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13. Internationalen Literaturfestival Berlin (ilb 2013)


Die Kunst des Alterns

Vortrag von Georg Stefan Troller


Wenn die Jugend bloß wüsste … und wenn das Alter bloß könnte


 

[…] Lassen Sie mich, um gleich den richtigen Ton … zu finden, mit einem Ausspruch des französischen Autors Jules Renard einsetzen: „Das Alter – das ist, wenn man beginnt zu sagen: Ich habe mich nie so jung gefühlt!“

Und nun zurück zum Jahr 1863, also vor hundertfünfzig Jahren. Da hielt Jacob Grimm in der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin eine Rede über das Alter. Er war damals achtundsiebzig Jahre alt. Eine Summe, eine Anhäufung von Zeit, die man selbst lange für gigantisch halten wird, bis man auf einmal verblüfft feststellt, dass sie einem geradezu jugendfrisch, na sagen wir höchstens mittelalterig vorkommt. Achtundsiebzig, was ist das schon? Jetzt habe ich vor knapp einem Jahr zu meinem immensen Erstaunen die Altersspanne überschritten, die mein Vater seinerseits erreichen durfte. Älter als mein Vater? Unmöglich!

Ich bin doch der Sohn, ich bin doch Gockel, Schorschi, Schurli, Georgie-Pie! Wie geht das zu? Und danach gleich die Frage: Haben eigentlich meine Kinder, haben die zwei Töchter etwas vom Großvater geerbt? Im Grund hat man sie von jeher, anders als dieser, weniger als Nachkommen empfunden denn als eigenständige Personen. Und insgeheim sogar als gescheiter, als man selber je war. Hat sie zwar nicht durchwegs gebilligt, aber doch als das akzeptiert, was sie waren – ganz wie meine Dokumentarfiguren übrigens. Nicht eben das schlechteste Film- oder Lebensprinzip, will einem jetzt scheinen. Aber wieso habe denn ich, meinem Gefühl nach, nie diese Stufe von Erwachsensein, von Reife, von Beschlagenheit erreicht, die ich, vielleicht nicht ganz zu Recht, dem Vater lebenslang zuschrieb? Bin ich tatsächlich jetzt älter geworden, als er je war? Immer wieder ertappe ich mich dabei, an den Fingern durchzuzählen, ob hier nicht irgendwo ein Rechenfehler vorliegt, sagen wir um ein rundes Jahrzehnt. Alt, das hieße doch weise!

Einen Schatz an Erkenntnis, an Erleuchtung, an Durchdringung der Bedeutungen müsste man doch angehäuft haben, sonst war das Ganze für die Katz. Spüre ich das wirklich?

Dazu kommt, dass jetzt mehr und mehr fremde Menschen dich sozusagen anzapfen wollen, deine Erfahrungen abrufen, vielleicht um ihr eigenes Lebensvehikel damit aufzutanken. Und man weiß einfach nicht, was man ihnen da übermitteln soll, denn höhere Einsichten hat man ja letztlich nicht zu bieten. Keine Orakelsprüche, keine allgemeingültigen Lebensregeln. Sondern man kann höchstens erzählen von einem ganzen Berg von Begegnungen, privaten und professionellen, und dabei unvermeidlich einige mit sich selber. Auch wie man damit zurechtgekommen ist, wie einen dieser Umgang beeinflusst und geformt hat. Und damit, Herrschaften, fängt mein bisschen Alterserkenntnis an.


Persönlichkeit ist Schicksal, heißt es. Oder, anders eingefasst: Das, was man erträumt, das, woran man im Innersten glaubt, das passiert. Natürlich will ich damit nicht sagen: Nur das, was man erträumt hat, verwirklicht sich. Wir wissen ja alle, was mit uns in Nazizeiten vorgegangen ist, in Kriegszeiten, was alles auf dich einstürzen kann in Zeiten existenzieller Krisen. Wo blinde Mächte wild zuschlagen und keineswegs immer die Würdigsten überleben. Und doch: Es scheint mir heute, dass alles passiert, weil jemand daran glaubt. Ja, dass alles Positive und Negative auf der Welt geschieht, weil zuerst genug Leute daran geglaubt haben. Und – nur mit Zittern und Zagen schreibe ich es hin – es passiert, wenigstens in sozusagen 'normalen' Zeiten, auch dem Einzelnen das ihm Gemäße, das, worauf er angelegt ist, worauf etwas in ihm hinaus will.

