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Kulturmagazin aus Prag
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Lenka Reinerová *17. Mai 1916  †27. Juni 2008
Der Frühvogel singt, und wir leben einen weiteren Tag.


von Katja Schickel

 

 

Begegnung

Als ich Lenka Reinerová zum ersten Mal persönlich und live bei einer Lesung in Berlin begegne, höre ich nicht die Stimme Kafkas, wie der Verleger Klaus Wagenbach einmal notiert hat („Wenn Sie wissen wollen, wie Kafka gesprochen hat, hören Sie der Reinerová zu“), sondern werde an den Klang der Stimme meiner Großmutter erinnert, was mich sehr berührt und mich zusätzlich zur vorgestellten Literatur für sie einnimmt. Darüber kommen wir in ein kurzes, anregendes Gespräch, das mit einer Einladung ihrerseits, sie doch einmal in Prag zu besuchen, endet.


Am 17. Mai 2008 wird Lenka Reinerovás 92. Geburtstag gefeiert. Es ist ein gesellschaftliches Ereignis, an dem nur teilnehmen kann, wer eine Einladungskarte erhalten hat. Schließlich handelt es sich um die Ehrenbürgerin der Hauptstadt Prag und die älteste deutschsprachige Schriftstellerin und alles, was Rang und Namen hat, ist da. Die Verleihung der Ehrenbürger-Würde 2002 hat sie stolz gemacht, denn sie gilt ausdrücklich ihrem Wirken in der tschechischen, deutschen und jüdischen Kultur von Prag. Irgendeine Exklusivität hat sie daraus nicht abgeleitet oder für sich in Anspruch genommen. 

 

   

Klamovka

 

dto.

 

Am 18. Juni 2008 lud das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren zu Lesung und Gespräch über ihr Buch „Traumcafé einer Pragerin“ ein, eine Veranstaltung, die kurzfristig abgesagt werden musste, weil sie einen Schwächeanfall erlitten hatte.
Lenka Reinerová musste allerdings schon vorher nach einem Sturz – und wegen eines dabei erlittenem Oberschenkel-Halsbruchs – lange Zeit im Krankenhaus verbringen, sie war zu ihrer Tochter nach Großbritannien gereist, um sich auszukurieren und pflegen zu lassen, wollte dann aber doch wieder zurück nach Prag. Hier starb sie am 27. Juni 2008. Am 4. Juli 2008 nahmen hunderte Menschen im Festsaal des Friedhof Strašnice Abschied von Lenka Reinerová. Im Gedenken an sie bereitete ich dann für das von ihr gewünschte, noch nicht etablierte Literaturhaus innerhalb einer Veranstaltung eine Lesung mit Texten deutschsprachiger Autoren zwischen 1930 - 1948 vor. Ich gab ihr den Titel: Praha - Prag: Eine geteilte Geschichte.



„Ich schreibe ein Prager Deutsch und kein deutsches Deutsch ... und bin lebender Zeitzeuge jener widerspruchsvollen Epoche.“

Immer ist Prag ihre Stadt geblieben, ihre Heimatstadt, die man ihr nicht nur einmal streitig gemacht hat. Die deutschen Nazis haben ihr das Zuhause genommen, ihre gesamte Familie ist bei ihrer Heimkehr aus dem Exil 1945 ausgelöscht – ermordet in Theresienstadt und anderen NS-Vernichtungslagern. Noch jahrelang danach kann sie Karlín, das geliebte Viertel, in dem sie aufgewachsen ist, nicht betreten.

Kommunisten, einstige Weggefährten, drangsalieren sie und sperren sie 1952/53 sogar ein, was am schwersten zu verkraften ist, wie sie in ihrem Buch Alle Farben der Sonne und der Nacht beschreibt. Gegen Feinde kann man sich wappnen, Freunden oder Menschen, die man dafür gehalten hat, ist man immer hilflos ausgeliefert – bloß hilflos und abhängig wollte sie nie sein.


