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Die Blockade Leningrads

von Daniil Alexandrowitsch Granin

Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27.01.2014



Vor siebzig Jahren, am 27. Januar 1944, endete die fast neunhundert Tage andauernde Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht. Der Bundestag hat in diesem Jahr die Erinnerung an dieses Ereignis in den Mittelpunkt seines Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus gestellt (das bisher vor allem an die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau am 27. Januar 1945 erinnerte). Die Blockade kostete mindestens 800.000, wahrscheinlich mehr als eine Million Menschen das Leben. Ein Überlebender, der heute fünfundneunzig-jährige russische Schriftsteller Daniil Granin, sprach in russischer Sprache im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes von seinen Erlebnissen als Kriegsfreiwilliger der Volkswehr in der Stadt, die wieder Sankt Petersburg heißt.



Gestatten Sie mir, dass ich mich an erster Stelle beim Präsidenten des Deutschen Bundestags und der gesamten Leitung dieser Veranstaltung für die liebenswürdige Einladung bedanke, heute zu Ihnen zu sprechen. Das ist für mich eine große Ehre. Ich werde zu Ihnen aber nicht als Schriftsteller oder Historiker, sondern nur als Soldat sprechen, der die weit in der Vergangenheit liegenden Ereignisse des Zweiten Weltkriegs miterlebt hat.

Meine Erinnerungen an die Blockade von Leningrad sind zugleich tragisch und grausam.
Als der Krieg ausbrach, trat ich, ein frischgebackener Ingenieur, sofort in das Narodnoje opolotschenije, die Volkswehr, ein. Der Krieg erschien mir in diesem Augenblick als glücklicher und romantischer
Umstand. Als Möglichkeit, mich behaupten und beweisen zu können. Aber schon die ersten Monate, ab Juli 1941, sorgten gnadenlos für Ernüchterung.

Wir zogen uns zurück, wir flohen. Nur ab und an gelang es uns, den Feind unter großen Verlusten aufzuhalten. Hier und heute, in einem anderen Deutschland, versetze ich mich nur sehr ungern in diesen Krieg und in die Gefühle des Soldaten zurück, der ich damals war. Es ist mir unangenehm. Irgendwie verspüre ich den Wunsch, meine Erinnerungen zu glätten, aber ich werde ihm nicht nachgeben, weil ich meine, dass Sie mich eingeladen haben, um die Wahrheit zu hören, die Wahrheit ohne Retusche oder Übertreibungen.


Am 17. September gaben wir unsere letzte Kampflinie in Puschkin auf. Die Verteidigung von Leningrad brach zusammen. Die deutschen Truppen hatten die Stadt komplett eingekesselt. Die Blockade kam unerwartet. Sie traf die Stadt unvorbereitet, in Leningrad gab es keine Vorräte, weder Nahrungsmittel noch Brennstoff. Sofort wurden Lebensmittelkarten eingeführt. Bereits im September betrugen die Rationen fünfhundert Gramm Brot für Arbeiter und dreihundert Gramm für Angestellte. Ab dem 1. Oktober waren es jeweils vierhundert und zweihundert Gramm. Am 20. November wurden die Rationen katastrophal gekürzt, sie betrugen nur noch zweihundertfünfzig Gramm für Arbeiter und hundertfünfundzwanzig Gramm für Angestellte und Kinder. Hundertfünfundzwanzig Gramm sind eine hauchdünne Scheibe Brot. Mit Zellulose und anderen Zusätzen…


Die Stadt konnte nicht mehr versorgt werden. Nach und nach brach alles zusammen: Wasser, Kanalisation, Verkehr, auch die Straßenbahn, Licht und Heizung. Die Frontlinie rückte unmittelbar bis an die Stadt heran. Zu den Schützengräben konnte man mit der Straßenbahn fahren, von der Hauptkampflinie bis zum Armeestab war es nur ein Fußweg. Der Winter stand vor der Tür, zu allem Unglück ein furchtbar eisiger mit Frösten unter 30 bis 35 Grad. Schritt um Schritt setzten alle Systeme aus, die die Großstadt Leningrad zum Leben brauchte. Sie wurde jeden Tag gnadenlos bombardiert und mit Artilleriefeuer eingedeckt. Die Geschosse flogen über unseren Köpfen hinweg. Wir hörten nicht nur die Detonationen, sondern spürten auch, wie der Boden erzitterte. Häuser brannten lichterloh. Sie konnten nicht gelöscht werden, weil die Wasserleitungen nicht mehr funktionierten, und so brannten sie tagelang. Ende November – Anfang Dezember hatte es die Straßen und Plätze zugeschneit. Es gab nur wenige Durchfahrten für Militärfahrzeuge. Die Denkmäler waren in Sandsäcke gepackt, die Schaufenster der Geschäfte vernagelt. Vor den Bäckereien und anderen Läden bildeten sich schon nachts riesige Schlangen. Nur die Rüstungsfabriken und Armeebäckereien waren in Betrieb. Und es gab Tage, an denen sogar die Großbäckereien stillstanden.