Habe ich also lange, und mit verhältnismäßig geringen körperlichen und seelischen Schäden, überlebt aus eigenem Verdienst? Wenn ich in mich hineinhorche, so empfinde ich es doch eher als Glück. Glück haben, das hielt einst Napoleon für die erste Tugend seiner Generäle. Für mein eigenes Glück bin ich zunächst einer Menge Mitmenschen dankbar: Eltern, Verwandten, Kindern, Frauen, auch meiner hier anwesenden. Ebenso Mitarbeitern, Verlegern, Fernsehteams und so immer fort. Und doch, ich komme immer wieder darauf zurück: Verdient man nicht eigentlich auch sein Glück? Nun ja, mit dem Alter pflegt man zunehmend daran festzuhalten, also das Äußerliche dem Inneren nachzuordnen. Aber: Hieße das nicht auch, dass man sein Unglück verdient? Und wer darf das behaupten angesichts der schon genannten Gräuel auf Erden? Aber etwas ist da schon dran, scheint mir. Auch das persönliche Glück, wenigstens ein Scheibchen davon, steht einem zu, ist irgendwie ein Teil deiner psychologischen oder genetischen Zusammensetzung. Dem auf Glück Eingestellten, Programmierten hilft das Glück! Dieser Magnet in dir zieht seinesgleichen an. So haben mir als Junge in der Emigrationszeit nicht nur Eltern, Onkel und Tanten das Leben gerettet vor Deportation und gewaltsamem Tod. Sondern ein bisschen auch, denke ich, meine eigene kindliche Naivität, meine Unbedarftheit. Sagen wir, ich war dem Schicksal nicht gewichtig genug, um zuzuschlagen … Nehmen Sie das nicht zu wörtlich bitte, nur ein Einfall. Ist das Weisheit oder Abgeklärtheit? Und ist dergleichen überhaupt erlernbar, ein Stück Lehrstoff? Wohl kaum. Aber solche Aufspürungen gehören nun einmal zum Altern, wenn andere Glaubenssätze verblassen.


Also, Ihr Pulli, meine Damen und Herren, ist sozusagen selbst gestrickt. Gewiss, jeder von uns nährt sich zu dieser und jener Zeit aus verschiedenen Schubladen seiner selbst, und wenn er so gebaut ist, manchmal auch aus der tiefsten. Aber es bleibt doch immer dasselbe Möbelstück. So lebt man in der Jugend vom Vorgefühl beglückender Verzauberungen, etwa der großen Liebe, durch die sich alles urplötzlich verwandeln muss und das wahre Leben beginnt. Sich verlieben hieße demnach, Liebende … nur so verwirklicht sich der Traum. Und Unglück wäre dann andererseits nichts als der Lohn der Angst, deiner Angst. Jedermann der Autor seiner eigenen Hölle! Eine idealistische, literarische, eine romantische Ansicht, der etwa mein Vater durchaus verpflichtet war. Die großen Eruptionen unserer Zeit haben diese Denkweise gründlich ins Wanken gebracht. Und doch und doch: Im Alter pflegt man – wenn ich meine eigene Gemengelage (ein Lieblingsausdruck meines Freundes Robert Schindel) verallgemeinern darf –, worauf man angelegt war. (Was vielleicht auch nicht viel mehr ist als ein billiger Trost, ich weiß.)

