche Sachfrage gestellt“. Außerdem sah er in ihnen auch keine „Testpersonen“, sondern Augenzeugen.

Viele Antworten aus diesem frühen Oral History-Ansatz sind in Plankton eingegangen. Unter „Plankton“ versteht Kempowski die prägenden Erfahrungen, die ein Leben ausmachen und die sich mit wenigen Worten beschreiben lassen. Plankton, das können eigene Erlebnisse sein, aber auch Hörensagen-Geschichten, kleine, in sich abgeschlossene Erzählungen, zudem auch Erzählpartikel und „Erinnerungsbilder“ (er nannte sie „Views“), die scheinbar zusammenhanglos zum besten gegeben werden. Den Terminus hat der Autor von Ernst Jünger, dessen Tagebuch Strahlungen er Anfang der 1990er Jahre für sein Echolot-Projekt auswertet. Dort heißt es unter dem Datum des 14. September 1942: „Ferner eine Erzählung von Fontane: ‚Quitt‘. Bei der Lektüre kam mir wieder der Gedanke, daß eine starke Erzählerkraft den Autor leicht schädigt, da in ihrem schnellen Strome das feine Geistesplankton nicht gedeiht. Der Grund liegt darin, daß das erzählende Talent ursprünglich zur rhetorischen Begabung zählt und damit der Feder nicht konform ist — es zieht sie zu schnell dahin.“ Jünger war für Kempowski „ein ganz großer Autor“ und die Autorität schlechthin.

Wer nach Plankton fischt, der sucht nach dem Ungesonderten, nach „Beifang“ womöglich auch. Die Themen sind entsprechend vielfältig und auch disparat: Kennen Sie ein Gedicht? Erinnern Sie sich an den Mauerfall? Haben Sie einmal einen Prominenten gesehen? Was ist Ihre erste Erinnerung? Wie war Ihr Vater? Haben Sie schon einmal im Stau gestanden?

Nicht alle Fragen wirken „drängend“ oder auch nur „dringlich“. Gleichwohl faszinieren die Antworten, die der Leser „bis zum Schmerz“ durch sich hindurchgehen lässt, weil sie auch ihn betreffen.

Selbst Komik kommt nicht zu kurz. Eine Graphik-Designerin antwortet zum Thema Plankton: „Da fällt mit mittlerweile nur noch Kempowski zu ein.“ Und eine Publizistin antwortet schroff: „Nein, Walter, ich will nicht in dein ‚Plankton‘ rein.“ Denn für dieses Mammutwerk, das ja eigentlich nicht abschließbar ist, hat sich der Knaus Verlag etwas Besonderes ausgedacht: Man kann sich an der Befragung beteiligen und sich sein eigenes, sein individuelles Plankton-Exemplar mit seinen eigenen Antworten bestellen (www.kempowski-plankton.de). Eine fabelhafte Idee.

Die einst prominenteste Frage aller Fragen war vielleicht die Gretchenfrage. Sie ist mittlerweile ein wenig an den Rand gerückt. Gute Fotografen stellen sie noch, wenn der zu Porträtierende etwas zu steif in die Linse blickt – denn schon muss dieser lachen. Und daher kann es nicht wundernehmen, wenn die Antworten hier etwas sehr lebensweltlich ausfallen. Dass Frauenasche grundsätzlich gelb sei, liest man da etwa, „und Männerasche schneeweiß“. Und man erfährt hier, wie die geistlichen Dinge uns prägen: „Meine Eltern haben meine Geschwister und mich sehr katholisch erzogen. Das war auf dem Land einfach so üblich. Heute würde ich mich nicht mehr als gläubig bezeichnen, aber wenn ich stolpere, dann denke ich immer noch: Gott bestraft dich! – Das ist einfach drin, das passiert ganz automatisch.“ (Graphik-Designerin, *1957)

Nach „Prominenz“ gefragt, antwortete ein Soziologe: „Was Kempowski so treibt? Es war ja immer so’n Gerücht. Keiner will an ihn ran.“