Nachts gab es kein Licht auf den Straßen. Patrouillen und Passanten waren mit Leuchtzeichen unterwegs. „Glühwürmchen“ nannte man sie… Die Menschen wurden vor Hunger immer schwächer, aber sie machten weiter, produzierten Munition und Minen und setzten Panzer instand.

Die Deutschen wussten ganz genau, wie es um die Stadt steht und wie sie unter dem furchtbaren Hunger leidet. Sie wussten es durch ihre Aufklärung und von Überläufern. Der Feind hätte einmarschieren können, aber er wusste, dass die Stadt und die Soldaten buchstäblich bis zum letzten Blutstropfen kämpfen werden. Hitler sagte ständig, dass seine Truppen nicht in die Stadt vorrücken dürfen, weil die Straßenkämpfe zu verlustreich gewesen wären. Man meinte, dass die Leningrader bei dieser Ernährung nicht lange durchhalten und sich dann schon ergeben werden. Und sollte sie der Hunger dazu nicht zwingen, umso besser, dann verrecken sie und müssen nicht mehr durchgefüttert werden.

Von Leebs 18. Armee vereitelte alle Versuche, die Blockade zu durchbrechen. Im Grunde warteten die deutschen Truppen in aller Ruhe und ohne besondere Anstrengungen darauf, dass der Hunger die Menschen in Leningrad in die Knie zwingt. Die Blockade hielt fast drei Millionen Menschen im Würgegriff. Die Deutschen hatten das wichtigste Lebensmittellager der Stadt, die Badajewskije sklady, und damit alle Vorräte vernichtet.

Die Generale vergaßen ihre Soldatenehre und gingen dazu über, die Großstadt Leningrad auszuhungern. Es war die Leningrader Front, wo der Krieg zu einem Krieg gegen die Einwohner einer Stadt wurde, indem man anstelle von Soldaten den Hunger einmarschieren ließ. Schon im Oktober begann die Sterblichkeit durch Dystrophie zu wachsen. Im Oktober starben sechstausend, im November zehntausend und in den ersten fünfundzwanzig Tages des Dezember vierzigtausend Menschen. Im Februar verhungerten täglich etwa dreieinhalbtausend.

 

 

In den Tagebüchern jener Zeit finden sich Einträge wie „Herrgott, lass uns durchhalten, bis es wieder Gras gibt“. Eher zu niedrig angesetzten Berechnungen zufolge hat die Blockade über eine Million Opfer gefordert. Marschall Schukow spricht von 1.200.000 Hungertoten. Der Tod kam leise, mucksmäuschenstill, tagein und tagaus, Monat um Monat alle neunhundert Tage lang. Wie wollte man dem Hunger entgehen? Er griff sich seine Opfer in den Häusern, auf der Arbeit, in den eigenen vier Wänden der Menschen inmitten von Töpfen, Pfannen und Möbelstücken. Unvorstellbares diente als Nahrung. Man kratzte den Leim von den Tapeten und kochte Ledergürtel. Die Chemiker in den Instituten destillierten Firnis. Man aß Katzen und Hunde. Und dann kam der Kannibalismus…

Viel später dann, 35 Jahre nach dem Krieg, hatten der belarussische Schriftsteller Adamowitsch und ich die Idee, ein Buch zu schreiben, ein Buch mit den Geschichten von Menschen, die die Blockade überlebt haben. Man hat uns auch Grausames offenbart. Ein Kind stirbt, gerade mal drei Jahre alt. Die Mutter legt den Leichnam in das Doppelfenster und schneidet jeden Tag ein Stückchen von ihm ab, um ihr zweites Kind, eine Tochter, zu ernähren. Und sie hat sie durchgebracht. Ich habe mit dieser Mutter und ihrer Tochter gesprochen. Die Tochter kannte die Einzelheiten nicht. Aber die Mutter wusste alles. Sie hat sich selbst gezwungen, nicht zu sterben und nicht wahnsinnig zu werden, weil sie ihre Tochter retten musste. Und gerettet hat.