Zur Illustration: Es gibt ja diese Luftballons in Form von kleinen Mickymäusen oder Dackeln und dergleichen. Pumpt man sie auf, so werden sie lebensgroß, aber zuletzt hat man doch den gleichen Dackel! Nur eben nicht ganz, nicht immer! Bei manchen Ballonen wächst nicht nur das Format, sondern auch der Inhalt. Anstatt eines Dackels hat man dann einen Pudel oder auch ein Nilpferd. Und so kann sich eben auch der kleine Selbsthasser und damit Lebenshasser zum Liebenden auswachsen. Der Feigling zum Helden, wie es uns Hollywood allabendlich vormacht. Der geborene Dummkopf zum Verständnisvollen oder zumindest Bemühten (wie ich es von mir selber erhoffe). Man hat bloß nicht gewusst, was man alles in sich vorrätig trug.


Einiges aber bleibt immer in uns erhalten von der Urform, wenn auch unbewusst. Es gibt da ein Theaterstück von dem schottischen Autor James Barrie, der den Peter Pan erfunden hat. In dieser tiefsinnigen Komödie versammelt sich das übliche Dutzend zusammengewürfelter Gäste in dem üblichen englischen Landhaus. Alle unbefriedigt von ihrem Dasein und besonders, wie denn sonst, von ihren Lebenspartnern. Und alle sprechen es aus, das fatale Wort: „Hätte ich nur damals …“ Und danach kommt die Sehnsucht nach der zweiten Chance: „Wenn ich bloß noch einmal die Wahl hätte, noch einmal an derselben Gabelung stünde, ja dann …“ Wir haben aber in diesem Moment Johannisnacht, und sie dürfen! nach Sonnenuntergang in das benachbarte Wäldchen hinein spazieren. Und dort, ja dort treffen sie unvermeidlich eine noch viel dümmere Wahl als zuvor, und ihre angemaßte Selbsteinschätzung löst sich in Luft auf, natürlich auf eine komische Tour. Jetzt weiß ich auch den Titel wieder, das Stück heißt Lieber Brutus, nach einem Vers von Shakespeare im Julius Caesar: „Die Schuld, mein Brutus, liegt nicht in den Sternen, sondern in uns, weil wir Unfreie sind.“ Es nützt also wenig, sich im Alter ewig den Kreuzweg zurückzurufen, wo man hätte können, so man können gehabt hätten dürfte!
Das zu wissen ist ein Stück Altersweisheit, wenn Sie so wollen. Und dass Ihre großen Entscheidungen zumeist nicht aus Vernunft oder Überzeugungen kamen, sondern eben aus diesem unbewussten inneren Kompass, das gehört auch dazu.


Und da fällt mir noch etwas ein, das ich eben erwähnt habe: der Selbsthass, der, glaube ich, viele Jugendliche beherrscht, zumindest solange sie abhängig sind von Staat, Eltern, Erziehern usw. Auch und besonders diejenigen, die so gern mit ihrer Männlichkeit bzw. Sexyness auftrumpfen. Und lassen Sie mich hier in Parenthese gleich die Mär vom sogenannten jüdischen Selbsthass ausräumen, der ja nichts weiter ist als der umgestülpte Hass der andern auf uns. Und der zum Beispiel auch kolonisierte Völker oder entrechtete Gesellschaftsklassen beherrscht und dann in der Regel durch Gewalttaten kompensiert werden muss. Auch ich war einst reichlich mit diesem Komplex gesegnet. Der ja zu einer generellen Ablehnung der Welt führt, also zur Isolation. Und was war meine Rettung? Ich musste mir die Welt zugehörig und untertan machen. Und zwar wie – für einen, der kein Gewaltmensch ist? Nun, eben durch Einfühlung in sie, Hingabe, Lust an ihrer Erforschung.

