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Košice – Der Osten des Westens und der Westen des Ostens

von PhDr. Milan Kolcun


Übersetzung: Daniela Capcarová



 

Normalerweise lösche ich Emails mit merkwürdigen Adressen, aber die Email aus der Türkei habe ich geöffnet. Die Bankangestellte Agfaçan Gülçin aus Istanbul fand mich als Reiseführer durch Košice. Sie besuchte einmal die Woche einen Kurs zur Europäischen Kunst, in dem sie auch Hausaufgaben aufbekam. Diesmal sollten die Kursteilnehmer etwas darüber vorbereiten, wie Liebe die Geschichte mancher Städte bewegte (oder gar veränderte). Jeder aus dem Kurs hatte einen Namen von bisherigen Europäischen Kulturhauptstädten gezogen, bei ihr fiel schließlich die Wahl auf Košice.

 

Für mich war das eine interessante Frage, die man mir bis dato noch nie gestellt hatte. In der bunten Geschichte unserer Stadt sind natürlich auch solche Geschichten zu finden. Die Dame hat mich unter anderem auf ein neues Thema für meine Wanderungen durch Košice gebracht. Das Thema werde ich im Mai aufgreifen und es Liebeslegenden und andere Legenden aus Košice/Kaschau nennen.

Diesen inspirierenden Impuls aus der Türkei hätte ich sicherlich nicht bekommen, wenn Košice den Wettbewerb um die Kulturhauptstadt Europas 2013 nicht gewonnen hätte. Frau Gülçin hätte mich nicht gesucht und gefunden, Košice wäre nicht einmal in ihr Bewusstsein gedrungen.

Schon seit vier Jahren lade ich jeden Teilnehmer meiner Košicer/Kaschauer Wanderungen dazu ein, 2013 in unsere Stadt zurückzukommen. Und fast alle nicken anerkennend mit dem Kopf. Sie kennen den Begriff Kulturhauptstadt Europas aus ihrem Heimatland und wissen, dass solch ein Titel für eine Stadt keinesfalls umsonst ist.

Auch um den Preis, dass jemand mit dem Titel Kulturhauptstadt Europas Geld verdient oder sein eigenes Süppchen auf Kosten anderer kocht - so was passiert schon mal. Wir sollten aber alles dafür tun, dass solche Fälle so selten wie möglich passieren. Psychologisch gesehen sind wir allerdings schon jetzt - und bleiben es für immer - eine Europäische Hauptstadt. Wir werden auch nicht eine Stadt des Küssens, der Schokolade oder anderer Marketingfinten sein. Es gibt nur wenige Städte in Europa mit einem solchen Prestige-Titel, den sie von anderen verliehen bekamen.

Im August 2008 habe ich Mitglieder der Internationalen Europäische Kulturhauptstadt-Kommission begleitet. Sie haben überprüft, was später in deren Bewertungsbericht auftauchte. „ Košices Projekt für die Ernennung zur Europäischen Kulturhauptstadt ist eines der besten in der bisherigen Geschichte dieser Titelvergabe“, schrieben die 'Kontrolleure' des Auswahlgremiums.

 

Jedem Menschen, der nicht nur Materialist ist, kann man mit einem Erlebnis-Geschenk einen Gefallen tun. Kulturelle Erlebnisse können weiteres Interesse, Erkenntnis, Katharsis oder zumindest ein Staunen oder Lächeln auslösen sowie Lust und Inspiration für das weitere Leben. Man muss eigentlich nur das für sich Passende aussuchen. In Bratislava passiert gewöhnlich mehr, Košice/Kaschau bietet aber in diesem Jahr die bunteste Mischung von Kunstformen, die es in dieser Vielfalt noch nie vorher zu sehen & erleben gab. Sogar ich, ein geborener Košicer/Kaschauer, der das Geschehen in der Stadt stets aufmerksam verfolgt, plane in diesem Jahr keinen Urlaub. Ich will meine Stadt wie nie zuvor auskosten. Ich brauche nicht nach Japan fahren, denn Tokios Philharmonisches Orchester kommt hierher. Der Grammy-Gewinner Jordi Savall reist aus Spanien zu uns. Auch Exponate eines der berühmtesten, noch lebenden Bildhauers, Gyula Kosice (nebenbei auch gebürtiger Košicer/Kauschauer), kommen endlich aus Argentinien zu uns in die Slowakei – nach Košice. (Und vielleicht kommt sogar der Künstler selbst).