 

Wie sah das Leben eines Blokadnik aus? Woher sollte man Wasser nehmen? Die Menschen gingen an die Newa, an die Kanäle, hackten Löcher in das tiefe Eis und holten das Wasser mit Eimern heraus. Wo es bis zu den Flüssen und Kanälen weit war, sammelten die Menschen Schnee und tauten ihn auf. Aber womit und wie? Mit Kanonenöfen, die auf den Märkten ein Vermögen kosteten. Und wenn man schon einen bekommen hatte, dann kam das nächste Problem. Womit sollte man ihn denn beheizen? Also brach man das Parkett heraus, zerhackte Möbel und nahm Holzbauten auseinander. In den Häusern war es immer dunkel. Die Fenster waren verhängt, um die Wärme nicht entweichen zu lassen. Als Lichtquelle dienten Konservendosen mit Docht und Öl, Maschinenöl oder Öl aus dem nächsten Transformatorenhäuschen. Petroleum gab es nicht mehr. Und diese kleine, rußende Flamme war alles, was man an Licht hatte...

Schwarzmärkte entstanden, wo man sich ein Stück Zucker, eine Büchse Konserven oder einen Beutel Graupen besorgen konnte. Indem man dafür einen Pelzmantel, Filzstiefel oder Silberbesteck gab. Die Menschen suchten alles von Wert zusammen, was sie hatten, und trugen es – zu Markte.

 

 

       


 


 


Auf den Straßen und in den Hauseingängen lagen Leichen, eingehüllt in Bettlaken. Die Lebenden hatten keine Kraft, sie zu begraben, sie trugen sie nur die Treppe hinab oder brachten sie mit Schlitten zu den Friedhöfen, wo man sie nicht beerdigte, sondern einfach nur liegen ließ.

Als das Eis auf dem Ladogasee fest genug war, errichtete man die „Straße des Lebens“ zu dem anderen, nicht besetzten Ufer, der so genannten Bolschaja semlja. Der Verkehr kam in Gang, die Evakuierung begann, es kamen Lebensmittel, man brachte Frauen, Kinder und Verwundete aus der Stadt. Die Deutschen beschossen die Straße gnadenlos. Die Geschosse brachen das Eis auf. Fahrzeuge und Menschen gingen unter. Die Straße war Tag und Nacht in Betrieb, sie war die einzige Möglichkeit für die Evakuierung. In der Stadt haben die Menschen viel selbst gemacht. Wenn jemand noch die Kraft dazu hatte, so hackte er Stufen ins Eis, damit man an das Wasser kam.

In den Stadtbezirken organisierte man die Ausgabe von heißem Wasser. Oft genug rettete eine Tasse heißes Wasser Menschenleben. Jugendbrigaden halfen dabei, entkräftete Menschen in die Krankenhäuser zu bringen, wo sie nicht viel, aber wenigstens etwas zu essen bekamen. Die Menschen versuchten, einander zu helfen. Es kam vor, dass jemand auf der Straße stehenblieb, sich an eine Wand lehnte und zusammenbrach. Und manchmal fand sich ein anderer Passant, der ihm aufhalf und ihn zur nächsten Stelle brachte, wo es heißes Wasser gab.


Solange das Eis hielt, konnten 376.000 Menschen evakuiert werden. Mehrmals musste ich in die Stadt zum Stab, und ich sah diese Szenen und begriff, wer einer der Blockadehelden ist – dieser „JEMAND“, der „NAMENLOSE PASSANT“, der einen Menschen rettete, der gestrauchelt war oder kurz vor dem Erfrieren stand. Das Mitgefühl der Menschen verschwand nicht etwa, sondern wurde wiedergeboren. Das Einzige, was man dem Hunger und der Unmenschlichkeit des Faschismus entgegenstellen konnte, war der spirituelle Widerstand der Einwohner der einzigen Stadt im Zweiten Weltkrieg, die nicht aufgegeben hat. Im Mai 1942 mussten wir helfen, Leichen zu den Gräben zu bringen, die auf den Friedhöfen ausgehoben worden waren. Neben den Friedhöfen lagen ganze Berge von Leichen, die man den Winter über dort hingebracht hatte.

Ich erinnere mich, wie wir sie auf die Lastwagen warfen – wie Brennholz, so leicht und ausgedörrt waren sie. Jemand – ich glaube, unser Regimentsarzt – sagte: „Sie haben sich selbst aufgezehrt“. Wir beluden LKW um LKW mit den Leichen. Das war die grausigste Arbeit meines ganzen Lebens.