Sie ist 1916 geboren, der 1. Weltkrieg tobt mit „Materialschlachten“, Gasangriffen und Grabenkriegen, die sozialen und politischen Verhältnisse geraten ins Wanken, 1918 ist die k.u.k Monarchie endgültig erledigt und wird abgeschafft, die Erste Republik Tschechoslowakei ausgerufen, gleichzeitig scheint der Antisemitismus eine ungeahnte, neue öffentliche Bühne zu erhalten, viele Menschen sind in ihrer sozialen Existenz bedroht. Franz Kafka erlebt diese Umschwünge zur selben Zeit als erwachsener Mann, als Schriftsteller, der mit Prager Freunden über notwendige Schritte, über Konsequenzen diskutiert, in seinen Briefen und Tagebüchern darüber schreibt, und diese allgegenwärtigen, realen Bedrohungen in seine Literatur einfließen lässt, sie zu Literatur macht.

 

   

Volksschule, Mitte o.

 

Prager Tagblatt, 1935/36


“Ungerechtigkeit“ in ihren vielfältigen Formen ist zeitlebens Motor des Handelns von Lenka Reinerová. Mit sechzehn Jahren muss sie die Schule aus finanziellen Gründen verlassen, sich Arbeit suchen, Weltwirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit lassen der Familie Reiner keine andere Wahl – und höhere Bildung für Mädchen ist sowieso immer noch ein zweifelhafter Luxus. Allerdings wächst sie zweisprachig auf, ist das Kind einer deutschsprachigen Mutter und eines tschechischen Vaters. Lenka Reinerová schließt sich dem Kommunistischen Jugendverband an, sie will gegen Armut und Ungleichheit kämpfen.

Schon Anfang der 1920er Jahre hatten die ersten militanten „deutschen Braunhemden“ in München in Prager Zirkeln zu heftigen, aufgeregten Diskussionen geführt, 1933 wählt das benachbarte Deutschland sogar Hitler und die NSDAP und der, als neuer Reichskanzler, sagt vor allem allen Kommunisten und Juden den Kampf an. Prag wird Exil vieler Deutscher, einzelner Personen wie auch politischer Organisationen. Lenka Reinerová will für die AIZ, die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung, deren Redaktion nach Prag verlegt wird, schreiben, für das Prager Tagblatt. Es kommt immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen mit den nationalsozialistischen Henlein-Deutschen. Die Appeasement-Politik der Westmächte macht sie alle fassungslos, aber (noch) nicht sprachlos. Die Klarheit, um was es eigentlich schon geht (Diktatur und Krieg), formulieren überdies auch Bilder, z.B. die von John Heartfield. Die erste freie, demokratische, tschechoslowakische Republik endet mit dem Einmarsch deutscher Truppen 1939, gerade zwanzig Jahre nach ihrer Etablierung. s.a. Münchner Abkommen

 

Flucht und Gefangenschaft

Mit knapp 23 Jahren befindet sich Lenka Reinerová auf der Flucht und muss lernen, in und mit Provisorien zu leben. Sie hält sich selbst gerade in Bukarest auf, hat glücklicherweise ein französisches Visum und kann deshalb nach Paris reisen, wo sie zunächst für einen tschechischen Pressedienst arbeitet und erste belletristische Texte schreibt. Nach Beginn des Krieges wird sie erst in Einzelhaft gesteckt, dann im Lager Rieucros interniert, kann aber aus dem Lager fliehen und sich in Marseille ein Visum für Mexiko beschaffen. Auch darüber wird sie schreiben, vor allem wie ihr die Flucht ins noch nicht von den Nazis besetzte Frankreich gelingt, wie sie nach Casablanca kommt. Sie ist allein, hat kein Geld, keine Arbeit, aber ihren Charme, ihre Jugend und ihre Chuzpe. Und wie immer spielen Glück und Zufälle eine Rolle. Im mit Flüchtlingen überfüllten Marseille gibt es einen sehr engagierten mexikanischen Konsul, Gilberto Bosques, der sich für diese einsetzt, zahllose Visa ausstellt, in französischen Lagern inhaftierte Deutsche mittels Petitionen freibekommt, um ihnen eine Ausreise aus dem besetzten Frankreich zu ermöglichen. Mexiko gilt bald als Zufluchtsland Nr. 1 für diejenigen Flüchtlinge, die wenig Geld haben und sich teure Schiffspassagen, z. B. in die USA, nicht leisten können, dort auch nicht erwünscht sind, republikanische Spanienkämpfer, Kommunisten oder Menschen, die als deren Smpathisanten gelten, deutsche Staatsangehörige, die aus Nazi-Deutschland geflohen sind oder Menschen aus von Nazis besetzten Ländern. Man gewährt ihnen Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen, u.a. auch ihrem Prager Kollegen Egon Erwin Kisch, mit dem sie ab und zu tschechisch reden kann (wegen des Heimwehs!), F.C. Weiskopf und Anna Seghers.