Ich versuchte sie mir einzuverleiben, ein Teil von ihr zu werden und sie damit zu einem Teil von mir zu machen. Gesund über andere! „Wir sind alle Menschenfresser“, habe ich diesen Vorgang einmal unvorsichtig genannt, ist aber so. Indem man sich mit dem Schicksal anderer Menschen befasst, ja es sich möglichst zu eigen macht, kommt man aus der eigenen seelischen Misere. Auf einmal hasst du dich und die Welt gar nicht mehr, bist, fast ohne es zu merken, über die Brücke geglitscht. Gut für dich und gut für die Welt, denn Hass führt immer zu Schaden. Ja, ich kann mir vorstellen, dass Hitler, bei aller gigantischen Selbstliebe, zutiefst ein Selbsthasser war. Vielleicht aus seiner gemutmaßten jüdischen oder slawischen Abstammung heraus oder aus sexueller Impotenz oder emotionaler Impotenz oder was immer. Und das alles, dieses giftige Magma, wurde dann eingeschmolzen zu dem „granitenen Fundament“ seiner Weltanschauung, wie er es in Mein Kampf genannt hat.


Und dazu, also zu den Weltanschauungen und Überzeugungen, komme ich jetzt. Immer eingedenk des Spruches, den der französische Autor Vauvenargues uns vermacht hat: „Die Ratschläge des Alters erhellen wie die Wintersonne, ohne zu wärmen.“

Oder, von einem verwandten Moralisten: „Die Alten geben gern gute Ratschläge, wie um sich zu trösten, dass sie kein böses Beispiel mehr geben können.“

Also hin zu den Denkweisen, den Philosophien, besonders den politischen. Mit dem Alter nimmt zwar, für die meisten von uns, nicht unbedingt ihr Wahrheitsgehalt ab, aber doch der Glaube an ihre Realisierbarkeit. Und ein wenig von der Hitze, mit der man bereit ist, für sie einzutreten. Zu oft ist man wohl um seine Gläubigkeit düpiert worden, sind unumstößliche Gewissheiten mit der Zeit ins Überholte, ja Lächerliche versackt.

Eine Analogie, ein emblematischer Ausdruck dafür: In dem Nachrichtenprogramm Euronews gibt es eine unglückliche Sparte, die heißt „ohne Kommentar“. Da sieht man zum Beispiel aufgeregte Massen samt Sprechchören, über sich geschwungene Tafeln in unverständlichen Lettern, die gegen irgendwelche Uniformierten anrennen … Nur weiß man nie, wer wer ist und zu wem man eigentlich halten soll. Wer die Guten, wer die Bösen? So in etwa sieht man im Alter die menschliche Tragikomödie, auch wenn man es sich ungern eingesteht. Die Überzeugungen werden immer abstrakter, die Menschen hinter ihnen konkreter. Dazu der schöne Satz – oder, wie er selbst es nennt: goldene Regel – des alten Philosophen Lichtenberg: „Man muss die Menschen nicht nach ihren Meinungen beurteilen, sondern nach dem, was diese Meinungen aus ihnen machen.“

Die Grundeigenschaft übrigens jedes guten Dokumentaristen.

Ist es also aus, im Alter, mit dem schönen Glauben an eine bessere Zukunft? Oder aber, noch trauriger, krampft man sich an den Glaubenssätzen seiner Jugend fest, letztlich nur um sich selber ewige Jugend vorzugaukeln?


Nun, ganz so schlimm muss es nicht kommen mit uns, auch wenn die Skepsis überhand zu nehmen pflegt betreffs dauerndem Frieden und Menschheitsverbrüderung. Gab es eigentlich je mehr Aufstände, Revolten und Bürgerkriege gleichzeitig auf Erden als gerade in diesem Moment? Und hatten wir je so viele Freiheitsbestrebungen, die zuletzt zu engen Glaubensfehden verkümmerten? Wobei immer alles nach Gemetzel zu lechzen scheint. Und wie es in einem schönen englischen Gedicht heißt (ich habe Anglistik studiert): „Ignorant armies clash by night …“ – ahnungslose Heere, die nachts aufeinanderprallen.

Nicht die Menschheit, nur ihre Mordmittel haben sich rasant entwickelt. Also leider, leider kein tumber Optimismus mehr, kein vertrauensseliger Fortschrittsglaube in diesem Lebensalter. Obwohl doch die Lösung der meisten Weltprobleme so ziemlich auf der Hand liegt: So hörte ich erst kürzlich von einer Gruppe israelischer Ärzte und Chirurgen, die sich höchst illegal, und wahrscheinlich auch mit echt jüdischer Chuzpe, nachts in den Gazastreifen einschleichen, um dort verwundete Palästinenser zu versorgen. Wenn ich noch einen Film zu machen hätte, so einen wie diesen.