Die Evakuierung brachte auch Probleme mit sich. Eine Frau erzählte uns, wie sie mit ihren Kindern zum Finnischen Bahnhof gefahren ist, um von dort aus zur „Straße des Lebens“ zu gelangen. Ihre Tochter saß auf einem Schlitten, der dreizehn-jährige Sohn lief hinterher. Die Tochter konnte sie zum Bahnhof bringen, der Sohn jedoch war zu schwach, um es zu schaffen. Er ist irgendwo auf dem Weg abgeblieben und wahrscheinlich gestorben.


 

Fünfunddreißig Jahre nach dem Krieg haben wir für unser Buch zweihundert Blokadniki befragt. Jedes Mal habe ich nachgebohrt: „Wie konnten Sie überleben, wenn Sie die ganze Blockade über in der Stadt waren?“. Häufig war es so, dass diejenigen überlebten, die anderen beim Überleben halfen. Die in den Schlangen anstanden, Brennholz organisierten, Kranke pflegten, ein Stückchen Brot oder Zucker teilten… Natürlich, auch die Retter starben, aber mich hat erstaunt, wie ihnen ihre Seele geholfen hat, sich nicht zu entmenschlichen. Der Blockadetod griff sich die ausgehungerten Menschen auch im Sommer und auch in der Evakuierung. Überall der Stadt hingen für diese Zeit typische Anzeigen aus: „Übernehme Beerdigungen“, „Hebe Gräber aus“, „Bringe Tote zum Friedhof“. Alles für ein Stück Brot oder eine Büchse Konserven…

Im Frühjahr trieben sehr viele tote Rotarmisten die Newa hinab. Man hörte aber nicht auf, sich dort mit Wasser zu versorgen. Wenn eine Leiche zu dicht am Ufer war, stieß man sie weg und schöpfte weiter. Was sollte man denn machen… Ab Juli 1942 haben wir versucht, den Blockadering zu durchbrechen, aber die Sturmangriffe brachten keinen Erfolg. Die Sinjawinskaja-Operation ging bis Ende Oktober. Sie blieb ergebnislos, und wir hatten 130.000 Mann verloren.


Eines Tages gab man mir das Tagebuch eines Blokadnik. Jura war vierzehn Jahre alt und lebte mit seiner Mutter und Schwester zusammen. Das Tagebuch hat uns erstaunt. Das war die Geschichte des Gewissens dieses Jungen. In den Bäckereien wurden die Brotrationen ganz exakt, bis auf das Gramm genau, abgewogen. Um auf die jeweiligen 250 bis 300 Gramm zu kommen, wurden noch kleine Stückchen zugeschnitten, die so genannte Zuwaage. Juras Aufgabe in der Familie bestand darin, nach Brot anzustehen und es nach Hause zu bringen. In seinem Tagebuch gesteht er, welche Qualen es ihm bereitet hat, unterwegs nichts davon abzubrechen. Die Zuwaage hatte es ihm besonders angetan, er konnte sich kaum beherrschen, um sie nicht aufzuessen, denn bestimmt hätten weder die Mutter noch die kleine Schwester jemals davon erfahren… Mitunter hielt er es nicht aus und aß die Zuwaage. Er beschreibt, wie er sich geschämt hat, er gibt seine Gier und dann auch noch seine Gewissenlosigkeit zu und nennt sich einen Dieb, der Mutter und Schwester um einen Teil ihres täglichen Brotes gebracht hat. Niemand wusste es, aber er quälte sich. In der Wohnung lebte noch ein Ehepaar, der Mann war irgendein wichtiger Chef für den Bau von Verteidigungsanlagen, dem eine Zusatzration zustand. In der Gemeinschaftsküche kochte seine Frau Essen, bereitete Brei zu, und sehr oft war Jura von dem Verlangen getrieben, sich etwas zu schnappen, wenn sie die Küche verließ, und mit bloßer Hand, wenn´s denn sein musste, in den heißen Brei zu greifen. Er kasteit sich selbst für diese schändliche Schwäche.

Erstaunlich an diesem Tagebuch sind der ständige Zweikampf zwischen Hunger und Gewissen, der Widerstreit zwischen ihnen, die täglichen erbitterten Scharmützel und die Versuche, den Anstand zu bewahren. Wir wissen nicht, ob er überlebt hat. Das Tagebuch zeigt, wie seine Kräfte schwinden, aber selbst dann, als er schon vollkommen ausgezehrt war, war es unter seiner Würde, die Nachbarn um Essen anzubetteln.

Ich erinnere mich auch noch an eine andere Geschichte. Während eines Artilleriebeschusses der Stadt flog ein Geschoss durch das Fenster in eine Wohnung und fiel auf den Fußboden, ohne zu explodieren. Und blieb da liegen. Das Loch im Fenster wurde mit Sperrholz vernagelt, aber was sollte man mit dem Geschoss machen? Die Bewohner gingen zu den Soldaten und flehten sie an, dass sie ein paar Pioniere vorbeischickten. Aber die verdammten Pioniere kamen und kamen nicht, und so lebten diese Menschen mehrere Wochen lang mit einer großen Artilleriegranate im Zimmer.