Lenka Reinerová erreicht Mexico 1941 nach mehrmonatigen Aufenthalt in Casablanca und Internierung im berüchtigten Wüstenlager Oued Zem. Sie beginnt für die Botschaft der tschechoslowakischen Exilregierung zu arbeiten, schreibt in der antifaschistischen Exilzeitschrift El Chequoslovaco en México, in der Zeitschrift Freies Deutschland und für den Verlag El libro libre, für die – als Theodor Balk – auch der serbisch-jüdische Arzt und Schriftsteller Dragutin Fodor arbeitet, dessen Roman Das verlorene Manuskript wichtiges Zeugnis der Exilliteratur wird, und den sie 1943 heiratet.



Schriftstellerin sei sie nicht, sie sei nur Erzählerin,

betont sie immer wieder, auch als ich sie in Berlin kennenlerne. Und Lenka Reinerová hat ein Leben zu erzählen, in dem vier, fünf Leben leicht Platz fänden.

Nach dem Krieg kehrt sie zurück nach Europa, zuerst nach Belgrad, wo sie bis 1948 für Radio Belgrad arbeitet und Tochter Anna Fodorová 1946 zur Welt kommt. Jugoslawien will jedoch einen anderen Weg als Moskau. Ideologische Kämpfe hat Lenka Reinerová allerdings zur Genüge erlebt; vielleicht ist Prag für sie auch jetzt erst wieder zumutbar. Sie weiß, dass sie die einzige Überlebende ihrer Familie ist. Sie will trotzdem zurück nach Prag, auch weil ihr Mann schwer krank ist und die medizinische Versorgung im zerstörten Jugoslawien noch prekärer ist als in der Tschechoslowakei.


„war ich hier überhaupt noch zu Hause?“

Die Slánský-Prozesse, antisemitisch grundiert, bringen sie für fünfzehn schreckliche, ungewisse Monate ins Gefängnis (u.a. wegen „Titoismus“). Ihr Mann lebt verbannt mit der Tochter irgendwo auf dem Land. Es dauert, bis sie sich wiederfinden. Erst 1964 wird sie rehabilitiert. Wegen ihres politischen Engagements, das mit dem vieler anderer 1968 zum Prager Frühling führt, wird sie 1969 jedoch endgültig aus der Partei ausgeschlossen. Ihre Tochter flieht nach London. Lenka Reinerová verliert ihre Verlagsarbeit und erhält Publikationsverbot. Sie arbeitet als Übersetzerin (wenigstens Sprachen lernt man im Exil!), veröffentlicht ab und zu unter Verwendung des Namens einer anderen, manchmal ganz fremden Person („Dachdecker“-Prinzip) auch noch, aber erst ab 1990 ist das eigene Schreiben wieder ohne Komplikationen möglich – und sie kann diese Möglichkeit endlich nutzen – mit 74 Jahren. Noch in hohem Alter beeindruckt ihre innere wie äußere Schönheit, ihre Klugheit, ihr Witz und Spott, strahlt sie Wärme und Optimismus aus. Sie ist geduldige Zuhörerin, bleibt wissbegierig und interessiert. Man dürfe sich nicht selbst vernachlässigen, nur so habe sie schreckliche Zeiten überstanden. s.a. Gespräch Roubickova

Neugierig und offen zu bleiben für alles, was Leben ausmacht, das war und ist ihr Lebensmotto.