Aber: Werden nicht tatsächlich auf der Welt allerhand Dinge doch besser? Für die Armen, für die Kranken, für Unterdrückte und ausgenützte Frauen und Kinder usw.? Ja, gewiss. Zuletzt, zuletzt siegt doch immer die menschliche Vernunft, glaube ich, oder wurstelt sich eben so durch, das ist auch schon was. Und die Solidarität der Spezies ist unausrottbar, Gott sei Dank. Nein, das Alter macht nicht unbedingt pessimistisch, nur weil man selbst nicht mehr so viele schöne Aussichten vor sich hat.

Aber das Alter macht zweiflerisch, das ist gewiss.

Denn, nach einem Ausspruch von Victor Hugo: „Eine der Eigenschaften des Alters ist, dass

man außer seinem Alter alle Alter hat.“

Und so weiß man eben jetzt auch: Irgendwo muss es ein Gesetz geben, dass jeder Fortschritt auf anderer Ebene zu einem Rückschritt führt, jeder Gewinn zu einem Verlust, wenn auch dieser nicht immer an Ort und Stelle wahrnehmbar ist. Wie es einer vor einem Vierteljahrtausend auf den Punkt brachte: „Man sagt noch ›Seele‹ – wie man sagt Taler, nachdem die geprägten Taler lange aufgehört haben.“

Schließlich: Bedauert man jetzt im Alter mehr als früher etwas vom eigenen Lebenslauf? Ja, gewiss, leider. Verblüfft und verständnislos gedenkt man der dummen Sprüche, die man von sich gegeben, schmerzender Wunden, die man ahnungslos geschlagen, spontaner Entschlüsse, die man hätte bedenken müssen. Am häufigsten aber, wie Sie wissen, bedauert man ja weniger das, was man tat, als das, was man nicht getan hat. All diese Chancen, die man in den Wind schlug, aus Feigheit, aus Faulheit, aus Unbedarftheit. Warum nur hat man sich allzu schüchtern vor diesen Zusammentreffen mit Brecht gedrückt, der ja immer Mitarbeiter suchte. Warum den angebotenen Job als Scriptwriter in Hollywood ausgeschlagen? Warum später den Vertrag mit dem »Stern« zurückgewiesen? Dann all diese angebotenen Freundschaften, von Frauen nicht zu reden. Wozu diese Entsagung, diese Genügsamkeit, zu einer Zeit, als einem doch alle Türen offen standen? Hat man wirklich daran geglaubt, dass dies oder jenes einem ungemäß sei oder dass sich die Chance schon immer von Neuem bieten würde? Oder stand da nicht eher die verfluchte Lebensangst im Weg, Erbstück der Emigration? Und doch – hat auch sie sich nicht als Wohltat erwiesen zuletzt? Denn dieser innere Anlauf, den man sich von Mal zu Mal geben musste, um sie zu überwinden, dieser erzwungene Ruck – war er nicht sogar der Hauptgrund für die Intensität, für die Emotionalität der Befragungen? Dieses Einsteigens in das Leben anderer, wie über fünfzig Jahre praktiziert? Aus Negativem das Positive herausarbeiten, aus Schwäche Stärke machen, da liegt es! Und ist nicht eben dies zuletzt unser höchstes Gebot? Oder wäre das auch nur ein billiger Trost des Alternden? Ich weiß es nicht. Aber Trost ist ja auch nicht zu verachten.