Alexej Kossygin, der Stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats, wurde während des Krieges als Vertreter des Verteidigungskomitees nach Leningrad entsandt. Er leitete die „Straße des Lebens“ über den Ladogasee und verlegte außerdem Anlagen aus den Leningrader Fabriken in Rüstungsbetriebe im Ural – Maschinen, Buntmetalle und Gerätschaften. Er berichtete mir, wie er sich immer wieder qualvoll entscheiden musste, wen – Kinder, Frauen und Verwundete – oder was – Material für die Rüstungsbetriebe – er aus der Stadt bringen sollte.

Nach dem Krieg stellte sich die Blockade von Leningrad für das ganze Land als eines der schlimmsten Kapitel in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs gegen die Deutschen dar. Schmählich für Deutschland und heldenhaft für Russland. Und letzten Endes gar nicht so sehr heldenhaft als vielmehr erstaunlich in seiner spirituellen Kraft.

Ich, der ich als Soldat an vorderster Front vor Leningrad gekämpft habe, konnte es den Deutschen sehr lange nicht verzeihen, dass sie neunhundert Tage lang Zivilisten vernichtet haben, und zwar auf die qualvollste und unmenschlichste Art und Weise getötet haben, indem sie den Krieg nicht mit der Waffe in der Hand führten, sondern für die Menschen in der Stadt Bedingungen schufen, unter denen man nicht überleben konnte. Sie vernichteten Menschen, die sich nicht zur Wehr setzen konnten. Das war Nazismus in seiner ehrlosesten Ausprägung, ohne Mitleid und Erbarmen und bereit, den russischen Menschen das Schlimmste anzutun. Heute sind diese bitteren Gefühle von damals nur noch Erinnerung.


1956, also elf Jahre später, kam ich nach Deutschland, auf Einladung des Verlags, der einen meiner Romane veröffentlicht hatte. Im Grunde besuchte ich den ehemaligen Feind, den ehemaligen Todfeind. Der schmerzende Zorn war noch da, die Wunden noch offen. Auf einer Pressekonferenz wurde ich damals gefragt, welche Gefühle dieser Besuch in Deutschland in mir weckt. Ich sagte, wenn ich mit Deutschen in meinem Alter zusammenkomme, dann ist das für mich ein Treffen von Menschen, die vorbeigeschossen haben, denn sie haben so oft auf mich geschossen und nicht getroffen, während ich auch auf sie geschossen und nicht getroffen habe.

An den Wänden des Reichstags waren immer noch die Inschriften unserer Soldaten zu lesen. Eine davon ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: „Deutschland, wir sind zu dir gekommen, damit du nicht mehr zu uns kommst“. Die Jahre kamen und gingen. Ich fand Freunde in Deutschland.

Viele meiner Bücher wurden hier übersetzt und veröffentlicht. Die Aussöhnung war für mich keine leichte Sache. Mir war klar, dass Hass ein Gefühl ist, das in eine Sackgasse führt. Hass hat keine Zukunft, er ist kontraproduktiv. Mir war klar, dass man vergeben können muss, aber auch nichts vergessen darf. Es fällt mir heute sehr schwer, mich in den Krieg zurückzuversetzen. Vier Jahre an der Front haben mich gelehrt, dass jeder Krieg blutig und schmutzig ist. Aber die Erinnerung an die Millionen von Toten, an die zig Millionen unserer Soldaten ist notwendig. Ich habe erst vor kurzer Zeit beschlossen, über meinen Krieg zu schreiben. Warum? Weil fast alle meine Regimentskameraden und Freunde im Krieg geblieben sind, weil sie starben, ohne zu wissen, ob wir unser Land siegreich verteidigen werden können, ob Leningrad durchhält. Sie starben mit dem Gefühl der Niederlage. Es ist, als ob ich ihnen berichten will, dass wir schließlich doch gesiegt haben und sie ihr Leben nicht umsonst ließen. Das war der sakrale Raum, wo der Mensch Mitgefühl, Spiritualität und das Wunder der Liebe wiederfindet und begreift, dass letzten Endes nie die Gewalt, sondern stets die Gerechtigkeit triumphiert.


Das Blockadebuch – Chronik der Belagerung Leningrads - mit Ales Adamowitsch,1977-1982; dt. (nur noch antiquarisch) 1985-1987, wird neu aufgelegt.