Sie hat sich immer wieder eingemischt, zuletzt zum Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz im Januar 2008 eine Rede verfasst, die sie vor dem Deutschen Bundestag halten will, kann dies aber, schon damals aus Krankheitsgründen, nicht mehr selber tun (s. unten)


Kein Traumcafé,

sondern ein Literaturhaus als realer Standort für Interessierte und Gönner des einst so berühmten Prager Kreises, dem Franz Kafka, Max Brod, Egon Erwin Kisch und weitere namhafte Autoren deutscher Sprache angehörten, sowie als Treffpunkt für Freunde der zeitgenössischen Literatur – dies soll das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren sein, schreibt Lenka Reinerová zur Gründung des Stiftungsfonds für das Haus, das 2004 von ihr, František Černý und dem Vorsitzenden der Franz Kafka-Gesellschaft Kurt Krolop (*25.05.1930 †22.03.2016; s.a. Prof. Kurt Krolop) als ein „lebendiger Ort der Begegnungen und des geistigen Austausches“, als ein Ort der Lebens-Kultur, gegründet wird.



In ihrem Traumcafé einer Pragerin

lässt Lenka Reinerová bekannte wie unbekannte Menschen, Schriftsteller, Künstler aufeinander treffen, sie beschwört ohne jede Sentimentalität und Nostalgie noch einmal die berühmte Prager Caféhaus-Kultur herauf, die Cafés Slavia, Arco, Union und Louvre, Lokalitäten, die – was oft unterschlagen wird – auch Treffpunkte emanzipierter Frauen waren, die sich hier gerne aufhielten und austauschten, und man wünscht ihr gleich beim Lesen, dass es diesen Treffpunkt in Prag wirklich geben möge. Bis 2009 ist das Herzstück, eine rund tausendbändige Bibiliothek deutschsprachiger Literatur, in einem kleinen Büro im Gebäude des tschechischen Aussenministeriums in der Rytířská untergebracht, mit Ausweiskontrolle und Schleuse – ein bisschen kafkárna ( das tschechische Pendant zu „kafkaesk“) und abschreckend muten Ein- und Ausgang schon an; für alle Veranstaltungen ist man auf auswärtige Orte angewiesen. Sobald sich der (damalige) tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg und der (damalige) deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier auf die Einrichtung eines Literaturhauses in Prag verständigt haben, wird bald auch ein geeignetes Objekt gefunden, zur Verfügung gestellt und im Mai 2009 eröffnet: Ječná 11, Prag 2.


„Man wartet nicht auf ein endgültiges Ende, sondern auf die erträumte Möglichkeit eines unbekannten, zweifellos völlig anderen Anfangs“, so Lenka Reinerová.



Prager Literaturhaus, K. Kountouroyanis 


Infos: www.prager-literaturhaus.com

Bücher: Aufbau Verlag Berlin; DVA

Film: Ein Leben ist nicht genug, Lebensläufe, MDR 1999, Lenka Reinerová und ihr Leben in Prag


 

Im Mai 2016 erschien in der Kulturzeitschrift Sudetenland 4/2016 zu ihrem 100. Geburtstag ein lesenswerter Schwerpunkt mit Beiträgen von Hans Dieter Zimmermann, František Černý, Christina Frankenberg, Viera Glosíková und anderen.


 


Aufgezwungenes Exil ist wie ein Fluch. Man lebt in einem Land
und wird zugleich mit tausend unsichtbaren Fäden in einem anderen, unerreichbaren festgehalten.


 

 

 

 

 

s.a. Reinerova – Rede; Reinerova Erzählung

 



 



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