Košice/Kaschau ist schon jetzt anders, an der Schwelle zum Kulturhauptstadt-Jahr. Das jüdische Festival Mazaltov ist schon eingeführt. Die Aktion USE THE CITY oder Street Art Communication finden bereits zum vierten Mal statt, wie auch die Biela noc-Die Weiße Nacht. Auch die Eisstatuen kann man jeden Winter im Stadtzentrum bewundern.

Es erschienen Bücher und Fachbücher, die ohne den Titel Kulturhauptstadt Europas (KHE) nie das Licht der Welt erblickt hätten. Mit Geldern aus dem KHE-Projekt wurden die Bücher von Sándor Márai auf Slowakisch aufgelegt, der größte Dom in der Slowakei und sein Interieur renoviert.

All die gelesenen Bücher, die gesehenen und rekonstruierten Ausstellungen, die bereits gehörten oder gerade vorbereiteten Konzerte - selbst der ewige Lobredner unserer Stadt Sándor Márai – zwingen uns, Košice/Kaschau anders wahrzunehmen als zuvor. Die Stadt ist schon jetzt anderswo, einen Level höher.


Und was wird nach 2013? Was bleibt? Mein Favorit bleibt der St. Elisabeth-Dom. Vor allem an Sonntagen, morgens um 9:00 Uhr, während der lateinischen Messe. Die Sprache des mittelalterlichen Europas, mit der der Priester die Messe zelebriert, wird inmitten der mittelalterlichen Architektur von Renaissance- und Barock-Liedern durchwirkt. Ich kenne keine bessere Zeit-Verschiebung als diese, die auch eine Art geistiger Katharsis sein kann. Zum Glück ist diese Messe nicht nur „ ein Theater“ oder ein Konzert für Touristen, sondern eine normale, wahrhaftige Messe – und das schon seit über fünfhundert Jahren.

Wenn man aus dem Dom auf die Hlavná-Straße kommt, hält noch der Eindruck der lateinischen Messe an, allerdings schon viel weltlicher. Bürgerhäuser fast aller Baustile säumen das Flüsschen, gerade wie sie von der Geschichte gemischt wurden, und überraschen die Fußgänger mit immer neuen und neuen geheimnisvollen Ecken. Sie können zwei weitere Kathedralen entdecken, die Kirchen der elf Glaubensrichtungen - des östlichen sowie des westlichen Ritus, eine Oper sowie ein Ballett, ein Roma- und ein Puppentheater, Museen, Galerien, die Staatliche Philharmonie, klassische (!) Kinos und auch ein überdachtes Stadion für 10.000 Zuschauer.

Košice/Kaschau ist weder groß noch klein, es ist eine Stadt mit menschlicher Dimension, hat einmal jemand geschrieben. Zum Glück ist diese Dimension der Stadt bis heute geblieben, obwohl die Einwohnerzahl inzwischen auf 240.000 Menschen angestiegen ist. Es gibt einen internationalen Flughafen, den drittgrößten Zoo in Europa oder den zweitältesten Marathon-Lauf der Welt. Trotz allem ist Košice eine Stadt, in deren Zentrum immer noch die Einheimischen überwiegen. Sie können also hierher kommen, um sich von den Touristen zu erholen....



PhDr. Milan Kolcun, *1969, ist Stadt- und Fremdenführer von Košice, der die Stadt populär machen hilft, und er ist Schriftsteller. Er gab eine Anthologie Košická čítanka (Košicer Lesebuch), die zur Autoren-Edition Potulky mestom Košice (Wanderungen durch Košice) gehört, heraus und ein Buch über die Architektur von Košice: Štýly krásy v Košiciach (Schönheitsstile in Košice). Darüber hinaus ist er Autor des Anti-Konsum-(Mini)Romans Najnovší hriech (Die neueste Sünde) und hat die mexikanische Novelle Diamant nepokoja (Diamant der Unruhe) aus dem Spanischen ins Slowakische übersetzt. In diesen Tagen kommt sein slowakisch-englisches Buch Detaily Košíc (a ich príbehy)- Details von Košice (und ihre Geschichten) in die Buchhandlungen. Im Herbst erscheint außerdem die Anthologie Košické legendy a povesti (Kaschauer Legenden und Sagen).

Kolcun organisiert an jedem ersten Wochenende eines Monats die sog. Potulky mestom Košice-Wanderungen durch Košice mit. Schon seit neun Jahre begleitet er Košicer und auswärtige Besucher durch die Stadt. Jede Wanderung ist einem anderen Thema gewidmet und führt in andere Gebiete. Mehr Infos zu den thematischen Wanderungen unter: www.potulka.sk


© Text: Milan Kolcun; Foto: privat

 

Überarbeitung: Katja Schickel - 18.03.2013 

(s. auch: Kosice 2013-Gespräch; Kosice-Topthemen; Spots)



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