Daniil Granin, *1919 als Daniil Alexandrowitsch German, verbrachte seine Kindheit in Sankt Petersburg, damals Petrograd. Studium der Elektrotechnik, Ingenieur. 1941 meldete er sich freiwillig und wurde Panzeroffizier.1942 Eintritt in die KpdSU, von 1954 bis 1969 Sekretär der Leningrader Abteilung des Schriftstellerverbandes der UdSSR. Er debütierte 1949 mit einer Erzählung, sein erster Roman erschien 1954, viele Reiseerzählungen, Novellen und Romane folgten. Mindestens zehn seiner Werke wurden verfilmt oder vom Theater adaptiert. Zahlreiche Preise. 1989 Präsident des neugegründeten russischen PEN-Klubs. Ab 1967 Arbeit für die Zeitschrift Newa und ab 1987 für Nowyj mir.



 

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Eröffnung durch Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert

Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2014

Es gilt das gesprochene Wort!


Heute vor siebzig Jahren, am 27. Januar 1944, endete die Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht - nach fast neunhundert Tagen. Damals war das Sterben in der eingeschlossenen Stadt längst zu einer grausamen Alltäglichkeit geworden, die jeden Maßstab sprengte. Mindestens 800.000 Menschen, wahrscheinlich noch weit mehr, sind während der dreijährigen Blockade in Leningrad zu Tode gekommen, durch Luftangriffe und Artilleriebeschuss, durch Krankheiten und Kälte - die allermeisten sind verhungert. Ihr Tod war von den Verantwortlichen des deutschen Vernichtungskrieges im Osten einkalkuliert. Leningrad sollte nicht erobert, sondern als Wiege des sogenannten jüdischen Bolschewismus vernichtet werden. Eine Anweisung an die militärische Führung vor Ort führte erläuternd aus - Zitat: „Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teiles dieser großstädtischen Bevölkerung besteht in diesem Existenzkrieg unsererseits nicht.“

Daniil Granin haben die Geschehnisse in dem fast vollständig von der Außenwelt abgeriegelten Leningrad persönlich und als Schriftsteller bis heute nicht losgelassen. Er selbst hat als Soldat an der Leningrader Front gekämpft. Das ganze Ausmaß der menschlichen Katastrophe hat sich jedoch auch ihm erst viele Jahre später bei der Arbeit an seinem dokumentarischen Buch über die Blockade offenbart. Ich danke Ihnen, sehr geehrter Herr Granin, dass Sie zu uns gekommen sind und heute am Tag des Gedenkens an die Opfer das Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag zu uns sprechen werden.

Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee befreit - zufällig auf den Tag genau ein Jahr nach Ende der Leningrader Blockade. Kein Zufall ist dagegen der Zusammenhang zwischen Auschwitz und Leningrad, zwischen dem Völkermord an den europäischen Juden und dem mörderischen Raub- und Vernichtungsfeldzug im Osten Europas: Sie wurzelten in der menschenverachtenden nationalsozialistischen Rassenideologie.


II.

Wir gedenken heute aller Menschen, denen während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des von Deutschland ausgegangenen Angriffskrieges ihre Rechte, ihr Besitz, ihre Heimat, ihr Leben, ihre Würde entrissen wurden: der Juden, der Sinti und Roma, der Kranken und Menschen mit Behinderungen, der politisch Verfolgten, der Homosexuellen, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der Opfer der Kindertransporte, der Kriegsgefangenen, der zu "Untermenschen" degradierten slawischen Völker.


All jener, die in Auschwitz, Treblinka, Belzec und in den anderen Vernichtungslagern ermordet wurden; die erschossen, vergast, erschlagen, verbrannt, durch Zwangsarbeit vernichtet wurden; die verhungert sind. Wir gedenken auch jener, die verfolgt, drangsaliert, getötet wurden, weil sie Widerstand leisteten oder weil sie anderen Schutz und Hilfe gewährten. Allen heute hier im Bundestag anwesenden Zeitzeugen gilt unser besonderer Gruß und Respekt.

Wir wissen um die Abermillionen Toten. Ihnen sind wir es schuldig, uns jenseits der ebenso unglaublichen wie abstrakten Zahlen bewusst zu machen, dass damals - um mit der russischen Schriftstellerin und Blockadeüberlebenden Lidia Ginsburg zu sprechen - „millionenfach ein Mensch“ zugrunde gegangen ist.

Wir wissen auch um die Täter. „Auch-Menschen“ hat sie der jüdisch-sowjetische Kriegsreporter Wassili Grossmann in seinem Augenzeugenbericht über Treblinka genannt. Und bis heute treibt uns - trotz allen Wissens um die historischen Zusammenhänge, trotz mancher klugen Analysen - die Frage um: Wie ist eine solche Entmenschlichung möglich geworden?