Dem Band sind Gruppenfotos aus Kempowskis umfänglichem Fotoarchiv beigegeben, und jeweils eine Person ist vergrößert aus der Aufnahme herausgehoben: Sie wird aus der Menge isoliert und bleibt doch anonym und Teil derselben. Auch diese Bildidee geht auf Kempowski zurück, und sie unterstreicht das Konzept dieses Bandes überzeugend: Denn die Antworten der Befragten sind zugleich anonymisiert und individualisiert. Man erfährt etwa, dass ein Bankkaufmann, Jahrgang 1934, die ständigen Überfliegungen im Zweiten Weltkrieg als besonders bedrohlich und „demoralisierend“ wahrgenommen hat. Doch sein Name und seine Identität bleiben uns verborgen. Und so ist es auch mit jenen, die vor dem Niederwald-Denkmal bei Rüdesheim am Rhein stehen, oder jenen, die auf einem Schiffsdeck, auf einer Promenade, beim Karneval und während einer Massenkundgebung im zerstörten Nachkriegsdeutschland aufgenommen worden sind.


Dieser Band erscheint pünktlich zu einem wichtigen Jubiläum – denn am 29. April wäre Walter Kempowski fünfundachtzig Jahre alt geworden. Simone Neteler, ehemalige Schülerin Kempowskis und später langjährige Mitarbeiterin am Echolot, hat ihn herausgegeben und damit einem Wunsch Kempowskis entsprochen: „An ‚Plankton’ sollte weiter gesammelt werden, auch ‚wenn schon alles aus ist.’“


© Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlichung:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=19144


Leseprobe:http://www.randomhouse.de/content/edition/excerpts/420253.pdf



 

Prof. Dr. Lutz Hagestedt, *1960, ist Germanist und Literaturwissenschaftler; Professor an der Universität Rostock.
Schwerpunkte in Forschung und Lehre im Bereich der Neueren und neuesten deutschen Literatur (von 1750 bis zur Gegenwart), pragmatische Aspekte der Literatur und Literaturvermittlung: Buchhandels- und Verlagsgeschichte, Literaturkritik, Literarisches Leben. Methoden und Modelle unterschiedlicher Disziplinen – neben den Literaturwissenschaften auch Anthropologie, Kybernetik, Philosophie, Soziologie.


 


Werke (Auswahl)

Ähnlichkeit und Differenz. Aspekte der Realitätskonzeption in Ludwig Tiecks späten Romanen und Novellen. Belleville, München 1997, ISBN 3-923646-66-6. (Promotionsschrift)
Das Genieproblem bei E. T. A. Hoffmann am Beispiel illustriert. Eine Interpretation seiner späten Erzählung Des Vetters Eckfenster (= Reihe Theorie und Praxis der Interpretation, Band 2). Belleville, München 1999, ISBN 3-923646-82-8.
mit André Kischel: Herr der Welt. Kommentierendes Handbuch zu Arno Schmidts Schwarze Spiegel. Mit einer Synopse der in den vierziger und fünfziger Nachkriegsjahren erschienenen Erzählprosa (= Reihe Theorie und Praxis der Interpretation, Band 8). Belleville, München 2009, ISBN 978-3-933510-40-2.

Aktuelle Publikationen
Umrissen durch die Summe der Fiktionen. Uwe Johnson in Siegfried Unselds »Gesellschaft der Autoren«. In: Johnson-Jahrbuch. Nr. 19. Hg. von Holger Helbig, Bernd Auerochs, Katja Leuchtenberger und Ulrich Fries. Göttingen: Wallstein 2012, S. 41–64.

Totalität als Faszination. Systematisierung des Heterogenen im Werk Ernst Jüngers. Berlin, Boston: de Gruyter [Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, 140]. (Hg., zus. mit Andrea Benedetti). [Im Druck.]

Marianne Wünsch: Moderne und Gegenwart. Erzählstrukturen in Film und Literatur. München: Belleville 2012 [Theorie und Praxis der Interpretation, 10]. (Hg., zus. mit Petra Porto).


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