Ja, und nun bleibt uns zum Schluss doch noch etwas Ermutigendes, gar nicht leicht zu definieren. Habe ich vorhin gesagt, dass jeder Mensch unbewusst von seiner inneren Magnetnadel abhängt, die ihm seinen Weg weist, ob er will oder nicht, so möchte ich nun fast das Gegenteil behaupten. Nämlich: Es geht um jene beglückende Kunstfertigkeit, die ich drüben in Amerika gelernt habe und die sich Selbsterfindung nennt. Also ziehe du um zu neuen Feldern, lasse neue Wurzeln sprießen, entwirf dir eine neue Herkunft, einen neuen Namen, einen nie gehabten Werdegang. Und wenn das hinhaut, so bist du dieser Mensch geworden: dieser Obama, dieser Soros, dieser Bob Dylan, dieser Beaumarchais, dieser Gantenbein und zur Not auch dieser Große Gatsby … Du übernimmst sozusagen dein Selbstbild als deine wahrhafte Identität. Hast so lange etwas gespielt, bis du es wurdest. Hast dich ausgeweitet, umgeformt, verabenteuerlicht. Ja, bist vielleicht sogar, über den Umweg der Selbsterfindung, zur Selbstfindung durchgestoßen, wer weiß! Diesen Weg der Verwandlung, den bin ich ein bisschen in meinen schmalen Grenzen gegangen. Bin jemand geworden, der nicht vorauszusehen war, schon gar nicht von mir selber. Diese jüdisch-wienerisch-amerikanisch-französische öffentliche Figur, dieser „deutsche Kulturjude“, wie ich mich schon mal ironisch genannt habe. Der, dem Sie jetzt mehr oder weniger vertrauensvoll lauschen. Und den einige Ihrer Vorfahren – ich will hier niemandem nahetreten – mit Vergnügen umgebracht hätten, wie so viele aus meiner Familie. Auch Sie, bzw. Ihre Väter und Großväter, haben sich neu erfinden müssen, denke ich. Wie geht das alles zusammen? Ich weiß auch das nicht. Aber ich glaube, es ist das Privileg des Alters – entgegen dem, was Sie vielleicht mutmaßen –, nicht mehr alles wissen zu müssen, auch über sich selber nicht. Sondern sich in Gottes Namen abzufinden. „Ja“ sagen zu sich und auch seinen Beschränkungen und Widersprüchen, so wie man nun einmal geworden ist. Mit Betretenheit, mit vielen Fragezeichnen, mit Ironie.

Aber ist nicht Selbstironie jetzt die unabdingbarste aller Tugenden geworden?

Und so finde ich zuletzt doch wieder in die Heimat zurück, und zwar zu dem alten böhmisch-wienerischen Zyniker Johann Nestroy und seinem Satz: „Die schönste Nation ist die Resignation.“ Insofern nämlich, als man jetzt schon die Abwesenheit des Übels als Gutes empfindet, ja vielleicht als das höchste derzeit zu habende Gut überhaupt. Aber noch sind wir nicht so weit, noch gibt es Gewinne, wie zum Beispiel heute vor Ihnen zu sprechen. Noch hat man Frau und Töchter, einen Bruder, der jetzt vierundneunzig ist, noch Interviews und journalistische Aufträge vor sich, gar neue Bücher, Gespräche, Gedanken.


Und so lassen Sie mich mit einem Satz schließen, den ich gern meinen öffentlichen Lesungen anhänge, und der geht so: Was ist Leben – wird man manchmal von jungen Leuten gefragt, so als wüsste man’s mit weißem Bart besser als ohne. Und hat natürlich darauf eine schlagfertige Antwort: die Summe der intensiv erlebten Augenblicke. Aber wären diese nicht doch am ehesten in der Jugend zu haben als später? Worauf man ebenfalls eine Auskunft parat hat, nämlich dass es ja in allen Sprachen, die man kennt, einen Satz gibt: „Wenn die Jugend bloß wüsste … und wenn das Alter bloß könnte.“

Dazwischen aber liegt, sofern man einigermaßen Glück hat, eine Strecke, in der man sowohl kann wie weiß. Es ist die schönste Zeit.