III.

Mit dem Angriff auf die Sowjetunion erreichte die nationalsozialistische Vernichtungspolitik eine neue Dimension: In den besetzten sowjetischen Gebieten nahm der umfassende systematische Massenmord seinen Lauf. Mit dem völkerrechtswidrigen „Barbarossa-Erlass“ hatte Hitler auch Zivilisten praktisch für vogelfrei erklärt; sie wurden als vorgebliche oder tatsächliche Partisanen und im Zuge von sogenannten „Vergeltungsmaßnahmen“ getötet.

Von den fast drei Millionen osteuropäischen Juden, die mit dem Krieg gegen die Sowjetunion unter deutsche Herrschaft kamen, hat nur ein Bruchteil überlebt. Ein großer Teil dieser Opfer des Holocaust war bereits vernichtet, vornehmlich durch Erschießen, als im Verlauf des Jahres 1942 die fabrikmäßige Ermordung in den Vernichtungslagern anlief. Der Treibstoff für die Tötungsmaschinerie in Auschwitz, das Giftgas Zyklon B, war vorab an sowjetischen Kriegsgefangenen - man muss es so sagen - getestet worden.

Der rassenideologische Raub- und Vernichtungskrieg, dessen erklärter Zweck die - Zitat - „Dezimierung der slawischen Bevölkerung um 30 Millionen“ war, bediente sich einer weiteren Waffe: des Hungers. Sie erwies sich dort am brutalsten, wo es kein Entkommen gab - im eingeschlossenen Leningrad und in den Kriegsgefangenenlagern. Mehr als die Hälfte aller sowjetischen Kriegsgefangenen, über 3 Millionen Menschen, sind in deutschem Gewahrsam elendig zugrunde gegangen.

Die menschlichen Tragödien, die sich in der belagerten Millionenmetropole abspielten, sind uns heute unvorstellbar. Lange Zeit waren sie, zumindest im Westen Deutschlands, auch wenig bekannt. Die Erinnerung an den Russlandfeldzug war in der jungen Bundesrepublik von der Tragödie bei Stalingrad in ihrer besonderen deutschen Wahrnehmung dominiert; die Belagerung Leningrads und die dem Hunger preisgegebenen Zivilisten fanden im Mythos einer vermeintlich "sauberen Wehrmacht" keinen Platz. In der DDR, die den Antifaschismus zur Staatsdoktrin erhoben hatte, war hingegen die sowjetische Sichtweise prägend: Die Blockade Leningrads demonstrierte demnach die herausragende Opferbereitschaft seiner Bewohner und galt als Symbol für den heldenhaften sowjetischen Sieg gegen den Faschismus. Die leidvolle Wirklichkeit des Lebens in der abgeriegelten, hungernden Metropole im brutalen Kampf zwischen zwei totalitären Regimen stand auch hier nicht im Vordergrund.

Unter den Eingeschlossenen war - bis zu seiner Evakuierung - der schon damals weltberühmte Komponist Dmitri Schostakowitsch, der später mit Blick auf seine musikalischen Werke einmal von „Grabdenkmälern“ gesprochen hat. Für sein 8. Streichquartett, dessen Klänge uns durch diese Gedenkstunde begleiten, gilt das insbesondere. Unter dem Eindruck des zerstörten Dresden geschrieben und offiziell den „Opfern des Faschismus und des Krieges“ zum Gedenken gewidmet, reflektiert dieses wohl persönlichste Werk Schostakowitschs auch das eigene Erleben von Verfolgung, Krieg, Drangsalierung - die eigene, von Tragik und Widersprüchen geprägte Geschichte eines russischen Künstlers, dessen Leidenszeit mit dem siegreichen „Großen Vaterländischen Krieg“ keineswegs beendet war.


IV.

Es gehört zu den großen Verdiensten Daniil Granins und seines Schriftstellerkollegen Ales Adamowitsch, dass sie den Bewohnern des belagerten Leningrad jenseits der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung eine Stimme gegeben haben. Ihr zweibändiges Blockadebuch konnte Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre nur zensiert erscheinen, zu viel zeigte es von den menschlichen Abgründen in diesen neunhundert Tagen, über die das sowjetische Regime Schweigen bewahren wollte. In den gesammelten Erzählungen und Tagebüchern offenbart sich, was der Hunger den Menschen antut, die körperlichen und seelischen Qualen, die zerstörten Beziehungen, die Grausamkeit, der Verlust der Menschlichkeit. Es zeigt aber auch, wie Menschen selbst in größter existenzieller Not darum kämpfen, ihre Hoffnung und ihre Würde zu bewahren.


Sehr geehrter Herr Granin, Sie haben es damals ausdrücklich als eine Pflicht verstanden, für die Nachgeborenen aufzuzeichnen, was tatsächlich gewesen ist und die junge Generation mittelbar zu Zeugen zu machen. Eine Aufgabe, die sich heute nicht weniger stellt und die zu erfüllen mit jedem Jahr schwieriger wird.

Umso mehr freue ich mich, dass wieder achtzig junge Menschen der Einladung des Deutschen Bundestages zu einer internationalen Jugendbegegnung gefolgt sind und sich gemeinsam mit einem der dunkelsten Kapitel in der europäischen Geschichte auseinandergesetzt haben. Sie haben in den vergangenen Tagen Orte des Gedenkens in St. Petersburg besucht, mit Wissenschaftlern und Zeitzeugen diskutiert, sich ein Bild vom Schicksal jüdischer Einwohner, von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen, von Behinderten und psychisch Kranken in der besetzten Sowjetunion gemacht, stalinistische Repressionen während der Leningrader Blockade und den Umgang mit der Erinnerung an diese fast 900 Tage thematisiert.

Wenn heute junge Deutsche mit jungen Russen, Belarussen und Ukrainern, mit Polen, Franzosen, Israelis und jungen Menschen aus anderen Ländern zusammenkommen um zu erfahren, zu verstehen und zu erinnern, steht dahinter auch die Hoffnung, dass über die jeweils unterschiedliche nationale Erinnerung hinweg Brücken im Sinne eines gemeinsamen Gedächtnisses geschlagen werden können.

Ein Vierteljahrhundert nach der friedlichen Revolution in der DDR und dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen in Ost- und Mitteleuropa, der den Weg zu einer „Gesamt“-Europäischen Union bereitete, 75 Jahre nach dem deutschen Angriff auf Polen und ein Jahrhundert nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges, dieser Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, stellt sich die Frage: Kann es eine europäische Erzählung vom blutigsten Jahrhundert in der europäischen Geschichte geben? Eine miteinander geteilte Erinnerung, die unterschiedliche Erfahrungen nicht nivelliert, die Verantwortung nicht relativiert, die keine wechselseitigen Rechnungen aufmacht, weil diese weder dem Leid der einzelnen Opfer noch der Schuld der Täter gerecht werden können.


V.

Die Verantwortung, die wir als Deutsche tragen, bleibt: Unsere Geschichte trägt uns eine besondere Verpflichtung auf gegen jede Form von Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit, gegen Heilsversprechen und kollektive Schuldzuweisungen. Nie wieder dürfen Staat und Gesellschaft zulassen, dass Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer politischen Einstellung, ihrer sexuellen Orientierung, wegen ihrer Andersartigkeit zum Feindbild einer schweigenden Mehrheit gemacht, verachtet, gedemütigt oder bedroht werden. Die von Fremdenhass getriebenen Morde an Bürgern türkischer und griechischer Herkunft, von rassistischen Parolen begleitete Proteste gegen Flüchtlingsheime, jede antisemitische Straftat fordert unsere rechtstaatliche, politische und zivilgesellschaftliche Gegenwehr als Demokraten heraus. In Deutschland jedenfalls ist Intoleranz nicht mehr tolerierbar.

Die Geschichte lehrt uns die Unbedingtheit der Würde des Menschen, jedes einzelnen Menschen - und das Wissen um ihre Gefährdung. Völkermord ist und bleibt möglich. In Afrika - wie in Ruanda vor zwanzig Jahren, wo hunderttausende Menschen, geschätzte drei Viertel der ethnischen Minderheit der Tutsi, ermordet wurden. Auch in Europa, wie wir seit dem Massaker von Srebrenica wissen.

Im Bewusstsein zu halten, dass die Menschheit ihre größten Verirrungen und Verbrechen keineswegs ein für allemal hinter sich hat, ist unser gemeinsamer Auftrag.


Sehr geehrter Herr Granin, Sie haben in Bezug auf die Deutschen von sich einmal gesagt, dass Sie "vom Hass zum Verständnis und zur Freundschaft" einen langen Weg zurückgelegt haben, der Sie weit mehr Jahre gekostet habe als der Krieg. Ich bin dankbar, dass Sie diesen Weg auf sich genommen haben und heute bei uns sind.

 

 

© Fotos: dpa; zeit.de; epd; spiegel.de; sueddeutsche.de


27.01.2014

 


 



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