© Text: Georg Stefan Troller, Internationales Literaturfestival Berlin 2013; Foto: mediummagazin.de


Georg Stefan Troller, *1921 in Wien, macht eine Lehre als Buchbinder. Sechzehnjärig flieht er - nach den Novemberpogromen - vor weiterer nationalsozialistischer Verfolgung über die Tschechoslowakei nach Frankreich und erhält 1941 in Marseille ein amerikanisches Visum. 1943 wird er in den USA zum Militärdienst eingezogen und kommt als junger GI in einem Team von deutschsprachigen Gefangenenvernehmern nach Deutschland. An der University of California in Los Angeles studiert er danach Anglistik und Theaterwissenschaften und beginnt als Reporter für Zeitungen und den Rundfunk zu arbeiten. Berühmt wird Troller mit dem WDR-Fernsehmagazin Pariser Journal, das er zwischen 1962 und 1971 in über fünfzig Folgen, oft gegen die Konventionen des Senders, moderiert und produziert. „Diese Sendung hat mich überhaupt erst zum Menschen gemacht“, resümiert er später. Einzigartig wie eigenwillig ist die autodidaktische Annäherung an seine Gesprächspartner — unter ihnen zahllose Berühmtheiten ebenso wie „Exzentriker, Streuner, Mädchenaufreißer. Das wilde unbürgerliche Paris, das lebendige“, so Troller in seiner Autobiographie, seiner (später zudem selbst verfilmten) Selbstbeschreibung (1988/2011). Mit persönlich verwurzelter Dringlichkeit und direkten, oft existentiellen Fragen entlockt er dem Gegenüber seine jeweiligen Wahrheiten. Ebenso charakteristisch sind seine literarisch geschliffenen, oftmals von einem ironischen Humor durchdrungenen Kommentare, die auch seine spätere Porträt-Reihe Personenbeschreibung prägt.

„Menschenbewunderer, Menschenerfasser, Menschenerforscher“ und vielzitiert eben auch als „Menschenfresser“, so bezeichnet sich der unermüdliche Dokumentarist, der seine Arbeit unwiderruflich mit der existentiellen Angst der Verfolgung verbunden sieht: „Dieser passionierte Umgang mit Sprache, woher kommt er denn anders, als aus schmerzlicher Jugenderfahrung der Vertreibung, nicht nur von der Heimat, sondern auch ihrem Sprachraum. Und aus der geradezu grotesken Sehnsucht nach deutschen Worten, über Jahre der Emigration hinweg“, schreibt er in dem Portrait-Band Lebensgeschichten (2007). Neben etlichen Dokumentarfilmen verfasst er zahlreiche Drehbücher (u.a. für Axel Cortis Trilogie Wohin und zurück und Robert Schindels Romanverfilmung Gebürtig) und mehrere Bände über Paris und seine Begegnungen mit Prominenten und Künstlern. Wiederholt erhält er den Grimme-Preis sowie die Goldene Nymphe des Fernsehfestivals von Monte Carlo und wird u.a. zudem mit dem Erich-Salomon-Preis (1975), dem Fernsehfilmpreis der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste (1986), einem Bundesverdienstkreuz (2002), dem Axel-Corti-Preis (2004) und Theodor-Kramer-Preis (2005) als auch einem Stern auf der Berliner Boulevard der Stars (2010) geehrt. Troller lebt seit 1949 in Paris.



Ausgewählte Bücher:

Paris geheim, Artemis & Winkler, Düsseldorf, 2008

Dichter und Bohemiens in Paris. Literarische Streifzüge, Artemis & Winkler, Düsseldorf, 2008

Selbstbeschreibung, Verbesserte und ergänzte Neuauflage, Artemis & Winkler, Düsseldorf, 2009

Vogelzug zu anderen Planeten: Der kleine Prinz und sein Fuchs treffen Pinocchio, Max und Moritz, Lolita und weitere, Karl Rauch Verlag, Düsseldorf, 2011

Das fidele Grab an der Donau. Mein Wien 1918-1938, Artemis & Winkler, Düsseldorf, 2004

Neuauflage bei Ueberreuter, Wien, 2013

 


© 3sat, Gero von Böhm 

 

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